Tuvia Tenenbom hält seinen Mitmenschen gerne den Spiegel vor. Er selbst blickt aber nicht so gern hinein. -
Tuvia Tenenbom, Publizist, Autor und Regisseur an dem von ihm gegründeten Jewish Theater New York, liebt Provokationen. In Deutschland ist er durch seine publizistischen Arbeiten, unter anderem sein Buch „Allein unter Deutschen“, aber auch durch seine unkonventionelle Art, auf Menschen zuzugehen, bekannt geworden. So zeigte er im Januar 2012 in Magdeburg den Hitlergruss, um mit demonstrierenden Nazis ins Gespräch zu kommen, was ein Strafverfahren zur Folge hatte. Erst als die Behörden merkten, dass es sich keineswegs um ein ernst gemeintes Propagandadelikt handeln kann, stellten sie das Verfahren ein. Beim Rowohlt-Verlag, der ihn ursprünglich mit einer Reportage über die deutschen Alltagskulturen beauftragt hatte, eckte er mit seinem Manuskript an, sodass dieses schliesslich 2012 bei Suhrkamp erschein. Der Erfolg gab Verlag und Autor recht: In der Folge erschienen die Bücher „Allein unter Amerikanern“ (2014), „Allein unter Juden“ (2016) und schliesslich 2017 „Allein unter Flüchtlingen“. Mit einer Reihe von Beiträgen in der „Zeit“ – teilweise handelte es sich um Fragmente aus seinen Büchern – sowie zahlreichen Interviews wurde er einem breiten Publikum in Deutschland bekannt.
Tenenboms Methode ist von bestechender Einfachheit: Sie gleicht der eines Ethnologen, der den merkwürdigen Sitten und Gebräuchen der Alltagskultur auf den Grund geht und die Menschen freundlich und unvoreingenommen nach ihren Meinungen und Motiven befragt. Es geht ihm in erster Linie darum, die Positionen seiner Gesprächspartner zu erheben und zu verstehen, ohne mit einer Bewertung sofort zur Hand zu sein. Gleichzeitig konfrontiert er seine Gesprächspartner mit ihren eigenen Aussagen und provoziert damit Irritationen und Widerspruch. Mit seinen immanenten Nachfragen fördert er ihre inneren Antagonismen zu Tage und zeigt die Menschen, wie sie sind, nicht wie sie sein oder sich darstellen wollen. Dass viele seiner Gesprächspartner sich dabei selbst blossstellen, ist mitunter eine Folge, keinesfalls jedoch zwingendes Ergebnis dieses Verfahrens.
Diese Methode ist kein Selbstzweck, Tenenbom ist ein klassischer Vertreter der freedom of speech: Die freie Meinungsäusserung, die offene Auseinandersetzung ist für ihn geradezu die Essenz der Demokratie, die Unterdrückung einer Meinungsäusserung unabhängig von deren Inhalt unter keinen Umständen zulässig. Diese radikal-liberale Position ist durchaus repräsentativ für die politische Kultur der USA und zieht sich bis in die Urteilssprüche der obersten Gerichtshöfe. Der freie Widerstreit der Meinungen ist dabei gleichsam das notwendige Medium und die notwendige Voraussetzung dafür, dass die von verschiedenen Interessengruppen vernebelte Wahrheit zu Tage treten und sich der tatsächliche Mehrheitswille durchsetzen kann. In „Allein unter Deutschen“ beschreibt Tenenbom anhand einer Flasche Schnaps, die mit Goldpartikeln versetzt ist, seine Intention: „Wenn man die Flasche ein bisschen schüttelt, dann steigt das Gold auf und erstrahlt in vollem Glanz. Wenn man das Vaterland ein bisschen schüttelt, dann steigt ja vielleicht auch sein Gold auf.“ Und an anderer Stelle betont er: „Demokratie bedeutet letztlich: Die Mehrheit legt die Regeln fest. Wenn die Mehrheit ihre Macht missbraucht, entscheidet das oberste Gericht gegen sie. So läuft das.“[1]
Tenenbom nähert sich der deutschen Gesellschaft bewusst von ihren politischen Rändern, aber auch von ihrer alltäglichen Unterseite, um sich ein Bild von ihr zu machen. Das führt durchaus zu Irritationen, etwa wenn in „Allein unter Deutschen“ der Besitzer des „Clubs 88“ in Neumünster sich als zuvorkommender und aufmerksamer Gastgeber erweist, während er dem vermeintlich deutschstämmigen Gast aus den USA die jüdische Weltverschwörung erläutert. Tenenboms Hauptgegner ist allerdings weniger der offene Antisemitismus völkischer Ideologen, sondern die Verlogenheit und Selbstgerechtigkeit des liberalen Mainstreams. Deutlich wird das in „Allein unter Flüchtlingen“, das sich zum Ziel gesetzt hat, das positiven Selbstbild vieler Linksliberaler in Deutschland zu dekonstruieren und in Zusammenhang mit der untergründig unbewältigten Vergangenheit zu setzen.
Seine Gespräche in zahlreichen Flüchtlingsunterkünften machen sehr schnell deutlich, dass in Deutschland Flüchtlinge seitens der Behörden keinesfalls besser behandelt werden als anderswo. Aber auch Verfechter der „Willkommenskultur“ werden anhand ihrer eigenen Aussagen ihrer verborgenen Motive überführt. Auf die Frage, warum die Deutschen mehr Flüchtlinge als andere Länder aufgenommen haben, erklärt ihm ein Mann namens Eike, das habe historische Gründe. Tenenbom kommentiert: „Wenn die Deutschen nicht all diese Flüchtlinge reinliessen, würde man überall sagen, die Deutschen sind Nazis. Ich habe das ‘Geschichtsargument’ in der einen oder anderen Variante nun schon oft gehört, heute geht mir endlich ein Licht auf. Die Deutschen nehmen mehr Flüchtlinge auf als alle anderen europäischen Länder, weil sie von der Weltbevölkerung geliebt werden wollen.“ Tenenbom konfrontiert nun seine Gesprächspartner – unter anderem Studierende in München – mit der Frage: „Wenn die deutsche Flüchtlingspolitik aus der Angst geboren ist, als Nazis tituliert zu werden, dann ist Deutschland doch nicht ‘besser’, sondern lediglich ängstlicher als alle anderen Länder. Finden Sie nicht?“ Die Reaktionen bestehen darin, Tenenbom als Juden zu identifizieren und Israel als “aggressiven” und “unmenschlichen” Staat zu bezeichnen. „Kurz gesagt: Die Israelis, das heisst die Juden, sind unmenschlich, und die Deutschen sind Engel. Ich überlasse die beiden Judenhasser sich selbst.“
Dass Tenenboms sich vorrangig an der Oberfläche moralisch aufgeladener Selbstbilder abarbeitet, macht gleichzeitig die Stärke und Schwäche seiner Methode aus. Denn sobald er diese Ebene verlässt, machen sich die analytischen Mängel seines Ansatzes bemerkbar, wie etwa an seiner Kritik an der deutsche Bundesregierung deutlich wird. Seit Trumps Wahlsieg, so Tenenbom, fühle sich Deutschland den USA moralisch überlegen, „mit Merkel an der Spitze“.[2] Faktisch schiebe die deutsche Regierung aber die Schmutzarbeit der Flüchtlingsabwehr Staaten wie der Türkei zu. So zutreffend diese Beobachtung im Allgemeinen ist, so problematisch ist die implizite Reproduktion des im rechten Mainstream weit verbreiteten Mythos, die Bundesregierung habe im Sommer 2015 eine Politik der Grenzöffnung betrieben oder gar die Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien nach Deutschland eingeladen. Davon kann keine Rede sein; das Ziel einer Kontrolle und Verhinderung von Migration in die EU und damit auch nach Deutschland stellt eine Konstante deutscher Regierungspolitik dar, wie Tenenbom an anderer Stelle hervorhebt. Als die Flüchtlinge sich im Spätsommer 2015 über alle Grenzen hinwegsetzten, stand die Bundesregierung vor einem Dilemma: Hätte sie die Bundesgrenze geschlossen, wäre damit auch der freie Warenverkehr in Europa beseitigt worden. Stattdessen hielt sie die Grenzen für den Warenverkehr offen, akzeptierte die dadurch mögliche Zuwanderung mehrerer hunderttausend Menschen und restaurierte stattdessen das europäische Grenzregime. Bei Tenenbom wird jedoch der politisch-moralische Mehrwehrt, den die Regierung Merkel aus der „Flüchtlingskrise“ ziehen konnte, von der Begleiterscheinung zur Hauptsache. Dass zielt insofern konsequent an der Sache vorbei, als es ihm weniger um die Analyse derartiger Prozesse als um den Nachweis politischer Doppelmoral bei den Vertretern der „Willkommenskultur“ geht.
Problematischer ist dagegen Tenenboms implizite Gleichsetzung von rechts und links, wenn er einerseits sich etwa von Götz Kubitschek, dem Exponenten der neuvölkischen Bewegung, einladen lässt, und sich dadurch legitimiert sieht, dass er auch mit Vertretern der demokratischen Linken wie Gregor Gysi Gespräche führt oder auf Veranstaltungen der Rosa-Lusemburg-Stiftung auftritt. Auf der formalen Ebene ist dieses Argument stimmig – Meinung ist Meinung. Genau darin liegt jedoch das inhaltliche Problem: Tenenboms Position lässt sich nur durchhalten, wenn man von den Voraussetzungen und Folgen der Meinungsfreiheit abstrahiert. Eine Meinung muss man sich jedoch 615-544-9656 , das weiss jeder abhängig Beschäftigte und jeder Freiberufler, der schon einmal seinen Vorgesetzten bzw. seinen Auftraggeber kritisiert hat, leisten können. So beklagt Tenenbom dann inkonsequenter Weise, dass Random House den Vertrag mit Akif Pirinçci nach dessen Äusserungen auf einer Pegida-Demonstration gekündigt habe.[3] Der freie Markt, gegen den Tenenbom ansonsten nichts einzuwenden hat, erlaubt durchaus jedem Verlagshaus, zu entscheiden, wen es verlegt und wen nicht. Ebenso lässt sich gegen die zweifelsohne mehr als fragwürdige Kampagne gegen Pirinçci eine Menge einwenden, kaum jedoch vom Standpunkt der freien Meinungsäusserung. Denn ungerechtfertigte Polemiken und Diffamierungen sind durchaus durch das abstrakte Prinzip der Meinungsfreiheit gedeckt und stellen keineswegs einen Verstoss gegen sie dar. Dass sich Tenenbom dennoch für den rassistischen Schriftsteller und Agitator einsetzt, lässt tief blicken: Es geht ihm nämlich keinesfalls vorrangig darum, die Meinungsfreiheit zu verteidigen und schon gar nicht um die Möglichkeiten von sozial und wirtschaftlich Abhängigen, sich am Meinungsstreit zu beteiligen, sondern darum, den liberalen Mainstream zu denunzieren. Dafür gibt es gute Gründe, nur hat das mit der Meinungsfreiheit nichts zu tun, die in erster Linie ein Abwehrrecht gegenüber den Staat ist. Im Übrigen hat Pirinçci auf eine Klage gegen Random House wohlweisslich verzichtet und in Götz Kubitscheks Antaios-Verlag eine neue publizistische Heimat gefunden.
Dass Tenenbom die Meinungsfreiheit nicht in allen Fällen heilig ist, zeigt seine Positionierung gegenüber Organisationen der israelischen Linken wie B’Tselem oder Yesh-Gvul, die er als eine Art fünfter Kolonne des Berliner Aussenministeriums betrachtet. Und das Recht auf Gewissensfreiheit und Kriegsdienstverweigerung zählt Tenenbom offenbar auch nicht zu den demokratischen Rechten. Für das Recht auf freie Meinungsäusserung und Gewissensfreiheit sind aber gerade die autoritären, nach Befehl und Gehorsam strukturierten Organisationen wie die Armee die Nagelprobe der Demokratie, nicht die wirtschaftlichen Interessen eines gutverdienenden Autors von Katzenkrimis. Wie sich eine Position des „right or wrong – my country“ mit der unbedingten Forderung nach Meinungsfreiheit vereinbaren lässt, bleibt Tenenboms Geheimnis.
Die untergründige Sympathie Tenenboms für die subjektive Ehrlichkeit der völkischen Rechten und ihre Pöbeleien gegen das liberale Establishment lässt Tenenbom weitgehend blind gegenüber deren Vereinnahmungsstrategien werden. Denn für Leute wie Götz Kubitschek ist es eine grosser Erfolg, einen bekannten und obendrein jüdischen Autoren auf Veranstaltungen präsentieren zu können, während bekannte Antifaschisten oder Vertreter der „Systempresse“ ausgeschlossen bleiben. Ganz absurd wird es dann, wenn er Kubitschek einen „netten Kerl“ nennt, ohne ihn befragt zu haben, wie er es denn findet, dass wöchentlich Flüchtlingswohnheime von Gesinnungsgenossen angezündet werden. Verhält man sich so gegenüber Leuten, die einen ansonsten für eine „Wucherung am deutschen Volkskörper“ halten? Kubitscheks Behauptung, er beziehe sich positiv auf den 20. Juli, nimmt er ihm ohne weiteres ab, ohne ihn danach zu fragen, ob sein Volksgenosse Björn Höcke nicht mit seiner Aussage recht habe, dass nach 70 Jahren die „neurotische Phase“ in Deutschland überwunden werden müsse. Judenhass oder gar Antisemitismus scheint er der völkischen Rechten offenbar nicht recht zuzutrauen.
Tenenboms Stärke liegt darin, mit seinen Provokationen Selbstwahrnehmungen zu dekonstruieren und Irritationen auszulösen. Dass ihm dabei vor lauter Kritik an den deutschen Gutmenschen der analytische Faden abhanden kommt, ist bedauerlich. Es macht den Charme seiner Positionen aus, dass sie quer zu den Debatten in Deutschland liegen. Hierzulande ist er durchaus ein Mittel gegen den um sich greifenden Konformismus, auch wenn seine Sympathien für „Freigeister“ wie Akif Pirinçci oder Lutz Bachmann kaum geeignet sind, diesem Phänomen auf den Grund zu gehen. Die Debatte über die Meinungsfreiheit wird nämlich erst dort interessant, wo antagonistische Positionen aufeinander treffen: In der an inhaltliche Argumente und formale Regeln gebundenen Austragung von Macht- und Herrschaftskonflikten zeigt sich die Essenz von Meinungsfreiheit und Demokratie. C. Wright Mills oder Noam Chomsky haben gezeigt, dass ein ein fairer Wettstreit der Meinungen in der liberalkapitalistischen Gesellschaft die Ausnahme und nicht die Regel ist. Dieser realen Ungleichheit formal gleicher Positionen im Meinungskampf ist nicht ohne weiteres beizukommen. Sie aber einerseits auszublenden und andererseits anzuprangern, trägt zur Kritik der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihrer verlogenen Selbstgerechtigkeit wenig bei. Indem er sich auf einen abstrakt radikal-liberalen Standpunkt zurückzieht, ist Tenenboms Grundposition mehr ein Symptom der Krise denn ein Beitrag zu ihrer Überwindung.
[2] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-12/angela-merkel-donald-trump-werte-moral-ueberlegenheit
[3] http://www.spiegel.de/kultur/literatur/tuvia-tenenbom-allein-unter-fluechtlingen-interview-zu-seinem-neuen-buch-a-1140837.html