Ulrich Brand und Markus Wissen bauen mit dem vorliegenden Band ihren 2013 erstmals vorgelegten Ansatz der imperialen Lebensweise entscheidend aus. Das Buch umfasst acht Kapitel und ein umfangreiches Literaturverzeichnis. In Teilen wurde es bereits zuvor anderenorts veröffentlicht, inhaltlich reicht es von einer geschichtlichen Aufarbeitung bis hin zu Analysen der Jetztzeit. Zuletzt geht es den Autoren um eine Überprüfung möglicher Alternativen zum Status quo und sie nehmen verschiedene Bewegungen, etwa zur Energiedemokratie oder Ernährungssouveränität in den Blick.
Die beiden Autoren knüpfen an die seit mehr als einem halben Jahrzehnt geführte Debatte zur Multiplen Krise an und bereichern sie um wichtige Argumente. Die von Stephan Lessenich im Herbst 2016 vorgelegte, lesenswerte Darstellung der westlichen Externalisierungsgesellschaft wird von ihnen als ein wichtiger Bestandteil zur Sicherstellung der gesellschaftlich-politischen Stabilität in die Darstellung und Kritik der imperialen Lebenswelt integriert, und sie übertreffen diese an Komplexität.
Alles in allem liefern Brand und Wissen eine sehr plausible Analyse und Argumentation – und damit letztlich eine globale Kapitalismuskritik auf der Höhe der Zeit. Das soll im Folgenden näher erläutert werden.
Das Kernanliegen und die Stoßrichtung der Analyse werden gleich im ersten Kapitel genannt: Die in Europa politisch wie gesellschaftlich umstrittene Migration hat „ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse“ (S. 11) zur Ursache und kann nicht auf die bloße „Knappheit natürlicher Ressourcen“ (ebd.) oder den vielfach bemühten Klimawandel zurückgeführt werden. Die Knappheit muss Brand und Wissen zufolge als das Ergebnis der bestehenden Verhältnisse, insbesondere des „ungleiche[n] Zugang[s] zu Land, Wassern und Produktionsmitteln“ (ebd.) verstanden werden. Außerdem betonen sie, dass der globale Kontext wichtig ist, nicht nur der Blick auf einzelne Regionen oder Länder – denn es geht um die ‚ganze Komplexität‘ (ebd.).
Es geht den Autoren darum, nachzuvollziehen und darzustellen, „wie sich Normalität gerade über das Ausblenden der ihr zugrunde liegenden Zerstörungen herstellt“ – gemeint sind „Alltagspraxen sowie die ihnen zugrunde liegenden gesellschaftlichen und internationalen Kräfteverhältnisse, die Herrschaft über Mensch und Natur erzeugen und verstetigen“ (S. 13) –, so dass der globale Norden auf Kosten des globalen Südens existieren kann, wie es schon lange Zeit der Fall ist. Die imperiale Lebensweise, die auch die gesellschaftlichen Naturverhältnisse umfasst, erweist sich als zentrale Ursache der multiplen Krise, stabilisiert aber zugleich die bestehende Ordnung (vgl. ebd.).
Brand und Wissen sind der Meinung, dass sich die imperiale Lebensweise zu Tode siege – dies werde darin deutlich, dass sich die Krisenmomente zuspitzen (vgl. S. 14). Und indem sich bspw. China hinsichtlich der Lebensweise an den Norden angleiche, entstünden „ökoimperiale Spannungen“, in denen sich die verschiedenen Nationen als verschärfte Konkurrenten gegenüber stehen. Auch der Migrationsanstieg sei hier zu verorten, da die imperiale Lebensweise auch anziehende Wirkung entfalte (ebd.).
Die vor allem in den europäischen Staaten stattfindende Politik der „Abschottung und Ausgrenzung“ wird als Reaktion verstanden, der es darum geht, exklusiv die imperiale Lebensweise weiter zu pflegen (S. 15).
In der Auseinandersetzung mit und dem gesellschaftlichen Kampf gegen den Status quo kann auf den Staat als mögliches Instrument der gesellschaftlichen Veränderung nicht zurückgegriffen werden, denn er ist ein „wesentliches Moment in der institutionellen Absicherung“ der Herrschaft (S. 16).
Die imperiale Lebensweise wird als Kategorie verstanden, „die zwischen dem Alltagshandeln der Menschen und den diesen zugrunde liegenden gesellschaftlichen Strukturen vermittelt“ (S. 17). In den Blick geraten dabei auch die Externalisierung und die „soziale Hierarchisierung im globalen Norden“ (S. 18). Sie sind „struktureller Zwang und Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten“ gleichermaßen (ebd.). Alltägliche Handlungen wie das „SUV-Fahren“ (das Fahren von Geländelimousinen, Red.) erweisen sich so als „Ausdruck der automobilen Subjektivität des neoliberalen Kapitalismus“, der zudem als exklusiv bestimmt werden muss, denn eine globale Verallgemeinerung wäre angesichts der Klimafolgen kaum vorstellbar (S. 19). Die „ökologische Modernisierung der Automobilität“ und die Vergrünung anderer Bereiche sind für Brand und Wissen falsche, wenngleich nicht ‚unwirksame‘ Möglichkeiten der weiteren Entwicklung und des Umgangs mit der multiplen Krise (ebd.).
Das vor allem in den kritischen Debatten vorgebrachte wichtige Konzept der ‚großen Transformation‘ (S. 28ff.) ist mit starken Verkürzungen behaftet. So werde ignoriert, dass aktuell zwei Drittel der Weltbevölkerung noch gar nicht in industrialisierten Gesellschaften leben – so dass von einer angestrebten Nachhaltigkeit in vielen Weltregionen noch gar keine Spur zu finden ist. Noch schwerwiegender ist der Umstand, dass die Debatten auf rein ökologische Änderungen begrenzt sind, was für Brand und Wissen deutlich zu wenig ist (vgl. S. 32) – bspw. bleiben Fragen der Eigentumsverhältnisse größtenteils unerwähnt (vgl. S. 33). Auch den Begriff des Anthropozäns halten die Autoren für problematisch, denn häufig würden Klassenverhältnisse sowie Fragen von Geschlecht und race durch diesen vernebelt (S. 33f.). Ferner wachse die Gefahr der bloß technischen Lösung der Klimakrise, dabei muss es um die politische Ökonomie in ihrer Gesamtheit gehen (S. 35). Hinzu kommt, dass auch die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nur unzureichend betrachtet würden (S. 37) – insbesondere mit Blick auf die Umsetzung der Forderungen ein ernstzunehmendes Versäumnis, das einen realistischen Blick verhindert und utopische Erwartungen nur enttäuschen kann. Im Grunde wird das Kapital in den Debatten als ‚Akteur‘ unterbelichtet (S. 41).
Das dritte Kapitel entwickelt den Begriff der imperialen Lebensweise und ist tief mit dem Hegemonie-Überlegungen von Antonio Gramsci verknüpft. Es geht um Konsum, Produktion, Arbeitsorganisation, Unternehmen, enge und weite Ökonomie – kurzum: die Komplexität des Themas wird rigoros entfaltet. Den Autoren geht es dabei gerade nicht um die (Kritik der) individuelle(n) Lebensführung oder den individuellen Lebensstil (S. 46), wenngleich diese Dimensionen in der Reflexion der Leserschaft in den Blick geraten sollten.
Im Fokus stehen vielmehr die „Modi der Herstellung und Verteilung der Bedingungen“ der Lebensführung, „kulturell und materiell“ (S. 47). Der Kapitalismus und damit auch die imperiale Lebensweise umfassen immer auch die Dimensionen „(Neo-)Kolonialismus und Rassismus“ (S. 52). Auch ein „andro- und eurozentrische[r] Lebensentwurf“ der „hegemonialen Männlichkeit“ wird von Brand und Wissen als „integraler Bestandteil“ benannt (S. 54). Da die meisten Menschen für ihr Überleben einer (Lohn-)Arbeit nachgehen müssen, sind sie notwendig Bestandteil der imperialen Lebensweise. Diese wird eben auch durchaus als Freiheit empfunden – die Menschen haben die Freiheit zu konsumieren und ihre Freizeit zu gestalten (vgl. S. 55). Die imperiale Lebensweise ist also auch als ein „Versprechen“ (S. 56) zu begreifen, das zentral „auf sozialer Ungleichheit“ (62) basiert und auch das menschliche Bedürfnis nach Distinktion integriert (vgl. S. 59). Auch die Fragen der Externalisierung von Care-Arbeit haben Brand und Wissen dabei auf dem Schirm (vgl. S. 63f.).
Das Kapitel 4 umfasst die exemplarische Schilderung der Geschichte der imperialen Lebensweise, ausgehend von ihrer Entstehung. Dies geht über in Kapitel 5, in dem es um die globale Verallgemeinerung und Vertiefung der imperialen Lebensweise geht. Diese war demnach bereits Bestandteil der Kolonialisierung Südamerikas durch die europäischen Gesellschaften, wenngleich eher untergeordnet bzw. nur für die oberen Klassen und Schichten relevant (vgl. S. 74). Der geschichtliche Abriss wird von den Autoren nicht als lineare Fortschrittsgeschichte formuliert, sondern als blut- und kampfreiche Geschichte geschildert. In der Phase des Fordismus wurde die imperiale Lebensweise in der westlichen Welt im gramscianischen Sinne hegemonial.
Zunehmend erfolgte die Verlagerung dreckiger Produktionsverhältnisse in Europa in das ‚Außen‘, gleiches gilt für die Folgen der industriellen Produktionsverhältnisse (ebd., S. 91). Vor allem das ‚corporate food regime‘ erweist sich seit den 1990er Jahren als zentraler ‚Akteur‘ für die Vertiefung der imperialen Lebensweise – gemeint ist vor allem die Verbreitung von Fleischkonsum etc. (ebd., S. 101ff.). Ebenfalls seit den 1990er Jahren ist ein weltweiter, weiterhin steigender Warentransport zu beobachten (ebd., S. 103f.). Auch der Energieverbrauch ist ein zentrales Problem der imperialen Lebensweise und ihrer Krise (ebd., S., 107f.) – zwar sinkt dieser pro Kopf auf Grund technologischer Entwicklung, dafür haben immer mehr Menschen an ihm teil, weshalb der Verbrauch dann doch absolut gesehen ansteigt.
Seit Beginn der 2000er Jahre wird in Lateinamerika, auch von den politisch progressiven Regierungen, ein in den Folgen katastrophaler Neoextraktivismus betrieben (ebd., S. 115f), der einen Ausweg aus der imperialen Lebensweise verhindert.
Prinzipiell erachten Brand und Wissen den Umstand für ein Problem, dass die Legitimität von Demokratie immer enger mit der Möglichkeit von Konsum verbunden ist (vgl. S. 118).
Die bereits erwähnte imperiale Automobilität ist das Thema von Kapitel 6. Die Autoren konfrontieren die Leserschaft mit katastrophalen Verkaufszahlen für Offroader-Geländewagen, denn für deren Herstellung ist ein katastrophaler Ressourcenverbrauch notwendig (ebd. S. 125f.). Bei der zahlungskräftigen Klientel müssen dabei Widersprüche in der Lebensweise thematisiert werden: Zum einen ist bei ihr das Umweltbewusstsein besonders verbreitet, aber zum anderen werden eben Offroader-Geländewagen an sie verkauft – denn mit solchen Autos kann bspw. der Autoverkehr vergleichsweise sicherer stattfinden im Falle von Unfällen.
Das Auto ist sowieso ein von Brand und Wissen gut gewähltes Beispiel für die Pathologien der modernen kapitalistischen Gesellschaft: Hier können die Mechanismen und Vorgänge der Externalisierung der politikökonomischen und umweltbezogenen Fragen in geistiger wie geographischer Hinsicht besonders gut dargestellt werden. Ferner können hier der verdeckte Klassenkampf, die mit dem Kauf bzw. Gebrauch von Autos ausgedehnte Konkurrenz der Menschen untereinander, Fragen der globalen Rohstoffgewinnung und vieles mehr besonders verdeutlicht werden.
Dass Elektroautos nur bedingt eine Verbesserung bedeuten, ist gleichfalls eine wichtige Erkenntnis. Denn der Aufwand und die ökologischen Kosten für den Abbau der benötigten Ressourcen und Materialien sowie die weiteren damit verbundenen politisch-sozialen Umstände dürfen nicht vergessen werden – werden aber häufig genug ausgeblendet in den entsprechenden Debatten.
Kapitel 7 kritisiert die grüne Ökonomie und den grünen Kapitalismus. Beide stellen keinen Ausbruch aus der imperialen Lebensweise dar, sondern sichern letztlich deren weitere Existenz nur ab.
Die „Konturen einer solidarischen Lebensweise“ sind Thema des achten und letzten Kapitels. Wenn es um tatsächliche Veränderungen gehen soll, sind alle Ebenen der menschlichen Existenz betroffen (ebd. S. 169) – davon sind Brand und Wissen überzeugt. Sie geben einen Überblick über das Notwendige für die Abschaffung der imperialen Lebensweise – die bestehenden Ansätze und das weiterhin Nötige erweisen sich als komplex, schwierig, aber sind nicht ohne Hoffnung.
Alles in allem handelt es sich um einen komplexen und darum umso wichtigeren Beitrag für die Debatte zur multiplen Krise und zur Kapitalismuskritik.
Die Frage nach der Freiheit des Einzelnen und entsprechende Debatten werden nur indirekt angesprochen – diese Aspekte müssten unbedingt weiter ausgebaut werden, um die Analyse der imperialen Lebensweise und der sich daraus ergebenden Handlungsimperative noch weiter zu stärken und an Überzeugungskraft, die erst gesellschaftliche Handlungen hervorbringt, zu gewinnen.
Ulrich Brand/Markus Wissen: Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, Oekom-Verlag, München 2017, 224 S.
Siehe auch die ebenfalls auf theoriekritik.ch erschienene Rezension von Ruedi Epple zum gleichen Buch.
Wolfart, Regine
da ich dieses Buch mit einigen Freunden gerade lese, ist diese Rezension sehr hilfreich.
Bitte aus meinem Kommentar k e i n e Werbeangebote ableiten, weder des Verlags noch anderer Interessenten, das wäre Fortführung der imperialen Lebensweise und außerdem lästig