In seinem epochalen Werk „Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart (Frankfurt/Main 2017) zieht Pankaj Mishra die Parallele zwischen den heutigen Polarisierungen in Politik und Gesellschaft und dem geistigen Klima am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
So erinnert er daran, dass es schon vor hundert Jahren in Frankreich Terroranschläge gegen grossbürgerliche Kultureinrichtungen gab, verübt von den verbitterten Verlierern des industriellen Fortschritts; zudem an die Reaktionen auf den Glaubensverlust nach dem „Tod Gottes “in Form anarchistischer Heilsvisionen, die auf die Zerstörung alter Ordnungen setzten und auf deren Ablösung durch futuristische Gewaltherrschaft. Die Besetzung von Fiume im Jahr 1919 durch Gabriele D‘Annunzio und seine Ausrufung des „Freistaat“ Fiume könne als makabres Vorspiel des Islamischen Staates in unseren Tagen gesehen werden.
Mit diesem Vergleich wehrt sich Mishra gegen die Vorstellung vom Kampf der Kulturen und deren religiösen Hintergründen, um die eigentlichen Ursachen für die weltweiten Brutstätten des Zorns zu analysieren. Sein erster Blick richtet sich auf den so genannten Kristallpalast an der Weltausstellung in London 1862, auf der sich die Errungenschaften des englischen Frühkapitalismus mit Stolz und Zukunftsoptimismus präsentierten. Der Traum von der produktiven Macht des Geldes und der endlosen Vervollkommnung technischer Machbarkeit verband sich mit den Idealen der französischen Revolution: zur Illusion vom grösstmöglichen Glück der grösstmöglichen Zahl, wie sie dem angelsächsischen Pragmatismus vorschwebte.
Bewunderung und Neid erfasste die Besucher der Weltausstellung aus dem übrigen Europa und der ganzen Welt von Moskau bis Kalkutta, Tokio und Shanghai, und dies führte zu einer beispiellosen Aufholjagd unter dem Vorzeichen ständigen Wirtschaftswachstums; ein Dogma, das uns bis heute gefangen hält. Im Schatten blieb der enorme Preis, den die Masse der Proletarier und Sklaven für den Aufstieg des englischen und später des amerikanischen Wirtschaftsimperiums bezahlte, ein Preis, den erst Karl Marx und die Anarchisten um Michail A. Bakunin (1830-1881) ans Licht zogen.
Doch hatte diese Entwicklung nicht erst im 19. Jahrhundert eingesetzt. Mishra macht einige Aspekte der europäischen Aufklärung für den blinden Fortschrittsglauben mitverantwortlich: so, wenn der Primat der rationalen Vernunft mit der Selbstregulation des freien Marktes für kompatibel gehalten wurde. Adam Smith (1723-1790) rechtfertigte ja das skrupellose Profitreben der einzelnen Marktteilnehmer, weil er davon ausging, dass die „unsichtbare Hand“ des Marktes letztlich die wirtschaftliche Besserstellung aller bewirke. Mishra erinnert daran, dass ein so hoch verehrter Aufklärer wie Voltaire (1604-1788) nicht nur scharfsinniger Philosoph, sondern auch cleverer Geschäftsmann und Unternehmer war, der seinen Luxus gern zur Schau trug und sich nicht scheute, freundschaftlich mit autoritären Machthabern zu verkehren, etwa mit Friedrich dem Grossen oder mit der Zarin Katharina II.
Dies musste Rousseau (1712-1778) erzürnen, der die Gleichheit aller Menschen und ihre angeborenen Freiheitsrechte ernst nahm und innerhalb der Aufklärungsbewegung gegenüber Voltaire den Antipoden darstellte. Von seiner unglücklichen Kindheit geprägt, konnte sich Rousseau nur allzu gut in die Gefühlslage deklassierter und entwurzelter Zeitgenossen versetzen. So geisselt er die Herzlosigkeit der Kommerzgesellschaft wie auch den Klassendünkel und die Heuchelei der neuen Oberschichten. Damit sprach er aus, was Tausende empfanden, die auf der Rennbahn der Modernisierung zurückgeblieben waren: Neid auf die Erfolgreichen, Verlust an Selbstvertrauen und gleichzeitig den Mangel an sozialer Zugehörigkeit.
Dem stellt Rousseau die Vision einer Gesellschaft entgegen, die auf gegenseitiger Achtung und Hilfsbereitschaft beruht und beschwört das einfache Leben, das er – irrtümlicherweise – im Alten Sparta verwirklicht sah. So verfing er sich im romantischen Ideal der Volkszugehörigkeit, das 100 Jahre später in den verhängnisvollen Nationalismus als eine Art Glaubensersatz mündete. Darin offenbaren sich bis heute die paradoxen Folgen einer rein rationalen Aufklärung: Universelle Menschenrechte versus völkische Identität, wissenschafts-und Technikeuphorie versus Rückkehr religiöser Traditionen.
Schliesslich, so Mishra, setze die gegenwärtige Globalisierung als Spielfeld der Gewinnmaximierung Menschen wie Schachfiguren ein, die jederzeit verschoben oder wegrationalisiert werden können, und schaffe damit ein Klima der Entwurzelung. Hatte die soziale Marktwirtschaft der Nachkriegszeit die Konsequenzen des Kapitalismus gemildert, so fegt der neoliberale Individualismus alles hinweg, was an Gefühlen der Zugehörigkeit und der persönlichen Identität innerhalb des Gemeinwesens noch verblieben war.
Es ist die eigentliche Stärke von Mishras Analyse, dass er die psychologischen Zusammenhänge zwischen einer Vielfalt von Frustrationen, – Verlust an sozialer Anerkennung, Lebenssinn und Zukunftsperspektiven -, und der zunehmenden Bereitschaft zu destruktivem Verhalten klar benennt. Ohne Erich Fromm und seine „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ zu zitieren, bestätigt er dessen Erkenntnisse: Es sind die Gefühle der Ohnmacht, die Hass erzeugen, und destruktive Akte wollen die eigene Ohnmacht in die Illusion der Allmacht verwandeln. Für das Gefühl, Herr über Leben und Tod zu sein, zählt dann das eigene Leben ebenso wenig wie das Leben der Mitmenschen.
Am Beispiel des Massakers von Oklahoma 1995, das Timothy Veigh an 168 Menschen verübte, zeichnet Mishra das Psychogramm eines kaltblütigen Massenmörders. Der aus dem weissen Mittelstand stammende Veigh war intelligent, gut ausgebildet und politisch interessiert. Als Sohn geschiedener Eltern konnte er als Junge keine emotionalen Bindungen entwickeln und zog sich in die virtuelle Welt der Männlichkeitsphantasien à la Rambo zurück. Entscheidend prägte ihn sein Kriegseinsatz im Irak, wo ihm, wie er vor Gericht aussagte, das massenhafte Töten befohlen wurde. Sein Zorn galt der amerikanischen Regierung, die in seinen Augen den Geist der amerikanischen Pionierzeit verriet. Deshalb sein Terrorakt gegen ein Regierungsgebäude. Als einsamer Täter und als Atheist ohne jeden Bezug zu einer fundamentalistischen Ideologie plante er kaltblütig sein mörderisches Unterfangen, liess sich danach widerstandslos festnehmen und nahm das Todesurteil ungerührt entgegen. Dies alles erscheint als Racheakt eines Desillusionierten, dem es nicht gelang, eine positive männliche Identität aufzubauen. In dieses Bild passt seine Frauenfeindlichkeit und Frauenverachtung, ein Grundzug, den Mishra bei allen anarchistischen Rebellen ausmacht: beginnend mit D‘Annunzios Manifest (1909) über den norwegischen Massenmörder Anders Behring Breivik bis zu den Terroristen und Vergewaltigern des so genannten Islamischen Staats. Dasselbe gelte für despotische Aufsteiger aus dem sozialen Untergrund, wofür Napoleons schamlose Frauenfeindlichkeit ein Beispiel sei, oder der zur Schau getragenen Machismo eines Ehrgeizlings wie Donald Trump.
Von daher bedürfte es allerdings der Erklärung, warum Männer so viel empfindlicher auf persönliche Kränkung reagieren als Frauen, die seit Jahrhunderten systematische Zurücksetzung erleiden. Dies umso mehr, als sich das männliche Ressentiment auch beim Mainstream des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts findet. Das klassische Beispiel dafür ist Francis Bacon (1561-1626), der Begründer der experimentellen Naturwissenschaft.
Bacon erteilt der Naturbetrachtung vor seiner Zeit eine schroffe Absage, indem er ihr eine passiv-weibische Haltung vorwirft. Nun proklamiert er das männliche Zeitalter der Wissenschaft, in welchem „Supermen“ mit der neuen wissenschaftlichen Methode die Natur beherrschen werden wie eine Sklavin. Stets spricht er von der Natur in weiblichen Bildern und davon, ihr mit Hilfe von Experimenten ihre Geheimnisse zu entreissen und sie durch Neuschöpfung künstlicher Lebewesen in den Schatten zu stellen. 400 Jahre später sollte sich Bacons Vision weitgehend erfüllen, freilich mit dem makabren Nebeneffekt, die Ressourcen der Natur nachhaltig zu zerstören.
Auch war seine verächtliche Einschätzung der kontemplativen Haltung des Mittelalters als „weibisch“ eine Fehldiagnose. Vielmehr war auch sie eine Spielart männlicher Überlegenheitsansprüche, wenn sich Mönche und Gelehrte auf die rein geistige Welt zurückzogen und die Banalitäten des Lebens den Frauen überliessen. Die Vorstellung, das weibliche Geschlecht sei nur die mindere Ausgabe des Menschen, hatte der Erztheologe Thomas von Aquin von Aristoteles übernommen; und weil das europäische Geschichtsbewusstsein noch im 20. Jahrhundert die griechische Antike für die Wiege der Kultur schlechthin hielt, übernahm man unbesehen deren Geschlechtermodell und projizierte es wie selbstverständlich auch in vorhistorische Zeiten.
Erst die moderne Archäologie brachte ans Licht, dass es Jahrtausende vor den patriarchalen Herrschaftsstrukturen ganz andere Formen des Zusammenlebens gab. So im neolithischen Anatolien in der Stadt Çatal Hüyük 7250-6150 oder in den Grosssiedlungen der Donaukulturen im 6. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung. Dort gab es friedliche Kulturen ohne Waffenlager und Verteidigungswälle, mit flacher sozialer Stratifikation bei voll entwickelter Agrarwirtschaft und einer keramischen Gebrauchs- und Sakralkunst von hohem Niveau.
Im Zentrum religiöser Vorstellungen standen weibliche Gottheiten als Schöpferinnen des Lebens und an ihrer Seite der Stier als männliches Sakralsymbol. Die Darstellung von ersten Tempelanlagen, in denen Priesterinnen und Priester Rituale vollzogen, sowie sozial bedeutungsvolle Statuen beiderlei Geschlechts weisen auf eine egalitäre Geschlechterordnung hin. Auch gibt es Anhaltspunkte für matrilineare Sippenstrukturen, wofür die Art der Bestattungen und die Verehrung einer Mutter-Tochter-Gottheit sprechen. Dies rechtfertigt die Annahme, dass wir es mit matrizentrischen Kulturen zu tun haben, nicht im Sinne von Bachofens hypothetischer Gynäkokratie, sondern mit einer hohen sozialen und spirituellen Stellung der Frau bei ausbalancierten Geschlechterbeziehungen ohne Dominanzverhalten.
Bei der von Marija Gimbutas (1991) akribisch dokumentierten Donaukultur, die sich im Nordosten bis in die heutige Ukraine ausdehnte, und im Süden mit den ähnlichen Frühkulturen in Griechenland und einem Teil der ägäischen Inselwelt verbunden war, gab es bereits Vorformen einer Schrift. Auch setzten die weiträumigen Handelsbeziehungen die etablierte Schifffahrt voraus. In diese Blüte früher Hochkulturen drangen ab dem 4. Jahrtausend v.u.Z. patriarchale Hirtenkrieger aus den Steppengebieten nördlich des Kaspischen Meeres ein. Sie zwangen ihnen ihre patrilineare Sippenstruktur, ihre Sprache und hierarchische Verwaltungsstrukturen auf und brachten die Verehrung von männlichen Schöpfer- und Kriegsgöttern mit.
Damit trat ein völlig neues, männliches Identitäts- und Herrschaftsbewusstsein in Erscheinung, das der Mainstream unserer Geschichtsschreibung bis heute für die normale, gewissermassen naturgegebene Gesellschaftsstruktur hält. Die Existenz friedlicher Frühkulturen weist die Geschichtsschreibung mit dem Argument zurück, dass dies zu schön sei, um wahr zu sein. So stand es im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung als Kritik an Harald Haarmanns kulturhistorisch-linguistischem Werk „Das Rätsel der Donauzivilisation. Die Entdeckung der ältesten Hochkultur Europas“, erschienen 2011. Ich vermute das genau Umgekehrte: Für das männliche, kämpferische Identitätsbewusstsein wäre eine friedliche Kultur, wenn wahr, so nicht schön, weil sie dem klassischen männlichen Selbstbewusstsein keinen Raum lässt. Mir scheint es ein Hinweis auf das prekäre Identitätsbewusstsein des Mannes zu sein, das bis in die ersten Existenzformen des Homo sapiens zurückreicht. Bei den so genannten Wildbeutern trugen und tragen bis heute die Sammlerinnen und Jäger in unterschiedlicher Weise zur Ernährung der Gruppe bei. Rein quantitativ bildet das Sammelergebnis der Frauen und Kinder bis zu 80 % die Grundnahrung für die ganze Gruppe, während die Jagdbeute nur eine zusätzliche, wenn auch sehr begehrte Ernährungsquelle darstellt.
Ethnologische Beobachtungen an heute noch existierenden Wildbeutergruppen werfen ein Licht auf das ursprüngliche Geschlechterverhältnis, wie u.a. die Forschungen Klaus P. Koeppings an den Aborigines in Australien. Er spricht von der natürlichen Bedeutung und sozialen Eingebundenheit der Frau, ja von ihrer „heiligen“ Ausstrahlung aufgrund ihrer lebensgebenden Funktion, während sich der Mann seine soziale Identität erst schaffen musste. Das gelang ihm als Jäger, dessen Ausbeute zwar quantitativ weniger zum Überleben der Gruppe beträgt, doch verliehen ihm die meisterhafte Ausübung seines gefährlichen Handwerks und die Rituale der männlichen Jagdgemeinschaft den Nimbus des Heldischen.
Noch deutlicher wird die kulturell hergestellte Ebenbürtigkeit der Geschlechter bei den heutigen San in der Kalahari Südafrikas. Dort lebt eine selbstverwaltete indigene Restgruppe von ca. 37‘000 Mitgliedern, nachdem sie von den weissen Kolonialisten „Buschleute“ genannt und nahezu ausgerottet worden waren. Die Forschungen der Ethnologin Megan Biesele ergaben ein ebenso eindeutiges wie überraschendes Bild: Die San leben in Wohngemeinschaften zwischen 30 und 50 Individuen, bestehend aus Blutverwandten und eingeheirateten PartnerInnen. Die Verwaltung des Haushalts übernimmt meist ein Schwester-Bruder-Paar, das keine Befehlsgewalt besitzt, sich aber um die Einhaltung gemeinsam aufgestellter Regeln kümmert und bei Konflikten nach Lösungen sucht.
Während früher die Jagd überschätzt und nur von Buschmännern die Rede war, spricht Biesele vom geschlechter-egalitärsten Volk der Welt: Die San-Frauen kennen bis zu 200 essbare und heilkräftige Pflanzen und sammeln daneben auch Kleintiere. So besorgen Frauen den Hauptteil der Nahrung, bestehend aus Kohlehydraten und auch aus Eiweissen. Die San-Männer sind hervorragende Spurensucher von 60 Tierarten und äusserst ausdauernde Schnellläufer, die den Beutetieren so nahe kommen, dass sie sie mit vergifteten Pfeilen erlegen können. Die begehrte Fleischnahrung wird völlig gleichmässig an Männer und Frauen verteilt, denn jegliche Form von Geiz und Übervorteilung gilt als verachtenswert. Der Wetteifer zwischen den Jägern wird auf kluge Weise gedämpft und das Verhältnis zu Nachbarclans friedlich geregelt. Aggressive Szenen gibt es zwischen rivalisierenden Männern um die Gunst einer Frau bzw. aus Eifersucht zwischen Geschlechtspartnern. Dabei ist die Stellung des Mannes insofern prekär, als die relativ einfache Auflösung einer Ehe häufig wegen der Wahl eines neuen Partners durch die Frau erfolgt. Bei Kämpfen zwischen rivalisierenden Männern bzw. den Geschlechtspartnern werden schwere Verletzungen durch das Eingreifen von Verwandtschaftsgruppen verhindert.
Eigentlich brisant sind diese Befunde durch die Erkenntnis der Genforschung, dass es sich bei den San um das genetisch älteste heute noch lebende Volk handelt, dessen Spuren bis in die jüngere Altsteinzeit verfolgbar sind (Siehe „Spiegel“ 21.9.2012). Nur hat bis heute niemand die naheliegende Frage gestellt, ob die Menschen der jungpaläolithischen Kulturen, deren künstlerische Hinterlassenschaften Weltruhm erlangten, ähnlich friedliche und egalitäre Sozialstrukturen besassen. Dies umso mehr, als die berühmten Höhlenmalereien der Eiszeit mit den Felszeichnungen der einst grosse Teile Afrikas besiedelnden San-Vorfahren vergleichbar sind; ein Talent, das sie während der grausamen Kolonialzeit verloren.
Jedenfalls ist dies ein weiteres Indiz dafür, dass der Krieg keine menschliche Urtatsache ist, denn im gesamten Jungpaläolithikum und während der ersten Hälfte des Neolithikums sind bisher keine Spuren für kriegerische Auseinandersetzungen gefunden worden. Dies entbindet uns allerdings nicht von der Suche nach möglichen Erklärungen dafür, wann und weshalb der Krieger zur Identitätsfigur des Mannes wurde.
Im Fokus steht dabei die Übergangszeit von den Sammlerinnen- und Jägergesellschaften zum sesshaften Ackerbau und zur Viehzucht ab dem 10. Jahrtausend v.u.Z.
Die so genannte neolithische Revolution war ein langer Prozess, der vom „fruchtbaren Halbmond“ Mesopotamiens, Anatoliens und der Levante seinen Ausgang nahm. Unbestritten ist, dass es die Sammlerinnen als Pflanzenkennerinnen waren, die eine bewusste Züchtung von Wildgetreide initiierten, und dass das Frauenkollektiv in der zunächst mit einfachen Werkzeugen bestellten Landbebauung führend war. Nachdem aber die Jagd noch viele Jahrhunderte lang als Ernährungsbeitrag neben dem Ackerbau eine Rolle spielte, blieb die Identität des Mannes als Jäger zunächst erhalten. Erst als diese in den Hintergrund trat, suchten sich Männer neue Betätigungsfelder. Ein sehr wichtiges wurde der Bergbau und der Abbau von Metallen, wie Kupfer, Zinn und später Eisenerz. Bis heute haftet dem „Bergmann“ das Flair besonderer Männlichkeit an.
Ab dem 7. Jahrtausend v.u.Z. wurde die Grossviehzucht, zuerst die Rinderzucht und später die Pferdezucht, zur Männerdomäne, der mehr Prestige zukam als der weiblichen Kleintierzucht von Ziegen und Geflügel. Und mit der Erfindung des von Rindern gezogenen Pflugs um 4500 gewannen Männer als Ackerbauern zusätzlichen Rang in der Gemeinschaft. Dennoch war die Bedeutung der Frau als Sippenmutter, als Schöpferin hoher Keramikkunst und, durch ihre spirituelle Verbindung zur Grossen Göttin, als Priesterin ungebrochen. So können wir davon ausgehen, dass sich in der ersten kulturellen Hochblüte im Nahen Osten und der Donauregion das Geschlechterverhältnis in Balance befand.
Unterschwellig jedoch erhielt das männliche Selbstbewusstsein Auftrieb durch neue biologische Gewissheiten. Vor der Neolithischen Revolution bestand noch kein sicheres Wissen um den Zusammenhang zwischen Zeugung und Schwangerschaft, weil Frauen während der langen Stillzeiten von ca. drei Jahren aufgrund der natürlichen Ovulationshemmung (Verhinderung des Eisprungs) nicht schwanger wurden. Bei der damaligen Lebenserwartung hatten Mütter selten mehr als vier Kinder, was sich mit dem allmählichen Wegfall der Ovulationshemmung veränderte. Die Ursache dafür wird in der reicheren Ernährung vermutet (G. Bott, 2009). Eigentlich wurden die Zeugungsvorgänge erst bei der Rinderzucht offensichtlich, und da ein Stier genügte, um mehrere Kühe trächtig zu machen, fand sich der Mann in seiner Geschlechtsrolle erheblich aufgewertet. Nicht zufällig trat nun der Stier als göttliche Figur neben die Grosse Göttin, und Stiergötter wurden in allen voll entwickelten Agrarkulturen in Eurasien verehrt.
Die zunehmend kürzeren Intervalle zwischen den Geburten führten zur starken Zunahme der Bevölkerung, sodass ab 5000 v.u.Z. die ersten grossen Wanderungen auf der Suche nach neuem Weide- und Ackerland erfolgten. Am spektakulärsten war der Aufbruch der nach ihrem Keramikdekor genannten Bandkeramiker aus dem Donauraum, die auf mit Rindern gezogenen Landschlitten (noch vor Erfindung des Rades) neben ihren Tieren Saatgut, Keramik und fein geschliffene Steinbeile mit sich führten. Auf dem Seeweg über einige Mittelmeerinseln nach Frankreich, auf Flüssen und entlang der Westküste Europas von Portugal über die Bretagne drangen sie bis nach England, Irland, Norddeutschland und Südskandinavien vor. Überall trafen sie auf die alten Wildbeuter-Gemeinschaften, mit denen es aber kaum Konflikte gab, weil die Neuankömmlinge nur den nötigen Raum für ihre Langhäuser, Acker- und Weideflächen aus den riesigen Waldflächen rodeten. Allmählich übernahmen die Sammlerinnen und Jäger die neue Produktionsweise und rodeten ihrerseits Waldflächen, um Ackerbau und Viehzucht zu betreiben.
Die bis heute erhaltene Spur dieser riesigen Wanderbewegungen sind die Megalithbauten in Form von Steinkreisen, Menhiren, Dolmen und Ganggräbern. Am berühmtesten wurden die Anlagen von Newgrange in Irland und Stonehenge in Südwest-England neben den Tempeln auf Malta und Gozo und den Menhiren von Carnac in der Bretagne. Die mit Spiralmustern ungeheuer reich ausgestalteten Tempel und Kollektivgräber sowie die zum Teil weiblich geformten Menhire legen eine nach wie vor matrizentrische Religiosität nahe: Die Dolmen bildeten eine Art künstliche Höhle, die wie ein grosser Mutterschoss die sterblichen Reste der Verstorbenen aufnahm und zur Wiedergeburt vorbereitete (Venceslas Kruta 1993). Die gewaltigen Steinkreise wie in Stonehenge veranschaulichen astronomische Zusammenhänge, wobei der Sonnenstand, Mond und Sterne Hinweise auf Jahreszeiten, Aussaat und Ernte gaben.
Die riesigen, pfeilerartigen Menhire dagegen symbolisierten wohl männliche Macht und Zeugungskraft wie die späteren ägyptischen Obelisken. Auch belegen spätere Megalithgräber ab dem 3. Jahrtausend aufwendige Einzelbegräbnisse für eine hochrangige Elite (Jungsteinzeit im Umbruch, Karlsruhe 2011), was bereits patriarchale Verhältnisse anzeigt.
Über die sozialen Strukturen der wandernden Bandkeramiker wissen wir kaum etwas. Einerseits sprechen ihre Langhäuser für alte Sippentraditionen, hingegen die Steinbeile und erstmalig auftretende Gewalttaten für die starke Stellung der Männer als Führer und Verteidiger der Gruppe. Bei diesen ersten Gewaltakten handelte es sich aber noch nicht um kriegerische Auseinandersetzungen. Vielmehr wäre es möglich, dass nachrückende, in Not geratene Bandkeramiker ältere bandkeramische Siedler überfallen und erschlagen haben, um an deren Vorräte zu kommen. (Talheim bei Heilbronn um 5100 v.u.Z.)
Jedenfalls hatten die Frauen durch den Verlust ihrer Heimat und dem einst weiblich-kollektiven Landbesitz sowie aufgrund ihrer Schutzbedürftigkeit auf den langen Reisewegen an sozialer Bedeutung verloren. Dies umso mehr, als die Männer auch die Schifffahrt organisierten und mit seetauglichen Booten auf Flüssen und entlang der Atlantikküste die Verkehrswege erschlossen. Neben dem Hirten und dem Steinbeil bewehrten „Pfadfinder“ wurde nun auch der Seemann zur männlichen Identitätsfigur, was sich bis in die Neuzeit, u.a. im legendären See-Piratentum fortsetzte.
Vieles spricht dafür, dass die alte matrizentrische Sippenordnung im Laufe der grossen Wanderungen allmählich geschwächt und von patriarchalen Familienstrukturen abgelöst wurde. Das bedeutet Dominanz der Männer über Frauen und Kinder und die angestrebte Kontrolle darüber, dass die Kinder vom Ehemann gezeugt sind. Damit verbunden ist eine erste unterschwellige Frauenfeindlichkeit und die zornige Einforderung männlicher Rechte, die dem Mann aufgrund seiner neuen sozialen Stellung und seines erhöhten Selbstbewusstseins zustünden (Gerhard Bott 2009).
Es gibt aber noch einen zweiten Grund für den kulturellen Umbruch am Ende des vierten und am Beginn des 3. Jahrtausends, ausgelöst durch dramatische Klimaveränderungen. Um 10‘000 v.u.Z. waren die Sahara, die arabische Halbinsel und weite Gebiete nördlich des kaspischen Meers noch grüne Flächen mit fruchtbaren Böden, die zunehmend versteppten und zu Halbwüsten austrockneten. Dies zwang Bauern und Rinderhirten zu nomadisierender Pastoralwirtschaft und schliesslich zum gewaltsamen Eindringen in fruchtbare, hoch entwickelte Ackerbaukulturen.
So eroberten die Sumerer, deren Herkunft bis heute unbekannt blieb, die südmesopotamischen Städte der Ubed (Ubaid)- Kultur. Deren hoch entwickelte Tempelwirtschaft mit flachen hierarchischen Strukturen nach innen und friedlichen Absichten nach aussen war für die Sumerer eine leichte Beute, nachdem sie mit von Rindern gezogenen Streitwagen und Bronzewaffen in die unbefestigten Stadtstaaten eindrangen. Sie ersetzten die bisherige Verwaltung von Priesterinnen und Priestern durch ein patriarchales Königtum, das die Gesellschaft in Sieger und Besiegte spaltete und erste Formen der Sklaverei entstehen liess. Im Laufe des 3. Jahrtausends v.u.Z. kam es dann zwischen den Königen der eroberten Stadtstaaten zu Rivalitätskriegen, wofür die mächtige Mauer um die Stadt Uruk und die so genannte Geierstele, auf der man die erschlagenen Feinde den Geiern zum Frass überlässt, Zeugnis ablegen.
Entstanden Kriege ursprünglich aus existentieller Not, so wurden sie nun zu einem Feld männlicher Selbstbestätigung und Tugend, wofür auch das Gilgamesch-Epos spricht. Dabei verdeckt die Härte und Grausamkeit des Kriegers die verdrängte Erfahrung von Ohnmacht. Dass sich der Zorn der frühen Krieger auch aus der Enttäuschung über die erfahrene Grausamkeit vonseiten der „Mutter Natur“ nährt, bringt uns ein Kampflied altkurdischer Hirtenkrieger eindrücklich nahe:
Du aber erhebe dich/Da die Quellen versiegt,/das letzte Grün des Grases verbrannt,/die zerrissene Krume verdorrten Bodens,/des Ackers fruchtbare Decke als Staub/durch den Gluthauch des Windes/emporgewirbelt Wolken bildet,/spürst du die Ohnmacht,/siehst das verendende Tier,/hörst das Weinen der Kinder,/und deine Fäuste/schaffen nicht Wasser,/geben den Gräsern nicht Leben,/schützen nicht die fruchtbare Erde des Ackers/vor dem Gluthauch des Windes./Zweifelst du?/Schreit dein Herz nicht in Zorn/vor dem Tag –
Vergeblich duckt sich das Tier,/geduldig das Sterben erwartend,/du aber erhebe dich!
(Abbas Hilmi 1964)
Der Vertrauensverlust gegenüber der grossen Mutter-und Schöpfungsgöttin findet seinen Widerschein in der Dämonisierung der Urmutter Tiamat. Unter der babylonischen Vorherrschaft Südmesopotamiens entsteht der Mythos vom jungen Sonnengott Marduk, der Tiamat brutal niederstreckt, ihren Leib in zwei Teile zerreisst und daraus Himmel und Erde erschafft. Dies ist der Gründungsmythos der patriarchalen Theologie, der sich später in der griechischen Mythologie wiederfindet, wenn Perseus die Göttin Medusa tötet und sich die olympischen Götter zu Herrschern des Universums erklären. Auch Gilgamesch, der sagenhafte sumerische König von Uruk, tritt in seinem berühmten Epos voller Zorn der Göttin Ischtar entgegen und beschimpft sie als Hure, weil sie sich bei der Wahl ihrer Liebhaber frei fühlt und dies der patriarchalen Vorstellung von ehelicher Treue zuwider läuft.
Die Heldenverehrung des Kriegers schliesst von Beginn an eine unübersehbare Frauenverachtung ein, wenn Vergewaltigung und der sexuelle Missbrauch von Sklavinnen zum unausgesprochenen Lohn der todesmutigen Kämpfer gehören. In der Folge wird die gewerbsmässige Prostitution in eigens dafür geschaffenen Bordellen zur offiziellen Einrichtung, in welcher sich verarmte Frauen ihren Lebensunterhalt, wenn auch eine verachtete Existenz schufen (Gerda Lerner 1991).
Für das Alte Europa tritt die entscheidende Wende durch den Einfall von Pferde züchtenden Hirtenkriegern ein, die aus den Steppen nördlich des kaspischen Meeres nach Süden und Südwesten zogen. Ein Teil von ihnen überrannte als „Arier“ die hochentwickelten Induskulturen, ein anderer eroberte in mehreren Wellen die Alten Donaukulturen im Südosten Europas.
Marija Gimbutas (1991) spricht von Kurgan-Migration, abgeleitet von den als Kurgane bezeichneten Hügelgräbern, die den Weg der Landsuchenden markieren. Dabei handelt es sich um aufwändige Grabstätten für hochrangige Männer, die man mit ihren Waffen, – Bronzedolche, Speere, Pfeil und Bogen -, mit pferdeköpfigen Zeptern und mit Skelettresten geopferter Pferde beigesetzt hatte.
Mehrfach fand sich auch die erschreckende Sitte des Sati, also die Opferung und Mitbestattung der Witwe an der Seite des Kriegers.
Die erste Welle der Kurgan-Migration mit von Pferden gezogenen Streitwagen traf um 4400 im Gebiet der heutigen Ukraine ein. Die zweite Welle um 3500 überrannte die bedeutendsten Donaukulturen, um sie von auf Hügeln errichteten Befestigungen aus zu beherrschen. Die Sieger zwangen den Unterworfenen patriarchale Verwaltungsstrukturen und die indoeuropäische Sprache auf und überliessen ihnen die Sicherstellung der Ernährung und das Handwerk.
Die dritte Welle ab 3000 v.u.Z. führte zur Verdrängung bzw. Auswanderung eines Grossteils der angestammten Bevölkerung aus Bulgarien, Rumänien, Jugoslawien und Ungarn nach Nordwest- und Nordost-Europa. Diese Auswanderer brachten die indoeuropäische Sprache und neue religiöse Symbole mit, sodass sich eine Mischkultur zwischen zwei ganz verschiedenen spirituellen Prägungen bildete.
Ab 2000 v.u.Z.. fielen indoeuropäische Gruppen mit Streitwagen und als Reiterkrieger in Griechenland, auf die ägäischen Inseln und in Kreta ein. Zuerst kamen die Achäer, später die Dorer, die einen Grossteil der Sesklo-und Dimitri-Kultur zerstörten, die wie auf Kreta matrizentrisch geprägt war und bereits kleine Städte- unter anderem das alte Athen – besass (F. Schachermeyr 1979). Die mykenische Übernahme der kretischen Palastkultur zeigt aber auch, dass sich die Eroberer von den vorgefundenen Bauten und Kunstwerken beeindrucken liessen. Zudem setzt sich der Götterhimmel Griechenlands aus Elementen beider Traditionen zusammen, der erst von Hesiod um 700 v.u.Z. zugunsten der Olympier hierarchisiert wurde.
Die griechischen und später auch die römischen Herrscher, die ein Heer von Sklavinnen und Sklaven geschaffen hatten, waren sich sehr wohl bewusst, dass sie ihre Macht nur mit militärischer Stärke bewahren konnten. Dabei befanden sich beide, Herrscher und Beherrschte, in einem ambivalenten Zustand von Angst und Zorn: Die Oberen in nervöser Erwartung von Unbotmässigkeit und Aufständen, die sie als Kränkung empfanden und brutal niederwarfen; die Unteren mit zornig geballten Fäusten, mit denen sie aus Angst vor Vergeltung nicht wagten, loszuschlagen.
Im Mittelalter übernahm die Kirche die Rolle der brutalen Einschüchterung, die ihren Höhepunkt in den pathologisch zu nennenden Hexenprozessen fand.
Wenig später brachten die Kolonialkriege und parallel dazu die Zwangschristianisierung eine nie dagewesene Demütigung indigener Volksgruppen in aller Welt. Ihre „Offenen Adern“ (E. Galeano 1973) hinterliessen tiefe Ressentiments und Hassgefühle gegen die weissen Eroberer. Auch nach der so genannten Entkolonialisierung war die wirtschaftliche Abhängigkeit von den Industriestaaten umso ernüchternder, was ja die grossen Flüchtlingsbewegungen in die reichen Länder mit verursacht hat.
So ist für das gegenwärtige Zeitalter des Zorns vor allem eines typisch: Die Verwirrung beziehungsweise die Verwechslung von Ursachen und Wirkungen, deren Lösung nur eine selbstkritische Aufarbeitung der europäischen Geschichtsvergessenheit voranbringen könnte. Noch ist davon wenig zu spüren, sodass Mishras Analyse pessimistisch endet.
Ich selbst bin der Überzeugung, dass erst der auf seine Wurzeln zurückgeführte und in seinen Konsequenzen zu Ende gedachte Geschlechterkampf eine profunde Aufklärung der historischen Ressentiments ermöglicht (Carola Meier-Seethaler 2011). Seit Jahrzehnten ist zwar von Gleichberechtigung die Rede und für die Frauen viel erreicht worden. Im Gegensatz dazu befindet sich die Emanzipation der Männer noch in spärlichen Anfängen und wird von der Angst vor weiblicher Konkurrenz zusätzlich gebremst.
Wenn wir davon ausgehen, dass sich der Mann in der menschlichen Frühzeit als das „andere Geschlecht“ erlebte, und er seine Stellung in der Gemeinschaft und seine geschlechtsspezifische Identität erst finden musste, so erstaunt es nicht, dass das Verhältnis zwischen den Geschlechtern nicht immer spannungsfrei verlief. Dabei ist das Streben nach Dominanz als Versuch zu verstehen, eigene oder kollektive Selbstunsicherheit mit Überlegenheitsansprüchen zu kompensieren. Dies ist durch Herrschaftssysteme und deren ideologischem Überbau auch hervorragend gelungen.
Dennoch blieb die physische und psychische Abhängigkeit vom weiblichen Geschlecht bestehen und nahm infolge der ersten industriellen Revolution im ausgehenden 19. Jahrhundert noch zu: Aufgrund der Trennung von Arbeitsort und Wohnort bei gleichzeitiger Schrumpfung zur Kleinfamilie wurden Kinder beiderlei Geschlechts während der ersten Lebensjahre fast ausschliesslich von ihren Müttern betreut. Das bedeutet für den Knaben, dass seine emotionale Identifikation mit der Mutter zum Hindernis für seine Selbstfindung als männliches Wesen gerät. Er muss von ihr Distanz nehmen, weil er nicht nur erwachsen, sondern ein anderer Erwachsener werden soll. Und solange die emotionale Identifikation mit dem meist abwesenden Vater fehlt, entsteht die Definition des Männlichen als Gegensatz zum Weiblichen, und dazu muss das Emotionale zugunsten von Rationalität, Leistungsehrgeiz und Wettbewerb verdrängt werden (Dorothy Dinnerstein 1979).
Die seither nicht überwundene Fixierung auf die Geschlechterpolaritäten mit Blick auf Charaktereigenschaften und Rollenzuweisungen erhält den Status Quo: Männer verschreiben sich weiterhin dem tödlichen Wettbewerb, während Frauen vor der unlösbaren Aufgabe stehen, ihre Verwirklichung im Beruf mit den Aufgaben als Mutter zu verbinden. Eine grundsätzliche Wende sehe ich nur, wenn es gelingt, ein neues Männerbild und eine erweiterte Selbstidentifikation für den Mann zu schaffen, wie es sich in Gestalt der NeuenVäter abzeichnet.
Für die jungen Väter ist ein mindestens 3-monatiger Vaterschaftsurlaub erst eine bescheidene Voraussetzung, die es ihnen erlaubt, ihre Kinder vom ersten Lebenstag an aktiv mit zu pflegen und eine innige Beziehung zu ihnen aufzubauen. Dies ist insofern „artgerecht“, als das Menschenkind aufgrund seines grossen Hirnumfangs als einziges in der Säugetierreihe als zu früh geborener Fötus auf die Welt kommt. Der Biologe Adolf Portmann (1941) hat die ca. 11 Monate, die das Baby gegenüber seinen Tierverwandten im Rückstand ist, die extrauterine Tragzeit genannt. Sie kann vom Vater ebenso wahrgenommen werden wie von der Mutter und dauert sogar länger als die intrauterine Schwangerschaft. Selbst „Lebensträger“ zu sein, würde für den Mann das Gefühl des Ausgeschlossenseins aus dem Prozess des werdenden Lebens aufheben und zugleich eine breitere Basis für seine Selbstidentifikation schaffen.
Tatsächlich erleben dies Neue Väter als eine grosse Bereicherung, ganz abgesehen davon, dass sie damit den Müttern den Weg zur Weiterführung ihrer beruflichen Tätigkeit eröffnen. Für die Kinder besteht der wesentliche Vorteil darin, dass sie sich mit Mutter und Vater emotional identifizieren können und damit Mädchen und Knaben eine selbstverständliche Identitätsfigur besitzen.
Allerdings hat die „reziproke Elternschaft“ erst dann gesamtgesellschaftliche Auswirkungen, wenn die zeitlich unbegrenzte egalitäre Arbeitsteilung zur allgemeinen Norm wird. Das würde nicht nur das alte Schema vom Familienernährer aufheben, sonders das Selbstverständnis der Gesamtwirtschaft verändern. Das Gemeinwohl und die Care-Ökonomie erhielten viel grösseres Gewicht, was die Fixierung auf Profitmaximierung ebenso infrage stellt wie den angeblich unaufhaltsamen technischen Fortschritt.
Joseph Weizenbaum (1987) hatte die atomare Aufrüstung und den Raubbau an natürlichen Ressourcen den „Kurs auf den Eisberg“ genannt. Heute müssen wir uns fragen, wohin uns die Anwendung von künstlicher Intelligenz noch führen wird. Müssen wir die extreme Roboterisierung und Digitalisierung von Produktion und Infrastruktur und damit auch die Entsinnlichung mitmenschlicher Kommunikation einfach hinnehmen? Das hiesse, den technischen Fortschritt als unabänderlichen Selbstläufer zu akzeptieren, statt jede Innovation als Produkt menschlicher Zwecksetzung zu verstehen und mit der Sinnfrage zu verbinden, ob sie dem humanen Zusammenleben und dem Leben auf dem gesamten Planeten förderlich ist. Diese Fragestellung abzublocken, wäre geradezu eine Bankrotterklärung der menschlichen Vernunft.
Wenn wir jedoch erkennen, dass der blinde Glaube an den technischen Fortschritt mit der männlichen Identitätsfindung verquickt ist, könnte dies zu einem Umdenken führen. Sobald sich Männer im familiären Haushalt und für das gesunde Aufwachsen der Kinder ebenso engagieren wie für den öffentlichen Haushalt, würde der wirtschaftliche Standortvorteil technischer Höchstleistungen relativiert. Ihre Perspektive wäre dann nicht mehr einseitig darauf gerichtet, wie sich Heranwachsende an die Bedürfnisse der hochtechnisierten Wirtschaft anzupassen haben, sondern ebenso darauf, ob die Wirtschaft ihrer eigentlichen Aufgabe entspricht, die physischen und psychischen Grundbedürfnisse der Menschen zu befriedigen, statt immer neue Konsumbedürfnisse zu schaffen.
Unterstützt wird diese Perspektive von hochrangigen Ökonomen, die eine zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich beklagen und das Dogma von der „unsichtbaren Hand“ des Marktes im Sinne des automatischen Ausgleichs grundsätzlich infrage stellen (Thomas Piketty 2014).
Die unmittelbare Lebenswahrnehmung und Lebensfürsorge der Neuen Väter verbreitert die Basis der männlichen Identität und schärft den Blick für fundamentale Systemkritik. Es ist eine Frage der kritischen Masse, bis junge Männer ihre Einforderung familiengerechter Arbeitszeiten politisch durchsetzen. Emanzipierte Männerbewegungen könnten dann, zusammen mit Frauen-, Friedens- und Umweltbewegungen, eine echte Zivilgesellschaft bilden.
Literatur:
Bad. Landesmuseum Karlsruhe Jungsteinzeit im Umbruch. Mitteleuropa vor 6000 Jahren. Karlsruhe 2011
Biesele, Megan: !Kung Healing. The Symbolic of Sex Roles and Cultur Change. In: M.Biesele, R.Gordon, R.Lee: The Past and the Future of !Kung Ethnography. Hamburg 1986
Bott, Gerhard: Die Erfindung der Götter. Essays zur politischen Theologie. Norderstedt 2009
Dinnerstein, Dorothy: Das Arrangement der Geschlechter. Stuttgart 1979
Galeano, Eduardo: Die offenen Adern Lateinamerikas. Wuppertal 1973
Gimbutas, Marija: Civilisation Of The Goddes. The World Of Old Europe. San Francisco 1991
Haarmann, Harald: Das Rätsel der Donauzivilisation. München 2011
Hilmi, Abbas: Altkurdische Kampf- und Liebeslieder. München 1964
Koepping, Klaus-Peter: Australier(Arnhem-Land). In: Müller, Klaus, E.(Hg.): Menschenbilder früher Gesellschaften. Frankfurt 1983
Kruta, Venceslas: Die Anfänge Europas 6000 – 500 v.Chr. München 1993
Lerner, Gerda: Die Entstehung des Patriarchats. Frankfurt 1991
Meier-Seethaler, Carola: Ursprünge und Befreiungen. Eine dissidente Kulturtheorie. Stuttgart 2011
Piketty, Thomas: Das Kapital im 21. Jahrhundert. München 2014
Portmann, Adolf: Die biologische Bedeutung des ersten Lebensjahres beim Menschen. In: Medizin. Wochenzeitschrift 71, 921-1001, 1941
Schachermeyr, Fritz: Ursprung und Hintergrund der griechischen Geschichte. In: Propyläen
Weltgeschichte, Bd. III, Gütersloh 1979
Weizenbaum, Joseph: Kurs auf den Eisberg. Die Verantwortung des Einzelnen und die Diktatur
der Technik. München 1987