In jedem historischen Moment erklärt das Machen den Gegenstand (Veyne über Foucault): Dagmar Herzog zeigt in Cold War Freud, dass und wie das für die Geschichte der Psychoanalyse gilt. Schon im Inhaltsverzeichnis wird deutlich: Die Psychoanalyse gibt es nicht. Auf 220 Seiten nimmt Herzog die Plastizität Freudscher Ideen und die damit verbundenen „battles within and around psychoanalysis“ (2) in den Blick.
Dagmar Herzog gelingt es, ein halbes Jahrhundert und eine halbe (westliche) Welt Psychoanalysegeschichte in detailreichen Fallstudien zu erzählen, die für sich stehen und gleichwohl ein Ganzes bilden. Dafür sorgt die Freudsche Theorie als roter Faden, an den Herzogs ProtagonistInnen in unterschiedlicher Weise anknüpfen, sowie eine konzise Einleitung und ein prägnantes Nachwort, die das Buch rahmen. Als analytische und erzählerische Stärke des Buchs erweist sich zudem, dass Herzog nicht nur das Handeln der AkteurInnen ernst nimmt, sondern aus ihren Sympathien für „politically creative and morally engaged“ (219) Persönlichkeiten keinen Hehl macht.
Das in drei Teile und sechs Kapitel geteilte Buch umfasst in etwa die späten 1930er und reicht bis in die 1980er, ist aber nicht primär eine chronologische Erzählung. Vielmehr zoomt jedes Kapitel auf einen geographischen und intellektuellen Schauplatz. „Historical episodes“ (11) nennt Herzog das. Der erste Teil des Buchs verfolgt die Entwicklungen in den — durch europäische MigrantInnen geprägten — amerikanischen Psychoanalyse-Debatten von den „The Libido Wars“ der 1930er bis 50er Jahre bis zu den Verschiebungen in den 60ern und 70ern in „Homophobia’s Durabilility and the Reinvention of Psychoanalysis“.
Im zweiten Teil geht es um die deutsche Geschichte des Umgangs mit traumatisierten Konzentrationslager-Überlebenden („Post-Holocaust Antisemitism and the Ascent of PTSD“) und den „Struggle between Eros und Death“, die Frage nach dem Ursprung der Aggression, die die psychoanalytischen Debatten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft prägen.
Im dritten Teil bleibt der Schauplatz „europäisch“, aber es geht zugleich um die Dekonstruktion dieses „Europäischen“. Zum einen in den linken politischen Bewegungen der 1960er und 70er („Exploding Oedipus“), die sich nicht nur als transnational verstanden, sondern auch eng verknüpft waren mit Entwicklungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent; zum anderen in der Ethnopsychoanalyse, einem theoretischen Versuch, die Psychoanalyse über Europa hinaus zu denken („Ethnopsychoanalysis in the Era of Decolonization“).
Dagmar Herzog versteht sich blendend darauf, die Überlappungen, die subtilen Einflüsse, die Verzweigungen und Abwege dieser „psychoanalytischen Bewegung“, die sie am Anfang des 20. Jahrhunderts einmal war, zugleich zu entwirren und miteinander in Beziehung zu setzen. (Nur das „Age of Catastrophes“ des Titels steht etwas beziehungslos im Raum.) Dass sie, wie sie selbst sagt, als Outsiderin zur Psychoanalyse kommt (vgl. 221), nutzt Dagmar Herzog konsequent zu ihrem Vorteil und bezieht gerade auch Texte und Figuren mit ein, die über den engen Horizont kanonisierter psychoanalytischer Texte hinausreichen bzw. befragt KlassikerInnen aus neuen Perspektiven. Das Buch wählt spannende Fallbeispiele und überzeugt mit unerwarteten, kreativen, gleichwohl stringent hergeleiteten Verknüpfungen.
So hebt Herzog im ersten Kapitel die Rolle religiöser Autoritäten für die Entwicklung der us-amerikanischen Psychoanalyse in den 40er Jahren hervor und beschreibt die Bemühungen der psychoanalytischen Community, Religion und Psychoanalyse als vereinbare Konzepte darzustellen; was einen Kniefall vor religiöser Prüderie, Sexualfeindlichkeit und Misogynie bedeutete.
Im zweiten Kapitel zeichnet Herzog die hartnäckige Homophobie nach, die sowohl die amerikanische als auch die europäische Psychoanalyse bis in die 70er Jahre prägten; u.a. unter dem Deckmantel der „Love Doctrine“, also der Behauptung, dass Sex ohne Liebe pathologisch sei — „a postwar US invention.“ (66) Herzog zeigt, dass unter dem Einfluss und dem Druck des gay rights movement und der sexuellen Revolution der 70er offene Homophobie und Misogynie zwar geächtet wurden, aber zugleich eine Verschiebung in der psychoanalytischen Theorie stattfand. Diese suchte den Ursprung psychischer Störungen nicht mehr in der ödipalen, sondern in der prä-odipalen Konstellation und stellte damit die Mutter-Kind-Dyade in den Mittelpunkt: „This paradigm shift […] would, however ironically, give both homophobia and sexism new leases on life.“ (74) Die immer häufiger diagnostizierten narzisstischen Störungen wurden nicht nur eng mit homosexuellem Begehren, sondern auch mit einer gestörten Mutter-Kind-Beziehung verbunden.
Der zweite Teil, „Nazism’s Legacies“, setzt mit einem Schauplatzwechsel ein: Es geht um den Umgang mit (jüdischen) Überlebenden der Konzentrationslager in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Psychoanalyse spielte dabei eine unrühmliche Rolle, insofern sie stark auf prägende kindliche Traumata abstellt: Mit Verweis auf Freud wurde immer wieder behauptet, psychische Probleme von Überlebenden müssten vor Verfolgung und Internierung entstanden sein (vgl. 101). Auf Basis dieser Einschätzung wurden Entschädigungsforderungen häufig abgewiesen, und zwar von Gremien, die nicht zum kleinen Teil mit Alt-Nazis besetzt waren. So wurde in einem perversen Twist die Psychoanalyse von der „jüdischen Wissenschaft“ zum Mittel, antisemitisches Ressentiment zu legitimieren.
Die Frage der Traumatisierung von Holocaustüberlebenden zeigt Herzog als Vorgeschichte des Posttraumatischen Stresssyndroms und dessen Aufnahme in das DSM-III von 1980, infolge der Konfrontation mit traumatisierten Vietnam-Rückkehrern. Dass PTSD schließlich zur anerkannten Diagnose wurde, beschreibt Herzog allerdings als ambivalenten Erfolg. Denn das Festschreiben des Traumas als (medizinisch behandelbare) Krankheit führte zugleich zu dessen „Amoralisierung“ (113): Das Trauma wurde von der sozialpolitischen Frage zum individuellen Problem (vgl. 117).
Im vierten Kapitel behandelt Herzog eine ebenfalls eminent westdeutsche Problemkonfiguration, die „post-Holocaust“ entsteht, und zwar die Frage nach der Aggression: Ist sie ein (natürlicher, unkontrollierter) Trieb oder ist sie Folge sexueller Repression? Herzog stellt Konrad Lorenz und Alexander Mitscherlich als die Autoritäten und Protagonisten der Debatte vor und zeigt, wie groß der Wunsch der deutschen Nachkriegsgesellschaft nach Entschuldung war: Wenn Aggression ein angeborener menschlicher Trieb war, entlastete das von der Theorie einer speziell deutschen Aggression. Populär wurde auch Lorenz’ These, dass Aggression ein „Lebenstrieb“ sei: „All cultural progress and effective activity, as well as, and however counterintuitively, the trasured bonds of deep friendship and marital love, had roots in the aggressive instinct.“ (126) Diese Debatte über Aggression markierte zudem das Re-Etablieren Freuds als Autoritätsfigur in der deutschen Nachkriegsgesellschaft.
Kapitel 5 führt uns an einen dritten Schauplatz psychoanalytischer Debatten und widmet sich Gilles Deleuzes und Félix Guattaris prägendem Buch „Anti-Ödipus“. Herzog präsentiert eine kluge und originelle Lesart des Buchs: Sie liest es nicht nur als Nachkriegs- und 68er Dokument, sondern im Kontext der Psychoanalyse post-1945 und post-1968. Denn das Buch ist zuallererst ein Verwerfen jener wirkmächtigen Nachkriegsdoktrin der Psychoanalyse, die kurz als „no politics“ zu beschreiben wäre. Dagegen setzen D/G das Postulat, „psychische“ und „soziale“ Vorgänge seien nicht zu trennen und ihr Buch sei explizit politisch — sodass Foucault den Anti-Ödipus als Anleitung zu einem anti-faschistischen Leben bezeichnen kann (vgl. 173/174). Zugleich ist es aber auch ein Angriff auf die politischen Doktrinen der 70er, insbesondere den Marxismus; es ist eine Abwendung vom Ideologiebegriff und stattdessen die Frage nach Begehren und Kräften und nach der Produktion von Subjektivitäten (vgl. 170/171). Herzog betont auch, dass D/G nicht gegen Lacan „anti-ödipal“ argumentieren, sondern mit Lacan: „Deleuze and Guattari were not hostile to families at all. Rather, they criticized what they perceived as a willful and appalling myopia in familialist thinking.“ (167) Damit verortet Herzog das Kultbuch Deleuzes/Guatteris in „the far larger transnational wave of Left-politically engaged revitalization of psychoanalysis that swept Western Europe and Latin America at the turn from the 1960s to the 1970s“. (178)
Um solchermassen „politically engaged“ Psychoanalyse geht es auch im sechsten und letzten Kapitel: Hier zoomt Dagmar Herzog auf das Zürcher PsychoanalytikerInnen-Trio Paul Parin, Goldy Parin-Matthey und Fritz Morgenthaler und deren von Georges Devereux angeeignete Ethnopsychoanalyse. Wie Devereux davon überzeugt war, dass „the only real data produced in the anthropological encounter were the anthropologist’s own subjective countertransferential reactions to the transference his or her presence had triggered“ (194), so kam Fritz Morgenthaler zu dem Schluss, dass die Analyse den/die Analysandin/en genauso wie den/die Analytiker/in verändern müsse — „or it was no good at all“ (207).
Die Parins und Morgenthaler liessen sich mit ihren psychoanalytischen Gesprächen in „ethnologischen Settings“ auf Übertragungsbeziehungen ein, die Reichweite und Grenzen der Psychoanalyse testen und zugleich Erkenntnisse über die eigene Gesellschaft zulassen sollten. Das gemeinsam publizierte Buch „Die Weissen denken zu viel“ wurde denn auch Kultbuch der 68er. Morgenthalers Ausführungen zur Homosexualität boten ausserdem dem westdeutschen gay rights movement einen theoretischen Bezugspunkt.
Cold War Freud ist eine kurzweilige, engagierte, brilliant synthetisierende „intellectual history“ der Psychoanalyse im (kurzen) 20. Jahrhundert, an der sich jede/r „intellectual historian“, ganz gleich für welches sujet, ein Vorbild nehmen kann. Dagmar Herzog zeigt, dass Psychoanalyse alles andere als ahistorisch ist: Sie tritt nicht nur an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten verschieden auf, sie formt im 20. Jahrhundert auch — mal als konservative und normative, mal als sozialkritische Kraft — das Denken nicht nur psychischer, sondern gesellschaftlicher Vorgänge. Es gelingt Herzog hervorragend, den weitreichenden Einfluss der Psychoanalyse, die subtilen und weniger subtilen Wechselwirkungen mit wichtigen gesellschaftlichen Debatten und Veränderungen der 1940er bis in die 1980er zu zeigen.
Letztlich schreibt Herzog damit auch eine Geschichte der politischen Linken. Dass ihre Sympathien und Abneigungen klar verteilt sind, ist dabei nicht nur nachvollziehbar, sondern kommt der Lesbarkeit des Buchs zugute: Die politische Kreativität und moralische Verpflichtung, die Herzog bei den AkteurInnen herausarbeitet, überträgt sich auf ihre Studie. Und zugleich zeigt sie so das Potential, das für die theoretisch orientierte Geschichtswissenschaft in einer Psychoanalyse liegt, die die Stabilität von Bedeutung infrage stellt und das Politische denkt.
Herzog, Dagmar: Cold War Freud. Psychoanalysis in an Age of Catastrophes. Cambridge University Press 2016, 320 Seiten, 24,99 GBP.