Über die Zürcher Europaallee gibt es nicht viel Gutes zu sagen. Die gigantische Überbauung nahe dem Zürcher Hauptbahnhof wurde schon vielfach als Aufwertungs- und Verdrängungsprojekt kritisiert. Während die Mieten in den umliegenden Wohnhäusern steigen und Marginalisierte verdrängt werden, hat seit Neustem auch der dazugehörige Kulturtempel, der «Kosmos», seine Pforten geöffnet. Er bietet auf mehreren Stockwerken Bühne, Buchhandlung, Kinoräume und eine Bar. Mit linker Rhetorik und Veranstaltungen will man hier dem Bildungsbürgertum Unterhaltung bieten und ihm zugleich Legitimation für den Genuss an der neuen Aufwertungsstätte liefern. Das zweite funktioniert insbesondere mittels einer Reihe von selbstreferentiellen Zeichen, die sich mit dem französischen Philosophen und Soziologen Jean Baudrillard in ihrer Funktionsweise analysieren lassen.
Bei manchen TheoretikerInnen ist man nach den ersten Sätzen begeistert, bei anderen weiss man auch nach mehrmaligem Lesen nicht, was man von ihnen halten soll. Baudrillard gehört zur zweiten Gattung. Immer wieder stösst man bei ihm auf Textstellen, die unklar scheinen, die unscharf argumentieren, willkürlich behaupten oder denen man als MarxistIn mit Abneigung begegnet. So etwa der These, dass das Zeitalter der Simulation das Zeitalter der Produktion abgelöst habe. Zu finden ist dieses Argument sowohl im 1976 erschienen Hauptwerk Der Symbolischen Tausch und der Tod (im Folgenden abgekürzt mit der Sigle STT) als auch im Graffiti-Aufsatz Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen. Aufrechterhalten lässt es sich – selbst radikal medientheoretisch gelesen – nicht. Fast zeitgleich mit der 2011 erschienenen, deutschsprachigen Neuausgabe von Der Symbolischen Tausch starben in Bangladesch und Pakistan hunderte TextilarbeiterInnen bei Fabrikbränden. Mit ihren Produkten für den westlichen Markt haben sie weit mehr als nur Zeichen produziert. Und doch stösst man immer wieder auch auf Beispiele, die Baudrillard recht zu geben scheinen. Der neue Kulturkomplex «Kosmos» in der aufgewerteten Zürcher Europaallee gehört zu diesen Beispielen.
Baudrillard und die drei Ordnungen der Simulakren
In Der Symbolischen Tausch und der Tod formuliert Baudrillard ein historisches Epochenmodell der Simulakren, das als zeichentheoretische Analogie zur Transformation des von Marx herausgearbeiteten Wertgesetzes verstanden werden will. Das Modell ist äusserst voraussetzungsreich und oft schwer nachvollziehbar, da Baudrillard sich beständig weigert, seine theoretischen Prämissen offenzulegen. Dennoch sei im Folgenden zum besseren Verständnis ein kurzer Abriss des Modells gegeben. Dieses behauptet eine Abfolge von drei Phasen des Kapitalismus: Auf die Imitation folgt die Produktion und danach die Simulation, «die durch den Code beherrscht wird» (STT 92). Während die erste Phase durch das Naturgesetz des Wertes und die zweite Ordnung vom Marktgesetz bestimmt wird, konstituiert sich die dritte Ordnung gemäss dem Strukturgesetz des Wertes.
Betrachtet man die feudale Welt, das heisst die Zeit vor den drei Ordnungen der Simulakren, in ihrer Zeichenlogik, dann herrschen darin feste Zuschreibungen. Jedes Zeichen ist einem Status zugeordnet, jede Vermischung wird bestraft. In der Welt der kapitalistischen Konkurrenz und Wertproduktion aber öffnet sich die Zeichenproduktion. Man beginnt die Zeichen auf Nachfrage zu vermehren und verliert zugleich deren festgeschriebene Wechselwirkung. Was bleibt, ist der nostalgische Wunsch nach einer natürlichen Verbindung von Signifikant und Signifikat. Das moderne Zeichen träumt vom vormodernen Zeichen und beginnt zu imitieren. Indem das Zeichen in der Imitation vorgibt, in einer realen Verbindung mit der Welt zu stehen, allerdings nicht mehr über die feudale Ordnung legitimiert wird, sondern über die Vernunft erklärt werden muss, entsteht eine erste Phase der Simulation. Einmal imitiert und dadurch produziert wird das Zeichen schliesslich frei ausgetauscht. «Das Zeichen unterliegt hier demselben Schicksal wie die Arbeit. Der ‹freie› Arbeiter hat nur die Freiheit, Äquivalente zu produzieren – das ‹freie und emanzipierte› Zeichen hat nur die Freiheit, äquivalente Signifikate zu produzieren.» (STT 94)
Mit der industriellen Revolution entstehen neue Gegenstände und Zeichen, die nicht mehr mit der alten Ordnung verknüpft sind. Diese Zeichen müssen nicht mehr imitiert werden, sondern werden massenhaft industriell produziert, ohne noch im Rahmen der alten Ordnung eingepfercht zu sein. Die industrielle Voraussetzung dafür ist die Serienproduktion. Zwischen seriell produzierten Objekten herrscht kein vergleichbares Verhältnis mehr wie zwischen Original und Imitation. Die Serie zeichnet sich aus durch «die Äquivalenz, die Indifferenz» (STT 101). Die ursprüngliche Referenz verschwindet, der Markt und seine Äquivalenz können sich durchsetzen, die Welt nähert sich der «unbegrenzten Reproduzierbarkeit» (STT 102). Doch diese Ordnung hält nur für kurze Dauer. Mit der Ablösung mechanischer Reproduktion stösst die Welt der Serien ins Zeitalter der Modelle vor:
«Jetzt haben wir die Simulakren der dritten Ordnung vor uns. Es gibt keine Imitation des Originals mehr wie in der ersten Ordnung, aber auch keine reine Serie mehr wie in der zweiten Ordnung: Es gibt Modelle, aus denen alle Formen durch eine leichte Modulation von Differenzen hervorgehen. Nur die Zugehörigkeit zum Modell ergibt einen Sinn, nichts geht mehr einem Ziel entsprechend vor, alles geht aus dem Modell hervor, dem Referenz-Signifikanten, auf den sich alles bezieht, der eine Art von vorweggenommener Finalität und die einzige Wahrscheinlichkeit hat.» (STT 103)
Wenn die Modulation der dominante Modus der letzten herrschenden Ordnung geworden ist, dann ist auch das Marktgesetz aufgehoben. Es geht nicht mehr um Äquivalente, sondern um «distinktive Gegensätze» (STT 104). Entscheidend dabei ist Baudrillards Begriff des «Referenz-Signifikants». Dieser meint, so Georg Jäger, die doppelte Bezugnahme des Zeichens im Zeitalter der Simulation: «Das Zeichen [...] referenzialisiert auf das Modell und wird von diesem signifiziert. In der Semiose nimmt somit das Modell die Stelle der Realität ein.»[1] Die Kopie wird zum Original, die Hyperrealität zur Lebensrealität der Gesellschaft.
Es gibt gute Gründe, etliche der bei Baudrillard angelegten Prämissen zu verwerfen oder zumindest kritisch zu hinterfragen. Einige Gedanken scheinen aber für das Verständnis des zeitgenössischen Kapitalismus durchaus interessant, etwa die Argumente über den Referenz-Signifikanten. Im Zeitalter der Simulation gibt es, so Baudrillard, keine Realität mehr. «Die Verdoppelung des Zeichens macht dem, was es bezeichnet, ein Ende.» (STT 130f.) Unter diesem Ende versteht Baudrillard – er erläutert anhand des Beispiels der Twin Towers (ehemaliges World Trade Center in New York) –, dass die Verdoppelung dazu führen kann, dass dem Zeichen jede ursprüngliche Referenz verloren geht. Die Twin Towers verweisen in ihrem ökonomischen Kontext der nachindustriellen Produktion in einem Zirkelschluss nur noch auf sich selbst und damit auf die Macht der Zeichen jenseits der industriellen Produktion. Diese These ist angesichts der militärischen und wirtschaftlichen Macht des imperialistischen Zentrums fragwürdig, erklärt aber durchaus einen Teil der Symbolträchtigkeit der Angriffe auf die beiden Türme. In anderen Fällen scheint Baudrillards Gedanke noch zutreffender. Werbung beispielsweise funktioniert grösstenteils so, wie Baudrillard die Simulation beschreibt. Sie erweckt Konsumbegehren, indem sie Bedeutung durch eine Referenz auf sich selbst generiert.
Kosmische Zeichen
Doch was hat all dies mit dem «Kosmos» zu tun? Der «Kosmos» ist nichts anderes als eine linke Ordnung der Simulation. Erst säubert man den Ort von allen Elementen der Produktion, indem man die Elemente des ehemaligen ArbeiterInnen- und Rotlichtquartiers nach und nach verdrängt, um sich dann seinen eigenen, zeitlosen, dafür umso ereignishafteren «Kosmos» zu modellieren. Doch was ist der «Kosmos»überhaupt? Er ist ein Ort des freien Austauschs, der reinen Fantasie. Das suggeriert zumindest die hauseigene PR-Abteilung. «Der Ort, wo der Wein gelesen, im Kaffee geschmökert und das Buch getrunken wird.» So wird in kosmischer Sprache auch der dazugehörige Buchladen angepriesen. Von einem «hybriden Konzept», einem «intensiven und niederschwelligen Ort der Begegnung und des gesellschaftlichen Diskurses», von einem «Denken in Ambivalenzen [...] an einem Ort der Ambivalenzen», von einer «Gratwanderung, auch zwischen Idealismus und Kapitalismus» spricht Mitgründer Bruno Deckert in einer freien Zeichenassoziation, der keine Bedeutung abseits der Referenz auf den eigenen, ganz speziellen Kosmos zugrunde liegt.[2]
Tatsächlich ist der «Kosmos» Ort modernster Zeichenproduktion geworden. In seiner Gegenwart wird selbst die Zeit modelliert, beispielsweise die Vergangenheit, die nunmehr aus einer Referenz auf sich selbst entsteht. Bruno Deckerts Dissertation über die organisationstheoretischen Hintergründe des Kulturtempels trägt den Titel «Die Entdeckung des Kosmos». Es scheint ganz so, als treffe man am Ende der Europaallee auf ein fremdes Objekt, dessen Geschichte eine grosse Leere ist, bis die Vergangenheit mit Inhalt gefüllt wird. Erst dadurch kann es überhaupt zur Debatte kommen, ob man Feigenblatt der Gentrifizierung oder gar deren Gegnerin sei, wie man es vor kurzem an einer öffentlichen Veranstaltung im «Kosmos» diskutierte. Es entsteht der Eindruck, als ob es plötzlich Teil eines Aushandlungsprozesses wäre, dass der neue Kulturpalast ein in Beton gegossenen Ausdruck der Aufwertung ist oder dass man auch nur irgendwie ein organisch gewachsenes Produkt der linken Bewegung sein könnte.
Zur historischen Klärung: Der «Kosmos» war von Anfang an als Teil der Europaalleegeplant. Der «Tages-Anzeiger» wusste schon vor zwei Jahren, dass der «Kosmos» als Schnittstelle zwischen den tristen Blöcken der Aufwertungsallee und der lebendigen Langstrasse dienen sollte.[3] Bruno Deckert schlug das Projekt der Bauherrin SBB vor, Samir seinerseits schlug Deckert eine Partnerschaft vor. Geboren war der «Kosmos», nicht als kritisches Projekt, nicht als Kompromiss eines verdrängten Objekts, nicht als linkes Projekt, sondern als kulturindustrieller Konsumtempel, die Hälfte der rund 16 Millionen Franken Baukosten vorfinanziert durch die SBB.
Doch ein Teil der Linken, insbesondere deren akademischer Flügel, fällt ohne zu Zögern auf die simulierte Traumwelt des neuen Kulturprojekts herein. Man organisiert einen feministischen Salon (Franziska Schutzbach), man diskutiert über die postmigrantische Gesellschaft («Institut Neue Schweiz»), man spricht über Geschichte («Geschichte der Gegenwart»), man nimmt an Podien zur Rolle der Aufwertung teil (Christian Schmid) oder aber man ist dort, wo man sowieso hingehört («Project R»). Wie in einem glänzenden Warenregal greift man zu, sobald man irgendwo goldig modellierte Zeichen seiner selbst erblickt. Kaffee, «Greater Arthouse» und ein bisschen Berlin? Das ist unser Ding, hier fühlen wir uns wohl, hier wollen wir politisch arbeiten! Kultur wird zum Konsumartikel, dessen widerspenstige Haltung nur noch zeichenhaft existiert.[4] So geht Widerstand im «Kosmos» auf, indem man ihn real verdrängt, um ihn danach als simulierten Bestandteil rückintegriert als linkes Image zu präsentieren. Plötzlich funktioniert Widerstand im «Kosmos» ganz im Sinne des Referenz-Signifikants. Widerständig ist das, was aus dem kosmischen Modell hervorgebracht wird und zugleich nur von diesem gewährleistet werden kann: flüchtige Weltallästhetik, freischwebende Sprachpartikel, Entschleunigungsvisionen oder eben der «niederschwellige Ort der Begegnung und des gesellschaftlichen Diskurses».
Dass all das keine Verbindung zum noch immer existierenden Realen hat – oder alltagssprachlich gesprochen: dass all das blanker Nonsens ist –, oder dass der zitierte Satz von Bruno Deckert einem Sprachgenerator entspringen muss, der willkürlich Wörter postmoderner Populärwissenschaft grammatikalisch richtig anordnet, widerspricht den bisherigen Befunden nicht, sondern ist vielmehr deren Beweis. Sinn entsteht im «Kosmos» aus sich selbst, Kultur ist ein hyperreales Zeichen, konstituiert durch leichte Modulation von Differenzen, wie es der flüchtige «Kosmos» in seiner Eigenbewegung – manifest geworden in hybriden Räumen – ständig von Neuem hervorbringt.
Der Kulturtempel und seine Propheten
Doch wie es die kosmische Ordnung so will, kann man sich selbst darin dem nostalgischen Wunsch nach fester Referenz nicht entziehen. Und wer, wenn nicht die Propheten selbst, sollen in einem Kulturtempel die Zeichen wieder bändigen? Die beiden «Kosmos»-Gründer und «Spiritus Rector», wie Bruno Deckert und Samir auf der Website tatsächlich genannt werden, werden zum Label, zum letzten Referenzpunkt der kosmischen Unendlichkeit. «Die Europaallee spaltet die Gemüter, der KOSMOS steckt mittendrin, und die Kosmonauten reden nicht drumherum.» («Kosmos»-Veranstaltung: «Kosmos: Feigenblatt der Gentrifizierung?») Die beiden Propheten liefern Erklärungen in einer Welt, die keine Klärung mehr kennt. Sie erst ermöglichen den Schritt zu einer angeblich aufklärerischen Kritik, freilich in Negation dessen, dass diese Kritik erst der regressiven Säuberung des Quartieres bedurfte. Samir und Deckert reden nicht drumherum, sie reden, modellieren Zeichen und schaffen damit überhaupt erst den Rahmen, den sie in ihrer kosmischen Simulation anzusprechen gedenken. So nennt Samir das Verhältnis von Aufwertung und «Kosmos» einen Widerspruch, mit dem man zu leben habe. Und was sagt die akademische Linke dazu? Plötzlich spricht man von Aufwertung als einem «Dilemma», dessen problematischen Zwängen man sich nicht unterwerfen wolle, weshalb man entsprechend das Angebot annehme (Franziska Schutzbach und ihr feministischer Salon auf Facebook). Geschichte und Widersprüche sind das, was die kosmische Simulation als solche anerkennt. Vergangenheit und Zukunft sind subsumierte Zustände kosmischer Unendlichkeit. «Samir im Gespräch mit Geschichte der Gegenwart» («Kosmos»-Veranstaltung: «1977») heisst die letzte bisher angekündigte Veranstaltung in diesem Jahr. Geht es nach der simulierten Traumwelt des «Kosmos», dann sind die beiden Propheten längst schon zum personifizierten Ausdruck einer Geschichte der endlos simulierten Gegenwart geworden.
Fussnoten
[1]Jäger, Georg: Liebe als Medienrealität. Eine semiotische Problemexplikation, in: Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Literaturwissenschaft und Systemtheorie: Positionen, Kontroversen, Perspektiven, Opladen 2013, S. 55.
[2] Bühler, Urs (31.8.2017): «Wir glauben, dass das Buch wie auch das Kino überleben werden» (Url: https://www.nzz.ch/zuerich/neues-kulturhaus-kosmos-wir-glauben-dass-das-buch-wie-auch-das-kino-ueberleben-werden-ld.1313585 Abrufdatum: 08.09.2017)
[3] Marquard, Denise (19.06.2015): Filmer und Barbetreiber planen Kulturzentrum an der Europaallee (Url: https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/stadt/Filmer-und-Barbetreiber-planen-Kulturzentrum-an-der-Europaallee/story/16178160 Abrufdatum: 08.09.2017)
[4] Diesen Mechanismus beschrieb Baudrillard auch in seiner Dissertation Das System der Dinge, in der er die Zeichen der Waren der Konsumgesellschaft analysiert.
Bibliographie
Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod. Berlin 2011.
Baudrillard, Jean: Kool Killer, oder, Der Aufstand der Zeichen. Berlin 1978.
Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. Frankfurt am Main 2007.
Bühler, Urs (31.8.2017): «Wir glauben, dass das Buch wie auch das Kino überleben werden» (Url: https://www.nzz.ch/zuerich/neues-kulturhaus-kosmos-wir-glauben-dass-das-buch-wie-auch-das-kino-ueberleben-werden-ld.1313585 Abrufdatum: 08.09.2017)
Marquard, Denise (19.06.2015): Filmer und Barbetreiber planen Kulturzentrum an der Europaallee (Url: https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/stadt/Filmer-und-Barbetreiber-planen-Kulturzentrum-an-der-Europaallee/story/16178160 Abrufdatum: 08.09.2017)
Jäger, Georg: Liebe als Medienrealität. Eine semiotische Problemexplikation, in: Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Literaturwissenschaft und Systemtheorie: Positionen, Kontroversen, Perspektiven, Opladen 1993, S. 44–65.