Ist Europa noch zu retten? Gibts Alternativen zum neoliberalen Kurs der Europäischen Union? Wie können wir neue Formen demokratischer Mitgestaltung entwickeln? Ein paar Fragen und Antworten zum Europakongress der WOZ am 8./9. September in Zürich.
Warum sollen wir hier und heute über Europa diskutieren?
Europa ist gegenwärtig in aller Munde und zugleich ein Tabu. In Frankreich hat das europafreundliche Programm von Emmanuel Macron diesem mit zur Präsidentschaft verholfen, oder seine Kampagne zumindest nicht behindert. In London starrt alles gebannt auf die Tragikomödie des Brexit. In Deutschland schwebt die «Flüchtlingskrise» als Menetekel über den Parlamentswahlen. Gegen den islamistischen Terrorismus werden vage «europäische Werte» beschworen. In der Schweiz bedient die SVP entsprechende Ressentiments für ihre fremdenfeindliche Agenda.
Allerdings ist unbestreitbar: Die EU steckt in einer tiefen Krise. Grossbritannien sucht den Austritt, Polen und Ungarn provozieren mit antidemokratischen Massnahmen. Nationalstaatliches Denken erlebt ein Comeback.
Gerade in dieser Situation darf man die Diskussion nicht den rechtsbürgerlichen Kreisen überlassen. Auf der Linken begnügen wir uns mit technokratischen Hilfskonstrukten oder moralischen Appellen. Dabei braucht es eine genaue, vorurteilsfreie Analyse und positive Ideen. Man muss sich der Chancen und Möglichkeiten gesellschaftlichen Fortschritts jenseits des Nationalstaats vergewissern. Welche Rolle kann die EU spielen, oder braucht es ein europäisches Leben jenseits von ihr?
Der deutsche Soziologe Wolfgang Streeck, ein scharfer Kapitalismuskritiker, sieht das Heil umgekehrt gerade wieder im Nationalstaat. Nur in einem beschränkten, homogenen Raum sei Demokratie möglich, hat er kürzlich in der «NZZamSonntag» verkündet.[1]
Die demokratische Mitbestimmung wird nicht in erster Linie durch die Brüsseler Bürokratie unterhöhlt, sondern durch das globale Weltwirtschafts- und Finanzsystem mit seinem autonomen Schiedsgerichtsmechanismus, und sie steht auf dem Prüfstand angesichts der globalen Herausforderung durch den Klimawandel. Durch den Rückzug auf den Nationalstaat verabschiedet sich Streeck aus einer wirkungsmächtigen und zukunftsgerichteten Debatte. Und die «Homogenität» einer Nation ist sowieso ein gefährliches Konstrukt.
Aber die neoliberale Wirtschaftspolitik der EU hat viele Menschen vor allem in Südeuropa verarmen lassen.
Ja, das ist ein Skandal. Was wäre dagegen die Alternative? «DiEM25» hält im Vorschlag für einen europäischen New Deal[2] daran fest, dass ein Zerbrechen der EU noch gravierendere Konsequenzen bis hin zum Durchbruch faschistischer Strömungen hätte. Es brauche in einem ersten Schritt eine europaweite Stabilisierung, gerade um die nationalen Ungleichheiten ausgleichen zu können.
Doch was sollen wir von der einstigen Hoffnungsträgerin, der jetzigen griechischen Regierungspartei Syriza halten: geschmeidige Mimikry zur Rettung einiger sozialstaatlicher Massnahmen oder Totalunterwerfung zugunsten des Staatschuldenabbaus?
Da gilt es genau hinzuschauen. Auf einem Podium zur Ökonomie tritt zum Beispiel James K. Galbraith auf, der zusammen mit Yanis Varoufakis einst den «Bescheidenen Vorschlag zur Lösung der Eurokrise» vorgelegt hat und die Debatte darum weiterhin intensiv verfolgt.
Können notwendige Reformen innerhalb der undemokratischen EU-Strukturen verwirklicht werden?
Emmanuel Macron hat entsprechende Vorschläge für eine Neufundierung, eine Neugründung der EU gemacht und sucht dafür Zustimmung mit einer Charmeoffensive in Berlin.
Innenpolitisch treibt Macron gegenwärtig den neoliberalen Umbau mit seiner Arbeitsmarktreform voran. Ist von ihm europapolitisch tatsächlich etwas anderes zu erwarten?
Nun, ein so unermüdlicher Verfechter der direkten Demokratie wie Andreas Gross setzt einige Hoffnungen auf ihn.[3] Er hält ihm zugute, dass er eine dreifache Reform vorantreiben will zur Stärkung von Freiheit und mehr Gerechtigkeit. So verlangt Macron zum Beispiel, dass die Euro-Finanzminister ihre Macht einer parlamentarischen Versammlung aus Mitgliedern der nationalen Parlamente der Euro-Länder übergeben.
Würden in einem solchen Gremium die deutschen Interessen nicht weiterhin über, sagen wir, die griechischen obsiegen?
Zumindest wären die unterschiedlichen Interessen angemessener vertreten. Die Meinung Deutschlands zum Beispiel könnte nicht gegen die Majorität der anderen Länder zum Monopol werden. Im Übrigen muss man der EU einiges Geschick bei der Entwicklung von Formen zugute halten, die, jenseits der zentralisierten Kommission, vielfältige Interessen austarieren. In diesem Zusammenhang zitiere ich gerne den grossen Europaverfechter Jürgen Habermas, der der EU eine beträchtliche «innovative rechtschöpferische Fantasie» zubilligt.[4]
Die deutsche Politologin Ulrike Guérot schlägt die Schaffung einer einheitlichen Staatsbürgerschaft in einer europäischen Republik vor.[5]
Das ist ein eleganter, sauberer Ansatz. Auf politischer Ebene. So wie sie ihn bislang konkret ausgestaltet, wirkt er allerdings arg zentralistisch. In dieser Republik scheint kein Platz vorge3sehen für neue direktdemokratische Formen.
Äussert sich im Vertrauen auf solche institutionellen Reformen also die alte linksliberale Staatsgläubigkeit?
Selbstverständlich braucht es eine Vielfalt der Reformanstrengungen und Kampfformen, und selbstverständlich braucht es eine Arbeitsteilung zwischen diesen. Basisbewegungen haben durchaus Erfolge vorzuweisen. Die Anti-TTIP-Kampagne zum Beispiel hat dieses verheerende Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA massgeblich verzögert, noch bevor Donald Trump die USA isolationistisch vom Verhandlungstisch entfernt hat. Die Kampagne hat dabei ursprünglich auf die innerhalb der EU eingeführte Europäische BürgerInneninitiative gesetzt und diese dann in eine breitere ausserparlamentarische Kampagne überführt. Dazu gibt es an der Tagung einen Workshop mit Alexandra Strickner von attac Österreich.
Muss solcher Widerstand nicht weiter gehen, über punktuelle Kampagnen hinaus, und sich mit strukturellen Fragen beschäftigen?
Dazu gibt es interessante Ansätze. Die Stadt Barcelona zum Beispiel erprobt eigene Instrumente wie das so genannte Schulden-Audit, das der bisherigen Schuldenbewirtschaftung der EU diametral entgegengesetzt ist. Und Londons neuer Bürgermeister Sadiq Khan versucht, den Brexit zu umgehen, indem er einerseits direkt in Brüssel vorstellig wird und andererseits die Zusammenarbeit mit anderen europäischen Metropolen sucht.
Apropos Brexit: Die damalige Abstimmung hat ja ein linkes Dilemma offenbart. Labour-Chef Jeremy Corbin konnte sich, zu Recht, nicht bedingungslos für die EU einsetzen. Damit hat er einen Teil der Arbeiterklasse den xenophoben Gefühlen und Demagogen überlassen.
Jetzt hat Labour meines Erachtens einen Erfolg versprechenden Ansatz gefunden. Man plant nach dem formalen Austritt aus der EU einen Übergangsprozess ein, in dem Grossbritannien weiterhin zum EU-Markt gehört und die Personenfreizügigkeit gilt, bei gleichzeitiger Aushandlung von verbesserten flankierenden Massnahmen. Was im Übrigen auch die Möglichkeit eröffnet, die Verhandlungsresultate nochmals einem demokratischen Referendum zu unterstellen, ohne damit die erste Abstimmung zu desavouieren.
Bewegungsfreiheit für Lohnarbeit innerhalb der EU wird doch durch kapitalistische Ausbeutungsinteressen gesteuert.
Ja und nein. Beat Ringger vom Denknetz weist darauf hin, dass die Personenfreizügigkeit auch ein grundsätzliches Freiheitsrecht fürs Volk ist, das die Linke verteidigen sollte.[6] Dabei müssen Freiheitsrechte immer mit Schutzbestimmungen und sozialen Rechten verknüpft sein.
Der bilaterale Weg der Schweiz als Vorbild?
Kommt drauf an, wie man ihn auslegt. NZZ-Chefredaktor Eric Gujer rechnet auf seinem fundamentalistisch neoliberalen Kurs wieder mal vornehmlich ökonomisch und schlägt der Schweiz mehr Selbstbewusstsein vor. [7] Die Schweiz müsse ihre Leistungen offensiver vertreten Gemeint sind: die Interessen des Schweizer Kapitals.
Soll die Schweiz tatsächlich in die EU?
Ja. Nein. Vermutlich schon. Lieber nicht. Auf jeden Fall braucht es eine informierte Diskussion. Wir benötigen klare Vorstellungen und Vorschläge. Wir dürfen uns nicht von rechts treiben lassen, sondern müssen die europäische Zukunft aktiv mitgestalten.
Wie sieht es jenseits der Festung Europa aus? An Europas Aussengrenze sterben täglich Menschen.
Das ist ein weiterer Skandal. Flucht und Migration nach Europa müssen sicherer werden und gemeinsam bewältigt werden. Die Schweiz kann sich dabei, wie überall, nicht hinter ihre alte Sonderrolle verschanzen.
Schön und gut. Und solche Debatten will die WOZ mit ein paar Podiumsgesprächen befördern?
Wir bieten acht Podien und sechs Workshops an, für viele Interessen und Geschmäcker. Wir bringen 25 PodiumsteilnehmerInnen aus zehn verschiedenen Ländern und aus verschiedenen sozialen Bereichen zusammen: Wissenschaftlerinnen, Aktivisten, PolitikerInnen. Es wird informiert und diskutiert, und es werden Möglichkeiten zur praktischen Mitarbeit geboten.
Ich sehe, dass auf dem Auftaktpodium am Freitag zwei von drei TeilnehmerInnen nicht aus einem EU-Staat stammen …
Europa ist ja mehr als die EU. Obwohl Europa ohne die EU nicht sein wird. Saskia Sassen (USA) und Jakob Tanner (Schweiz) spannen das Thema weit auf, historisch und topografisch. Sie haben sich schon lange mit Europa auseinandergesetzt. Sie kennen sich aktuell aus mit Populismus und Autoritarismus. Der Blick von aussen schärft zuweilen. An ihren Gefährdungen lässt sich die bleiche Schönheit Europa erkennen.
Kommen auch Nicht-AkademikerInnen?
Ich hoffe, das ist nicht antiintellektuell gemeint? Aber ja, es gibt bewegungsorientierte AktivistInnen auf allen Podien. Im Übrigen sind solche Zuschreibungen längst fragwürdig. Rokhaya Diallo aus Paris ist Publizistin und zugleich antirassistische Aktivistin. Und es gibt spezifische Veranstaltungen zu einer Politik von unten.
Die europäische Identität bleibt dabei eine Schimäre.
Europäische Gemeinschaftlichkeit kann nicht verordnet werden, sondern sich nur in der Praxis herausbilden und gelebt werden. Kultur kommt dabei eine Scharnierfunktion zu. Oder ist das schon wieder Politik? Milo Rau und Maria Stepanowa bringen im Gespräch mit Cédric Wermuth ihre reichhaltigen Erfahrungen und provokativen Ideen in die Debatte ein.
Okay, was wird sonst noch geboten?
Agniezka Dziemianowicz-Bak, Andreas Gross, Teresa Pullano und Thomas Seibert debattieren, ob man die institutionelle Demokratie ausbauen oder nach neuen Formen der BürgerInnenbeteiligung suchen soll. Wie Europa endlich grün werden kann, erörtern Eva Gelinsky, Balthasar Glättli und Alexandra Strickner. Auf einem Podium mit James K. Galbraith, Philipp Löpfe, Tom Kucharz und Mascha Madörin werden Vorstellungen entwickelt, wie die Ungleichheit abgebaut werden kann. Wo stehen die Barrikaden? fragen wir Catarina Principe, Paul Rechsteiner und Raul Zelik. Über eine menschlichere Migrations- und Asylpolitik diskutieren Andreas Cassee, Rokhaya Diallo, Saskia Sassen und Damir Skenderovic. Auch darüber, wie Migration in den Köpfen anders gedacht werden kann.
Und es gibt handfeste Anleitungen in Workshops, etwa von Min Li Marti zu einer feministischen Lokalpolitik oder von Daniel Graf zur digitalen Demokratie.
Das tönt alles recht interessant. Wen erwartet ihr an der Tagung?
Möglichst viele Interessierte, Engagierte, Diskussionsfreudige. Deshalb haben wir die Eintrittspreise tief angesetzt: 40 Franken für das ganze Programm. Wo kriegt man in der Hochpreisinsel Schweiz sonst noch solch hochkarätigen Gegenwert?
Programm und Anmeldung unter www.europakongress.ch
Stefan Howald ist WOZ-Redaktor und Mitorganisator des Europakongresses.
[1] Siehe NZZamSonntag vom 13.8.2017, S. 23.
[2] Siehe www.diem25.org/europaeischer-new-deal/
[3] Siehe Interview mit Andreas Gross, unter www.europakongress.ch/texte/2017/8/16/interview-mit-andi-gross
[4] Siehe Stefan Howald: Volkes Wille? Warum wir mehr Demokratie brauchen. Zürich 2014, S. 113.
[5] Siehe WOZ Nr. 34/17 vom 24.8.2017, S. 15–17.
[6] Siehe WOZ Nr. 35/17 vom 31.8.2017, S. 6.
[7] Siehe NZZ vom 26.8.2017, S. 1.