Einst hatte Biermann gesungen: «So oder so, die Erde wird rot: / Entweder lebenrot oder todrot». Das war 1972, als der Wolf noch hinter der Mauer sass: ein heftiger Kritiker der DDR-Bonzen, aber nichtsdestotrotz ein Kommunist, der an den Sieg des Sozialismus glaubte. Von dieser Position hat der Bänkelsänger längst Abstand genommen. Seine Gründe für einen Seitenwechsel sollen hier nicht weiter interessieren. Spannender ist es, sich noch einmal mit dem erwähnten Lied zu befassen. Der Dichter stellt zwei Begriffe gegenüber: «lebenrot» und «todrot». Aus dem Kontext wird deutlich, dass damit die Konkurrenz der Systeme gemeint ist: «Lebenrot» steht für den Sozialismus und Kommunismus, «todrot» für einen Kapitalismus, der schlimmstenfalls zum Faschismus führen kann. Dabei blendet Biermann allerdings aus, dass auch der Sozialismus eine «todrote» Spur hinter sich gelassen hat, die den Namen «Stalinismus» trägt, aber weit darüber hinausgeht.
Hat uns diese Vergangenheit noch zu interessieren? 100 Jahre nach der Russischen Revolution scheint das Ganze Geschichte geworden zu sein, die am ehesten in museale Gefilde passt. (Dort wird sie auch gerne bestaunt, wie die Ausstellung «1917 Revolution. Russland und die Schweiz» dieses Frühjahr im Schweizerischen Nationalmuseum gezeigt hat.) Ein Problem bleibt allerdings bestehen: Wer den Kapitalismus kritisiert, ihn möglicherweise sogar überwinden möchte, der oder die kommt nicht an der Gretchenfrage vorbei: Wie hältst du es denn mit den untergegangenen oder noch bestehenden Versuchen einer postkapitalistischen Entwicklung, wie es sie in der Sowjetunion gab und heute noch in China oder Nordkorea zu geben scheint? Der aufrechte Linke oder die aufmüpfige Jungsozialistin mag antworten: «Damit hat meine Vorstellung von Sozialismus nicht zu tun!» Trotzdem prägen die Erfahrungen eines gewesenen oder noch bestehenden «real existierenden Sozialismus» mögliche Bilder einer anderen Gesellschaft jenseits des Zwangs zur Profitsteigerung.
Keine Alternative zum Kapitalismus?
Heute macht der Spruch die Runde, viele könnten sie eher ein Ende der Welt als ein Ende des Kapitalismus vorstellen. Die permanente Ausrottung von Pflanzen- und Tierarten, eine ungehemmt voranschreitende Ausbeutung der Naturschätze und die drohende Klimakatastrophe umschreiben ein mögliches Szenario, das gerne verdrängt – oder ins Zynische gewendet wird: Gut, dann lasst uns doch den heutigen Tag geniessen, und nach uns soll die Sintflut kommen. Vielen erscheint die Lage so, als ob es keine angemessenen politischen Instrumente mehr gäbe, die diesen verheerenden Prozess steuern könnten. «There is no alternative», dekretierte einst Margret Thatcher – und dieses TINA-Prinzip beherrscht noch immer das Denken.
Könnte die Lähmung unserer Vorstellungskraft auch etwas mit dem blutigen Erbe des Kommunismus zu tun haben? Diese Überlegung drängt sich dem Leser des umfangreichen Werks von Gerd Koenen auf, das unlängst erschienen ist. Es trägt den Titel «Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus» und führt uns von den Anfängen der Menschheit bis in die unmittelbare Gegenwart hinein. Koenen ist ein deutscher Historiker und kennt sich im Thema bestens aus, denn er war einst im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und später im maoistischen Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) aktiv. Nach der Abkehr von seiner «neoleninistischen» Vergangenheit, wie er schreibt, hat sich Koenen vor allem sehr intensiv mit den deutsch-russischen bzw. deutsch-sowjetischen Beziehungen auseinandergesetzt.
Eine ernüchternde Lektüre
Die gründliche Auseinandersetzung mit dem Buch wirkt für einen der kommunistischen Idee nicht grundsätzlich Abgeneigten deprimierend, weil es noch einmal schonungslos aufzeigt, welchen immens hohen Preis an Menschenleben bisherige Versuche zur Schaffung einer anderen, nachkapitalistischen Gesellschaft gekostet haben. Die Erkenntnis ist keineswegs neu, doch in dieser Gesamtschau ziemlich ernüchternd. Stellt man zudem in Rechnung, dass diese Versuche letztlich bloss Umwege waren, die – wie in Russland zu einem offenkundigen oder in China zu einem kaschierten – Kapitalismus zurückgeführt haben, dann drängt sich die Frage nach dem Sinn solcher gesellschaftlichen Experimente auf.
Gerd Koenen spannt in seinem mehr als 1100 Seiten umfassenden Buch einen Bogen von antiken Ideen eines «Kommunismus», der zurückkehrt zur ursprünglichen Gemeinschaftlichkeit des Menschen, über die Ketzerbewegungen des Mittelalters und die Bauernhaufen der beginnenden Neuzeit, die ein kommunistisches «Reich Christi» aufrichten wollten, bis hin zur Zeit der Revolutionen. Von nun an wird das Paradies nicht mehr in der Vergangenheit, sondern in einer künftigen Gesellschaft gesucht. Koenen befasst sich sehr ausführlich mit Karl Marx und dem von ihm ausgelösten «Momentum». Gemeint damit ist «ein machtvoller intellektueller und politischer Anstoss», der bis heute nachwirkt. In ihm drücke sich ein unerschütterliches Vertrauen in die «Höherentwicklung der Menschengattung» aus, welches das traditionelle Gottvertrauen «weit in den Schatten» stelle, hält der Autor fest.
Widersprüche und Irrwege
Koenen ist es wichtig, solche Überzeugungen nicht als vorgestrig abzutun: Könnte es denn nicht sein, fragt er, dass ein solcher Sprung in der Menschheitsgeschichte sich als notwendig erweist, «um etwa eine Katastrophe abzuwenden und stattdessen die vorhandenen sozialökonomischen Potentiale ins Konstruktive zu wenden?» Im Buch kommt zum Ausdruck, dass Koenen dem kapitalistischen System diese Wendung ins Konstruktive nicht so recht zutraut. Damit wird aber ein grundsätzliches Dilemma deutlich: Was tun, wenn dieses System einer Weiterentwicklung der Menschheit im Weg steht, aber die bislang erprobten Alternativen sich als schreckliche Sackgassen erwiesen haben?
Die Irrwege der Russischen wie der Chinesischen Revolution werden im erwähnten Buch sehr ausführlich beleuchtet. Der Autor versucht, die gesellschaftlichen Prozesse in all ihrer Widersprüchlichkeit zu beleuchten: Die Revolutionen konnten nur siegen, weil ihnen Kriege vorausgingen, aus denen die herrschenden Kreise keinen Ausweg mehr wussten. Die Bolschewiki in Russland und die chinesischen Kommunisten waren die einzigen, welche die Möglichkeit eines geschichtlichen Neuanfangs zu nutzen wussten. Sie konnten sich dabei auf Basisbewegungen stützen – ins Russland insbesondere auf die Räte, die als spontane Organisationsformen der bislang Unterdrückten und Entrechteten entstanden. Um die Herrschaft gegen die alten Mächte sichern zu können, griffen die Bolschewiki unter der Führung Lenins dann aber ihrerseits zu Mitteln der Unterdrückung und Gewalt. Diese sollten im Namen des Proletariats ausgeübt werden, doch die Partei setzte sich letztlich an dessen Stelle. Lenin war sich der damit verbundenen Gefahren bewusst, doch Krankheit und früher Tod verhinderten einen Kurswechsel. Damit wurde der Weg für Stalin frei gemacht, der den Terror gegen die Bauernschaft sowie gegen alle vermeintlichen Verräter innerhalb der Kommunistischen Partei noch einmal verschärfte.
Zukunft Staatskapitalismus?
Der Zweite Weltkrieg bot der Sowjetunion die Chance, sich als die entscheidende Kraft gegen den Hitler-Faschismus zu zeigen und damit neues Ansehen in der Welt zu gewinnen. Viele antikoloniale Bewegungen wurden durch das Beispiel der Sowjetunion inspiriert – dann aber auch durch die Sowjetführung instrumentalisiert. Dagegen setzte sich China unter der Führung von Mao Zedong zur Wehr und ging seinen eigenen Weg. Der Kulturrevolution kann der Ex-Maoist Koenen allerdings nichts mehr abgewinnen. Immerhin muss er feststellen, dass sie Voraussetzungen für die «präzedenzlose Erfolgsgeschichte» geschaffen hat, die dieses Riesenreich seit 30 Jahren durchläuft. Die Frage ist jedoch, ob dies noch etwas mit «Kommunismus» im landläufigen Sinne zu tun hat. Ist dieses Land nicht viel mehr Beweis für die Funktionstüchtigkeit eines Staatskapitalismus, der dem Kapital möglichst viel Spielraum verschafft, aber zugleich dafür sorgt, dass die koordinierende und kontrollierende Macht des Staates aufrecht erhalten bleibt? Sieht also so die Zukunft aus?
Die 1917 begonnene geschichtliche Sequenz des Kommunismus endete mit dem Tod des chinesischen Revolutionsführers 1976, spätestens aber mit der Auflösung der Sowjetunion 1991. Wird es einen «Kommunismus 4.0» (Koenen) à la Xi Jinping geben? Nichts hält der Autor von einem «Neokommunismus», wie ihn Alain Badiou vertritt, dieser «Pariser Spät-Maoist», der den Kommunismus als überhistorische «Idee» zu verteidigen suche. Andere Ansätze einer Erneuerung des kommunistischen Gedankens sucht man bei Koenen vergeblich. So fehlen bei ihm beispielsweise Anknüpfungspunkte zu reformkommunistischen Bewegungen wie seinerzeit der «Prager Frühling» 1967/68, der beim Volk viel Anklang fand und ohne den Eingriff der sowjetischen Panzer möglicherweise eine Ausstrahlungskraft entfaltet hätte, die auch im jugendbewegten Westen auf fruchtbaren Boden gefallen wäre. Die Welt sähe heute vielleicht anders aus …
Beziehungsweisen
Tempi passati? Die in Berlin lebende Autorin und Künstlerin Bini Adamczak würde da wohl widersprechen. Das kommt bereits im Titel ihres neuesten Buchs zum Ausdruck: «Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende». Sie konstatiert die Existenz eines «revolutionäres Begehrens» als Wunsch nach einer besseren Welt, das auch durch gescheiterte Revolutionen nicht zum Schweigen gebracht wird. Dieses Begehren kann sich aber in ein «Begehren nach Revolution» verkehren, in dem das Mittel zum Zweck wird. «Aufstand, Aufruhr, Action» werden dann zum eigentlichen Inhalt. Diese «Fetischisierung der Revolution» bilde ein «konstitutives Merkmal der Sowjetideologie», hält Adamczak fest.
Wie der Buchtitel bereits andeutet, steht die Frage der Beziehungen im Zentrum. Die Autorin kritisiert, dass sich die Bolschewiki nicht an einem gesellschaftlichen Modell der Verknüpfung, sondern der Unterordnung orientierten. Dieses Modell hat dann in die stalinistische Konterrevolution geführt. Solche Erfahrungen entmutigen jene, die eigentlich von einer anderen Welt träumen. Bini Adamczak mutmasst, die Linke sei heute in einem bestimmten Modus gefangen, den Friedrich Nietzsche «Sklavenmoral» nannte – einer «Fixierung auf das übermächtige Gegenüber». Die Linke übe sich in Kritik und Dekonstruktion, sei aber nicht darauf vorbereitet, zu gewinnen. Die Autorin will dagegen die Frage stark machen, wie wir zu einer anderen Welt kommen können. Revolution werde immer noch in erster Linie als Zerstörung begriffen. Dagegen bestehe die wesentliche Aufgabe sozialer Transformation in der «Konstruktion befriedigender Beziehungsweisen». Sie bezieht sich dabei auch auf die Philosophin Hannah Arendt und deren Begriff von Revolution als «kollektiver Freiheit des wiederholbaren demokratischen Neubeginnens»
Es geht um Solidarität
Ein wichtiges Anliegen von Bini Adamczak ist es zu zeigen, dass das revolutionäre Begehren nach solidarischen Weisen menschlicher Beziehungen die «Aufteilung der Welt in ausschliessende Männlichkeit und Weiblichkeit» überschreitet. Während die Russische Revolution die Geschlechterverhältnisse in Richtung einer «universellen Maskulinisierung» veränderte, führte 1968 zu einer «differentiellen Feminisierung». Was damit gemeint ist, lässt sich im Rahmen dieser Besprechung nicht weiter ausführen. Soviel sei nur gesagt: Das von der Autorin weiterentwickelte «Denken in Beziehungen» gibt der politischen Theoriedebatte wichtige Anregungen. Stand in der Revolution 1917 die Gleichheit im Zentrum und 1968 die Freiheit, so wird es in einer kommenden Revolution um die Solidarität gehen – womit der Dreiklang der Französischen Revolution («Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit») seinen Widerhall in unserer Zeit gefunden hätte. Auf das darin steckende «Kommunistische» will die Autorin nicht verzichten. – So bleibt die Hoffnung bestehen, dass wir noch nicht am Ende der Geschichte angelangt sind.
Gerd Koenen: Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus. München: Verlag C.H. Beck 2017, S, 1133 S., Fr. 51.90
Bini Adamczak: Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende. Berlin: Suhrkamp Verlag 2017, 314 S., Fr. 27.90
Zuerst erschienen in: P.S., Zürich, 1. Dezember 2017.