Was soll ein Theater machen, was macht ein Theater aus in dieser Zeit, wo alles auf Umbruch und Erneuerung drängt, aber tatsächlich Umbruch und Erneuerung das Fundament dessen sind, was nicht vergeht und also die Situation Erneuerung im Stillstand heisst? Was bedeutet das also für ein Theater der Gegenwart?
Zur kommenden Aktualität des Theaters als Kunstform: Je weniger die Kunst allgemein und damit auch das Theater beizutragen hat zum gesellschaftlichen Diskurs, desto eher befindet sich die Gesellschaft entweder in revolutionären oder in paradiesischen Zuständen oder, was häufiger der Fall ist, sie gibt erfolgreich vor, es zu sein: durch die permanente Revolution kapitalistischer Warenproduktion, durch die erfolgreiche Negation der vorhandenen Konflikte und Widersprüche in postpolitischen Verhältnissen usw.
Wo aber die Kunst als kritische Gesellschaftsbetrachtung diskutiert, das aber heisst meist aktiv bekämpft, mundtot gemacht oder gleichgeschaltet wird, und insofern auch etwas beizutragen hat, also aktuell ist, bewegt sich eine Gesellschaft von revolutionären und paradiesischen Zuständen weg oder kann nicht mehr erfolgreich den Eindruck erwecken, noch revolutionär oder paradiesisch zu sein. Das heisst, die Kunst hilft das Paradies oder die Revolution zwar vorzubereiten, aber beide Zustände können die Kunst nicht wirklich brauchen. Denn sowohl der handelnde (revolutionäre) wie auch der unwissende (paradiesische) Mensch sind gewissenlos. Damit die Kunst also bedeutend für eine Gesellschaft ist, braucht sie ein Bewusstsein für das Widersprüchliche ohne direkte Handlungs- und Lösungsmöglichkeiten. Oder anders gesagt: die Kunst braucht wissbegierige Menschen mit einem schlechten Gewissen. Es sieht nicht schlecht aus für die Kunst, wo es schlecht steht um die Welt.
Der neue Mensch: Das Theater kann zeigen, was ist, aber sich nicht zeigt; was wahrnehmbar ist, aber nicht wahrgenommen wird; was Idee ist, aber nicht verkörpert ist. Es zeigt, so die Idee der Moderne, den Menschen, wie er sein wird, in seiner Grossartigkeit und seiner Lächerlichkeit, in seiner Vernunft und in seinem Wahnsinn, in seinem Wachsen und Verfallen, jedoch immer als Mass aller Dinge, Herr seiner selbst, Bedingung seiner Möglichkeit. Aber dieser neue Mensch ist heute im Zeitalter seiner postmodernen Dekonstruktion und seiner technologischen Reproduzierbarkeit zugleich der hoffnungslos von seinen eigenen Erfindungen und wahr gewordenen Träumen überrollte und abgehängte Mensch. Und insofern er noch immer auf der Bühne erscheint, da das Theater ihn nicht los wird ohne sich selbst abzuschaffen, erscheint er dort zwangsläufig auch als antiquierter Mensch, der weniger weiss, als er wissen müsste und weniger darstellt, als die Zuschauer zu sehen gewohnt sind. Das Theater der Gegenwart ist solidarisch mit diesem Menschen und hat seine Aufgabe darin, ihn und die von ihm geschaffene Welt in Akten der Verdichtung und der Konzentration zusammen verstehbar zu machen.
Realismus: Es gibt den postmodernen Glauben, dass der einzige Zugang der Kunst zur Tradition die Dekonstruktion ist. Selbstverständlich gehört die Dekonstruktion des Gewordenen immer zum künstlerischen Prozess. Aber entscheidend ist die Frage, in welchem Gestus und in welchem Kontext die Kritik an der Tradition erfolgt. Die Zeiten in denen das Establishment in seinen Grundfesten getroffen wurde, wenn man ihm seine Lieblingsstücke des kulturellen Kanons zerstückelt vor die Füsse warf, sind vorbei, weil das heutige globalisierte Establishment diesen Kanon gar nicht mehr kennt oder ihn – und die Anzeichen sind bereits da – grad erst wieder für sich entdeckt als romantische Kompensation seines zynischen Lifestyles. Das bedeutet, dass die dekonstruktive Kunst oft am Wesentlichen vorbeigeht, wenn sie noch immer die paar letzten Bildungsbürger verschrecken möchte, die ja längst zu gewinnen wären für einen neuen Realismus. Dieser neue Realismus beginnt mit der Bejahung der Wirklichkeit wie sie ist, mit der Aufdeckung der Verdrängung seiner Widersprüche. Das realistische Theater unserer Zeit dekonstruiert nicht, es recherchiert und ermittelt in alle Richtungen, es nimmt das Vorgefundene (alte Stücke, Inszenierungen, Institutionen, Ideen usw.) ernst als mögliche, aber vielleicht unzulängliche Antworten auf die aktuellen Fragen, es nimmt alles zur Kenntnis, will alles wissen um es vielleicht auch bewusst wieder beiseite zu legen und neu zu denken. In der finalen Inszenierung bleibt das Alte noch in seiner Potenz sichtbar, ist, wenn sie glückt, die Verwandlung des Alten in jenes neue, das dieses selbst einmal war. Diese Anreicherung des Sinns durch seine Vorarbeiten und Rahmungen, Diskurse und Debatten usw. ist die wesentliche Arbeit des realistischen Theaters. Es tritt dadurch der in unserer unübersichtlich gewordenen Welt immer drohenden Verabschiedung von der Realität durch Romantik oder Verschwörungstheorie entgegen.
Volkstheater: Ein Theater muss, vor allem in der Provinz, auch immer Volkstheater sein. In dem Sinn, dass es ausgeht von dem, was alle kennen, was omnipräsent und standardisiert ist, aber durch einen künstlerischen Prozess wieder in seinen Spannungen und Widersprüchen gezeigt werden kann. Im Vorwort zu unserem Buch «Wiederholung und Ekstase» habe ich diesen Vorgang für Milo Raus Theater versucht zu formulieren: Paradoxerweise sind es bei Rau immer wieder die bekannten, einfachen Dinge, – ein berühmtes TV-Bild, der Mainstreamsound seiner Jugend, das agonale Prozessformat, die fünf Akte der Tragödie, eine einfache Kindermelodie, Jesu Kreuzigungsszene – denen er durch die ganzen komplexen Ausbreitungen der Stoffe hindurch zumutet, den Spannungsbogen zu halten. Mit dieser «fast zerspringenden Anreicherung im Endeffekt doch demütigen Einfachheit ist die IIPM-Ästhetik im positiven Sinn populär und elitär, weshalb die Kritik manchmal uneins ist, ob das nun alles zu einfach oder zu komplex, zu trashig oder zu intellektuell ist. Rau vertraut ikonischen Bildern, Symbolen, Institutionen, weil er in ihnen die Verdichtung der geistigen, sozialen und emotionalen Substanz einer Gesellschaft erkennt, die sowohl analytisch als Ausdruck von Gewalt und Verdrängung als auch affirmativ als Versuche der Vermittlung und Versöhnung gelesen werden müssen. Denn es ist schliesslich die immer offene Möglichkeit von Vermittlung der Gegensätze, die die Tiefe des Rau’schen Theaters ausmacht: dass der Blick in die Hölle und in den Himmel, wie auf den spätmittelalterlichen Darstellungen des Jüngsten Gerichts, immer offen ist.
Wiederholung: Das Theater der Gegenwart erhebt die Wiederholung des Vergangenen, aber nicht Abgeschlossenen zu einem Handlungsprinzip. Das Theater wird dadurch zur psychoanalytischen Anstalt. Wer nicht erinnern will, agiert die Vergangenheit in der Gegenwart aus, er überträgt die verdrängten Konflikte der Vergangenheit auf alle möglichen gegenwärtigen Situationen. Der Patient wiederholt, anstatt zu erinnern, er wiederholt unter den Bedingungen des Widerstands. Er wiederholt alle seine unbrauchbaren Einstellungen und Hemmungen, kurz alles, was sich an Symptombildungen finden lässt. Der Therapeut lässt den Patienten die Wiederholung vorführen und sieht alles, was sich in ihm an Pathologischem aufgestaut hat. Das ist der Weg, um den Wiederholungszwang zu bändigen und ihn in ein Motiv für die Erinnerung umzuformen. Das wiederholende Theater spielt diesen Patienten, um den Zuschauer in den Therapeuten seiner selbst zu verwandeln.
Eine Gesellschaft kann nur eine eigene Geschichte haben, wenn sie Kontinuität garantieren kann, was bedeutet, dass sie wiederholende Strukturen hat. Unsere Innovationsgesellschaft hat wenig Zeit für ihre eigene Geschichte und noch viel weniger für eine des Verschwundenen und Verlorenen, der Besiegten und Verstorbenen. Dem sich schicksalshaft wiederholenden Schrecken der Welt, setzen die Menschen eine Ordnung von selbstbestimmten Wiederholungen entgegen. In inszenierten Akten der Wiederholung wird also die Frage nach schicksalsbestimmter oder selbstbestimmter Wiederholung neu verhandelt. Die künstlich veranstaltete Wiederholung ist die stetige Neugründung dessen, was nicht vergehen darf.
Transzendenz: Das Mittelalter verdrängte die Leiblichkeit, die Renaissance holte sie zurück ins Bewusstsein. Bevor der Körper aber zu einer realen Bezugsgrösse der Gesellschaft werden konnte, wurde er von der Kunst tausendfach gemalt, geformt, inszeniert und überhöht. Das Theater der Gegenwart muss wiedergewinnen, was Moderne und Postmoderne aus der Realität so verbannt haben, dass es nicht mehr in einem gemeinsamen Erfahrungsraum der Menschen sichtbar und reflektierbar ist, sondern sich als Gespenst oder Krankheit in den Einzelnen Bahn bricht. Ein Beispiel dafür ist die Transzendenz. So wie Realismus nicht ohne Körperlichkeit geht, geht er auch nicht ohne Transzendenz. Die reine Immanenz schafft eine kleine, klaustrophobische Welt, die sich nur noch um sich selber drehen kann, ohne Aussicht, ohne Weite, ohne Vision. Das allzu nahe entzieht sich der Deutung, nur das in die Ferne hinein Projizierte wird zugänglich.
In einer Perspektive der Transzendenz zeigt sich die Welt auf andere Weise als in der uns umgebenden Konsumwelt. Denn mit den transzendenten Dingen verhält es sich nicht wie mit den Waren, jene werden kleiner, diese aber werden grösser mit zunehmender Distanz. Was, einmal aus dem Kreis der unmittelbaren Sichtbarkeit und Gegenwart entschwunden, nichts mehr an Sehnsucht oder Erwartung an sich binden kann, erweist sich für eine theatrale Inszenierung als wenig produktiv. Aber was noch aus der Ferne scheint, was zudringlich oder zugänglich bleibt, auch wenn es bereits weggelegt, verloren, entzogen ist, weil man davon immer noch etwas wissen will, weil man es noch braucht, wäre ein Gegenstand eines Theaters der Transzendenz.
Tragödie: Im Mythos – etwa im Unterschied zur Geschichtsschreibung – ist der Sinn für die «dramatische Einheit der Menschheit», greifbar: Freunde und Feinde, Frauen und Männer, Menschen und Götter sind im Mythos Teil desselben Schicksals und Verhängnisses. Die Welt der wissenschaftlichen oder der modernen literarischen Erzählung dagegen ist ein offenes Feld, eine Mannigfaltigkeit an Völkern und Zivilisationen, getrieben von Furcht und Gier, von Interessen und Trieben, ein Machtkampf zwischen Mensch und Mensch, Herrscher und Untertan, Sippe und Bande, Nation und Nation. Eine solche Welt droht ständig auseinander zu brechen in individuelle und nationale Machtzentren, die ohne erkennbaren Sinn entstehen und stürzen, ohne Sinn für die «dramatische Einheit der Menschheit». Das Theater der Gegenwart erzählt seine Geschichten auch in ihrer tragischen Unauflösbarkeit. Es erzählt die Geschichte der Einzelnen als solche der Menschheit. Der einzelne Mensch trägt und erträgt in der Tragödie nicht nur sein eigenes Schicksal, sondern auch die Schuld der Vorfahren und die Verantwortung für die Nachfahren. Das heroische Moment des Schauspiels liegt in diesem freien Akt der Demut, der die notwendige Grundlage jeder konstruktiven Vorstellung von Einheit ist.
Belehren und nicht Recht behalten. Vielleicht zeigt sich die volle Bedeutung eines gesprochenen Textes nur, wo er auch als eine Belehrung verstanden wird. Theater steht immer zwischen unernstem Spiel und existentiellem Zeugnis und kann sich weder dem einen noch dem anderen verweigern, ohne aufzuhören, Theater zu sein. Das Anstössige daran ist die Umfunktionierung der ZuschauerInnen von mündigen Dialogpartner in Studenten, die folglich nicht unterhalten, angeregt oder überzeugt, sondern unterwiesen werden sollen. Aber die moderne Aversion gegen Belehrung ist nicht nur die Kritik an den Zumutungen der Autoritäten, sondern enthält auch ein Moment an infantiler Angst vor dem Wissen der anderen. Und die in Demokratien notwendige Fiktion vom mündigen Zuschauer blendet aus, dass es in unseren immer komplexer werdenden Gesellschaften zwingend diese Orte der „Erziehung zur Mündigkeit“ wie es bei Adorno heisst, braucht. Der Absicht des Theaters zu belehren, entspräche dann eine Erwartung der ZuschauerInnen belehrt zu werden. Denn sie ist es, die erst Mündigkeit ermöglicht, eben durch jene grosse Erwartung nach Wahrheit, die jede Belehrung auch immer als ungenügend zurückweisen kann. So also kann gelten, dass nur die Belehrung, die auf Wahrheit zielt, auch gleichzeitig ihre eigene Unwahrheit lehrt, und dass also die heilsame und gleichzeitig mündig machende Enttäuschung implizit in der Belehrung schon angelegt ist. Das heisst auch, nur ein Theater, das es ernst meint, kann aufregen und Skandal machen. Darin würde das Theater der Gegenwart den Propheten gleichen, über die gesagt wird, dass sie zwar das, was sie sagen, sagen müssen, aber dass sie nicht über die Wirkung verfügen wollen. Und wo jemand spricht, der sprechen muss, aber nicht recht behalten möchte, da sollten wir zuhören.
Das Lachen: Der Ernst des Theaters der Gegenwart bedeutet nicht, dass dieses Theater sich nicht belustigt und nicht lacht über die Absurditäten der Welt. Doch wo das Absurde zum reinen Stilmittel wird oder zum einkalkulierten Effekt, wo also die gespielte Sinnlosigkeit nicht mehr mit der Angst vor wirklicher Sinnlosigkeit korrespondiert oder die Destruktion nur noch als allgemeine Weltdeutung und nicht mehr im Kontrast zu den Verheerungen konkreter Zerstörung gelesen werden kann, wird der Humor zur losgelösten Kunstsprache und schliesst sich genauso ab gegen Erfahrung, wie es der Spiesser tut. Denn der Spiesser muss das Lachen über sich selber verbieten, weil er insgeheim weiss, dass all seine Sicherheiten auf Sand gebaut sind und er sich davor fürchtet, sein Leben in seiner ganzen Lächerlichkeit vor sich zu sehen. Und daher ist er zwar weit davon entfernt, im Theater etwas über sich selbst zu lernen, aber doch vielleicht noch näher dran als jener Freigeist, dessen routiniertes Lachen nie sich selber gilt, sondern immer nur bestätigen soll, dass Sinnlosigkeit und Wahnsinn die Probleme der anderen sind. Denn wo das Absurde und Groteske nicht mit dem Schauder vor den Abgründen der eigenen Existenz erlitten werden, sind sie, um es mit einer Wendung von Eugen Fink zu sagen, «die oberflächlichste und seichteste» aller Weltdeutungen. Anders formuliert: Das Gelächter des Publikums ist suspekt, wenn es nicht einigen im Halse stecken bleibt. Der Klamauk auf der Bühne verpufft, wenn er nicht einigen die Schamesröte ins Gesicht treibt. Dieses aber zu schaffen, ist das Schwerste.
Nicht gut, aber schön. Wenn das Theater der Gegenwart ein realistisches Theater ist, ist es ihm nicht möglich das Gute zu tun. Denn Wirklichkeit ist Terror. Diesem Terror versucht sich die Kultur zu entziehen. Kultur ist ein distanzierendes Verfahren, das versucht, dem Terror der Wirklichkeit durch ihre Beherrschung zu entkommen. Ihre häufigsten Mittel sind Symbolisierung, Harmonisierung und Verdrängung. Die Kunst ist ihr Korrektiv, sie ist das Verfahren der Nähe, das der traumatischen Begegnung mit der zerrissenen und zerreissenden Wirklichkeit nicht ausweicht. Die Kunst des Theaters besteht nun darin, Formen für diese Nähe zur Wirklichkeit zu entwickeln, die Gewalt zeigen, ohne ihre zerstörerische Kraft zu wiederholen, die berühren ohne die Variabilität des Verhaltens zu verunmöglichen, die also realistisch sind, ohne der naturalistischen Versuchung zu erliegen. Der Naturalismus ist kulturfeindlich, der Realismus kulturbewusst. Der Hauptunterschied zwischen beiden Kunstrichtungen besteht in der Schönheit. Es gibt im Realismus keine Schönheit ohne Schrecken, aber auch keinen Schrecken ohne noch die Schönheit und Erhabenheit der menschlichen Körperlichkeit und Geistlichkeit zu zeigen. Denn das Politische am Theater der Gegenwart ist sein Beharren auf der Schönheit.
Kurt Kramer
Welch ein Schwachsinn!
Da kommt sich einer wichtig vor, der von Tuten und Blasen (Theater) keine Ahnung hat. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Gehen Sie alle lieber ins Theater, in die unzählige Vielfalt von Angeboten, die es uns zeigt. Dieses Kopfkonstrukt macht das Theater kaputt.
Katharina Artmannselm
Seltenst so etwas sinnfreies mir zu Gemüte geführt!