Der Religionsphilosoph und Mitbegründer der Freien Universität Berlin (FU) Klaus Heinrich feiert dieses Jahr seinen 90. Geburtstag. Viele seiner grossen Vorlesungen, immense, ohne Skript vorgetragene Stoffverhandlungen einer Geschichte der menschlichen Gattung und einer Theorie der Zivilisation, sind glücklicherweise in wunderbaren Ausgaben des Stroemfeldverlags greifbar, bedauerlicherweise ist aber bisher allzu vieles noch unveröffentlicht.[1] Um ins Zentrum seines Unternehmens einer Wissenschaft, die «der Gesellschaft ein Bewusstsein ihrer selbst» geben kann, zu gelangen, kann man an jedem beliebigen Ort ansetzen (weil es Beliebigkeit nicht gibt in diesem Denken, das jegliche Oberfläche jederzeit in ihrer Tiefenstruktur wahrnimmt[2]), vorausgesetzt man ist bereit, die langen, verschachtelten Sätze als notwendiges Werkzeug einer unverstümmelnden Erkenntnissuche zu verstehen und lieben zu lernen.
In den einleitenden Bemerkungen zu seiner Vorlesung arbeiten mit ödipus. Begriff der Verdrängung in der Religionswissenschaft, die er 1972 an der FU gehalten hat, skizziert Heinrich die Intentionen seiner Ausführungen über den Begriff der Verdrängung und Ödipus als Aufklärer, mit dem in der Freudschen Lesart gleichzeitig die Verdrängungen und Abspaltungen der westlichen Aufklärungstradition benannt und neu verhandelt werden können. Heinrich stellt zu Beginn der Vorlesung «reflexionslos und ganz schematisch» die folgenden Fragen, die sowohl damals, nur einige Monate vor den Attentaten von München und auch heute, zur Zeit des Iran-Deals und der AfD mitten in die deutsche Gesellschaft zielen. «Gibt es eine Wiederkehr des Verdrängten, durch die Verdrängung wirklich aufgehoben würde? Gibt es eine Wiederkehr des Verdrängten, die immer nur wieder das Fortbestehen der Verdrängung manifestiert? Gibt es eine Wiederkehr des Verdrängten, die, wenigstens in beschränkten Räumen, das Fortbestehen der Verdrängung relativiert?» Und gibt es auch so etwas wie eine Wiederkehr, die «Versöhnung bedeutet?»[3]
Darauf folgt eine ausführliche Erörterung der bestehenden Praktiken und Entstellungsprozesse, diesen drei Formen Ausdruck zu verleihen, im «Ventil», im «Witz», im «Ritual», in der «Orgie», wo die Wiederkehr in bestimmten Bereichen, mit unterschiedlichen Folgen und Begleiterscheinungen gestattet ist. Oder auch im «Traum», dessen oft wahrnehmbare kollektive Verbindlichkeit Heinrich als Form der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung in der Mythenbildung identifiziert und die «eine sehr bedrohliche öffentliche Verbindlichkeit sein kann, die analysiert werden muss im Namen eines zu fordernden Begriffs von Öffentlichkeit, der sich nicht reduzieren lässt auf Interaktionen von einzelnen Ichen.» Was hier Heinrich gegen die kommunikative Vernunft von Habermas formulierte, wäre für heute und damals zu ergänzen mit «einzelnen Gruppen, einzelnen Banden».
Warum aber spielt am religionswissenschaftlichen Lehrstuhl, den Heinrich aufgebaut hat, die Psychoanalyse für die Theoriebildung eine derart zentrale Rolle? Heinrich stellt diese Frage apologetisch ebenfalls an den Anfang seiner Ödipus-Vorlesung. Nebst dem Ziel, ihr in seinem Institut nach der sich damals schon abzeichnenden Verdrängung der Psychoanalyse aus der Psychologie Asyl zu bieten, nennt Heinrich zwei Erfahrungen, die ihn angesichts der «Wiederbelebung oder Neugründung von Universitäten» nach 1945 in Deutschland erschrecken machten: «Erstens, was von 1933 bis ’45 manifest geschehen war, also der NS-Faschismus, war im Handumdrehen verdrängt worden (…) woraus sich unmittelbar die Frage ergab, wie kann dieser Verdrängungsvorgang in wissenschaftliche Reflexion eingebracht werden? (…) Aber so ist die Frage falsch gestellt. (…) Die Frage war im Grunde genommen sehr viel prekärer gestellt: gibt es überhaupt eine Wissenschaft – und nur eine solche schien uns damals zu zählen – die nicht ohnmächtig derartigen Verdrängungsvorgängen gegenübersteht? Die zweite Erfahrung war die negative Antwort auf die erste Frage.»[4]
Die Schwierigkeiten und die Unmöglichkeiten, Verdrängungen einfach aufzuheben, liegen mit den eingangs zitierten Fragen auf der Hand, kommt hinzu, dass Heinrich mit Freud die Dialektik des Kulturprozesses nicht unterschlägt, nachdem Zivilisation notwendig auf Verdrängungsprozessen aufruht. Daraus folgt, dass eine Wissenschaft, die ihren Vernunftbegriff um dieses Moment verkürzt, so wie das an den Universitäten bis heute in vielen Wissenschaften getan wird, eine Aufklärung betreibt, die an der wirklichen Problemstellung menschlicher Zivilisation vorbeigeht, die Heinrich im Zusammenhang mit Freuds «Unbehagen in der Kultur» wie folgt erörtert: «Es spricht für den Realismus von Freud, dass er keine Entwürfe macht, wie eine verdrängungsfreie Welt auszusehen hätte. Das Problem, wenn er es an dieser Stelle erörtern würde, wäre: ist die verdrängungsfreie Realität nur zu erkaufen durch Aufgabe der auf Verdrängungen aufgebauten Zivilisation, oder gibt es Formen der ebenfalls zivilisatorischen Sublimierung, die dennoch nicht verdrängend sind?»[5] Das von Heinrich geleitete Religionswissenschaftliche Institut an der FU Berlin hat sich aus der oben zitierten Grunderfahrung, dass nach 1945 in Deutschland die Erfahrungen der «Innenseite» des NS «mit einem Mal aus dem Anspruch, wissenschaftlich fassbar zu sein, herausfielen»[6] explizit dieser Problemstellung verschrieben. Unter dem Gesichtspunkt der Suche nach Gegenständen und «Bündnispartnern» wissenschaftlicher Erfassung, in denen man es bereits mit dieser Dimension unerträglicher kollektiver Erfahrung von Zerreissungsszenarien, Selbstzerstörungspraktiken, Untergangssehnsüchten, Spaltungsphantasien zu tun hat, erfolgte der Rückgriff «auf Religionen als Formen der Selbstverständigung, der Selbstdarstellung der menschlichen Gesellschaft, nicht auf spannungsloses Nebeneinander von verschiedenen Typen der Selbstdarstellung (so die polemische Spitze Heinrichs gegen die vergleichende, phänomenologisch vorgehende Religionswissenschaft, R.B.), sondern auf Formen der Selbstdarstellung als Ausdruck von Konflikten, die bis heute nicht ausgestanden sind.»[7] Dieses Verständnis von Wissenschaft, vergangene, zivilisatorische Anstrengungen, wie sie in Mythologien und Religionen präsent sind, weder distanzierend einfach als «Glaube der anderen» abzuheften, noch remythologisierend und usurpierend als reine Ursprünge zu propagieren, sondern als Teil der eigenen Gattungsgeschichte und zusätzlich als immer noch aktuelle und daher «redende» Stoffe für die Bewältigung von eigenen Konflikten zu lesen, ist der fruchtbare Kern von Heinrichs Nachdenken.[8] Und es führt ihn daher gleichsam hellsichtig immer wieder an die wunden Punkte jeder Gesellschaft.
So etwa, als er 1989 in seiner programmatischen Rede zum 50. Todestag von Sigmund Freud folgenden, wie sich zeigen sollte, prophetischen Satz, sagte: «Es ist heute, 50 Jahre nach Freuds Tod, beruhigend und beunruhigend zugleich, dass die Analyse der jüngeren deutschen Vergangenheit kein Tabu mehr ist.» Denn darauf folgten Jahre einer intensiven historischen Auseinandersetzung über den Nationalsozialismus, die einerseits endlich zu einer eigenständigen deutschen Erinnerungsarbeit, aber auch – bereits vorbereitet durch die Relativierung des Holocausts im «Historikerstreit» der späten 80er Jahre – zu einem «unverkrampften Verhältnis zur deutschen Geschichte und Identität», so die mediale Vernamentlichung des Ungeheuren, führen würde. Gipfelnd in der Regierungszeit Gerhard Schröders und Joschka Fischers, die zehn Jahre später sich überall für die Untaten der Nazis entschuldigend und um Sympathie und Exportaufträge werbend um die Welt reisten, gleichzeitig die Rückkehr deutscher Soldaten auf alte und neue Schlachtfelder betrieben und die Bündnispolitik mit den USA zugunsten autonomer Kriegsführung aufweichten. Seit da muss die deutsche Grossmachtpolitik ihre Geschichte nicht mehr verdrängen, weil sie erkannt hat, dass die Entschuldigungen, wofür es überall Anerkennung gibt, die alte und mühsame Verdrängungsarbeit durch einen Akt der Externalisierung ersetzt. Das, wofür man sich entschuldigt, geht einem plötzlich nichts mehr an, weil das bisher innerlich Verdrängte von nun an immer das andere ist. Die Reparationszahlungen, die man früher nie geleistet hat, weil sie einem Schuldeingeständnis gleichgekommen wären, sind heute durch eben dieses obsolet, weil es einem nichts mehr angeht. Die AfD kann sagen, was sie will, Hauptsache, sie distanziert sich vorher vom Nationalsozialismus. Und die anderen Parteien können entsprechend sagen was sie wollen, Hauptsache, sie distanzieren sich vorher von der AfD.
Dies alles nur zynisches oder ökonomisches Kalkül zu nennen, würde aber die Tiefe der Problematik menschlicher Zivilisierungsarbeit verkennen. Heinrich liest solche Prozesse kritisch, aber nicht in dem Sinn, dass er sagt: dort sind die gefährlichen Praktiken einer verfehlten Politik, die überwunden werden muss, und hier ist das Neue, das ohne diese Fehler auskommt und alles besser macht, sondern mit dem analytischen a priori, dass es kein Neues gibt, das nicht auch das Alte bearbeitet, fortführt, verwandeln hilft. «Dass Altes nicht Totes ist, das man etwa aus antiquarischem Interesse hervorholt, um es in einer von Erinnerung absperrenden Weise museal aufzubereiten, sehen Sie daran, dass es symptomatisch in Zeiten fasziniert, in denen weltweit die Zuversicht schrumpft, mit Schwierigkeiten der Lebensführung in zerstörerischen Systemen fertig werden zu können.»[9] Dieser Satz, im Herbst 1974 in der Vorlesung über die Psychoanalyse geäussert, ist heute unzweifelhaft noch aktueller als in der Phase der ersten Enttäuschungen nach 68, aus der er stammt. Denn «nichts, woran Sie sich erinnern können, ist vorbei»[10], so fasst Heinrich die psychoanalytische Grundeinsicht zusammen. Gesellschaften oder einzelne Menschen, die sich ihrer Konflikte, die sie beschäftigen und quälen, nicht durch Lösungen oder Vergessen entledigen können, neigen daher dazu, hinter sie zurückzugehen und sich den Ursachen oder Mächten, die sie ausgelöst haben, zu überlassen. Und müsste man nicht Heinrichs Beobachtung, dass die oft unverständliche und geradezu magisch-kultische Neigung der Menschen, sich die Linderung des Leidens gerade von derselben Macht zu erbeten, von der es ausgegangen zu sein scheint – «Denn niemals hätte man Apollon um die Gnade der Verschonung von der Pest gebeten, wenn er nicht selber der Pestbringer wäre.»[11] –, in diesem Sinn zeitanalytisch anwenden um zu verstehen, warum 2008/9 dieselben Leute, die die Finanzkrise verantwortet hatten, von der Administration Obama zu deren Bekämpfung eingesetzt wurden und warum Leute wie Silvio Berlusconi und Donald Trump gewählt werden oder Steve Jobs Verehrung findet. Die Motive für solche und ähnliche glücklosen Heilungsversuche nicht mit der «Dummheit» der Menschen wegzuerklären, sondern sie gattungsgeschichtlich zu deuten, ist Heinrichs entscheidende Kritik an einer Aufklärung, die es beharrlich versäumt, ihren vermeintlich religionskritisch geeichten Vernunftbegriff zu transformieren. Denn die Götterfigur ist eine, die Konflikte, die Personen zerreissen würden, dennoch aushält und ohne mit Zerreissung drohende Konflikte wäre es nicht zur Konstruktion von Götterbildern gekommen und käme es heute nicht zur Wiederkunft und von solchen janusgesichtigen Identifikationsfiguren. Ebenso wäre die Gleichzeitigkeit der totalen Immanentisierung westlich-politisch-wissenschaftlicher Erlösungspraxis mit der totalen Verjenseitigung religiöser Praxis in den modernen Fundamentalismen zu analysieren.
Wichtig für Heinrichs psychoanalytischen Zugang zu gesellschaftlichen Prozessen ist ferner die Reflexion auf Freuds Vermeidung des Symbolbegriffs für die Theoriebildung, an dessen Stelle er jenen des Symptoms zentral einsetzt.[12] Dazu Heinrich: „Was die psychoanalytische Forschung als ihren wichtigsten methodischen Fund beanspruchen darf, ist in ihrem Gegenbegriff zum Symbolbegriff: in dem des Symptoms ausgedrückt. Das, was Symptom für uns bedeutet, wenn wir etwas symptomatisch nehmen, ist ja schon dem Wort nach eine Ermächtigung des Unterdrückten oder Verdrängten: während Symbol von ‚symballein‘ kommend bedeutet, dass etwas ‚zusammengeworfen‘ oder ‚zusammengefügt‘ wird – wie immer man sich historisch die Herkunft erklären mag –, bedeutet Symptom ja von ‚sympiptein‘ kommend, dass etwas ‚zusammenfällt‘, was scheinbar nur zufällig zusammenfällt. Im Symptom beginnt das zufällig Zusammentreffende zu reden.“[13] Hier verdeutlicht sich Freuds, an das biblische Bilderverbot erinnernder, antiästhetischer Affekt. Die Verlagerung realer Prozesse in die ästhetische Sphäre führt durch die Symbolisierung lediglich zur intellektuellen Annahme des Verdrängten, das aber heisst zur Vervollständigung des herrschenden Gesamtbilds und nicht zur Bearbeitung beziehungsweise zur Veränderung oder Sprengung realer Prozesse. Zuspitzend formuliert Heinrich: „Meine These ist, dass die intellektuelle Annahme identisch ist mit Remythisierung und dass die Form, in der sie erscheint, die der allgemeinen Symbolisierung ist.“[14] Symbolisierung bedeutet in dieser Hinsicht das zwar kritisch gedachte „Mitbedenken“, „Einbeziehen“ oder „Beachten“ wichtiger Erkenntnisse bei gleichzeitigem Verlust ihrer stofflichen oder materiellen Qualitäten, gewissermassen also das nur sinnbildliche Erfassen des Realen. Das Symbol nimmt Mimesis als Wiederholungszwang ins Bewusstsein auf ohne zu fragen, was die Symbolisierung notwendig gemacht hat, welche Verdrängungsleistung nötig gewesen ist, was dafür an Realität der Symbolisierung geopfert worden ist. Vielmehr wäre die symbolische Ebene als intellektuelle Annahme des Verdrängten auch symptomatisch zu lesen. So sagt Heinrich über rituelle Praktiken im antiken Griechenland: „Niemals gingen kollektive, nicht nur für Individuen, sondern für Stämme und Polis-Gesellschaften verbindliche Aktionen in Symbolischem auf, sondern immer waren sie symptomatisch dafür, dass man trachtete, sich dessen, was man ohne sie universal nicht erreichen zu können glaubte, dennoch konkret zu vergewissern; und wenn sie schliesslich an kollektiver Verbindlichkeit eingebüsst hatten, zu Symbolen geschrumpft waren, dann beruht deren doppelte Attraktivität darin, dass Erwartung und Schauder, die sich einmal an derartige Aktionen geknüpft hatten, noch immer nicht obsolet geworden sind.“[15]
Eine Denkfigur, die sich beispielsweise auch gegen die archaische Mytheninterpretation C.G. Jungs wendet. Schon Freud hat es ja bekanntlich nicht unterlassen, ihn ironisch darauf hinzuweisen. Heinz Politzer zitiert folgende Briefpassage, worin Freud Bezug nimmt auf Jungs Buch „Wandlungen und Symbole der Libido“: „Ich gewinne langsam ein Verhältnis zu dieser Arbeit (…) und glaube jetzt, dass Sie uns darin eine grosse Aufklärung geschenkt haben, wenn auch nicht die, welche Sie beabsichtigten. Es scheint, dass Sie das Rätsel aller Mystik gelöst haben, welche auf der symbolischen Verwendung der ausser Dienst gestellten Komplexe ruht.“[16] Es wäre interessant, unter diesem Aspekt einige vertiefte Überlegungen zur aktuellen Faszination der Mystik in unseren westlichen, säkularen Gesellschaften – auch Martin Luther wird ja zum Beispiel im Reformationsjubiläumsjahr 2017 gerade als Mystiker wiederentdeckt – und zum gleichzeitigem Hass der Islamisten auf die mystische Tradition des Islam anzustellen.
Symbolisierungsprozesse, wie sie in den mystischen Bewegungen[17] jeder Religion stattfinden, sind auch immer Entlastungsaktionen vom Druck des Realen. Sie sind zugleich Kritik an und Ausgang aus festgefahrenen Konflikten innerhalb von Institutionen und Gesellschaften. Heinrich analysiert mit der griechischen Philosophie und dem westlichen «Buddhismus als Ausweg» schon früh zwei weitere attraktive Formen, sich den Spannungen und Konflikten des Selbst zu entziehen. Gerade die stoische Kunst, sich mit Gleichmut und Hoffnungslosigkeit zu wappnen gegen die Zumutungen eines konflikthaften gesellschaftlichen Daseins und sich mit einem Leben, das die anorganische Ruhe des Todes antizipiert, vor Verwandlung und Enttäuschungen zu schützen, erfreut sich heute zum Beispiel in Politiker- und Manager-Kreisen wieder einer grossen Beliebtheit.[18] Die Todesphilosophie, wie Heinrich sie einmal nennt, ist dabei der Todes- und Katastrophensehnsucht, die im Faschismus das im Doppelsinn des Wortes «unheimliche» Grundmotiv darstellt, nicht unähnlich. Das absolute Ziel des Verhinderns von Schmerzen bringt den modernen Stoiker dazu, die drei Quellen, von denen, wie Freud im «Unbehagen in der Kultur» ausführt, Leid droht, von vornherein still zu legen, den Körper, das Schicksal und die anderen Menschen. Der Techniken, um dieses Ziel zu erreichen, sind viele. Ich nenne hier nur diejenigen mit dem direktesten Bezug zum Vernichtungsziel des alten und neuen Faschismus. Die Technik, den eigenen Körper unempfindlich zu machen durch permanenten, überharten Sport, durch entkulturalisierte Ernährung, durch Selbstverletzungen und -stigmatisierungen. Die Technik, dem Schicksal zuvorzukommen, durch Einüben ins Einverständnis mit dem Grossen und Ganzen, durch Vorwegnahme und Ankündigung des unabwendbaren Furchtbaren, durch den Wunsch seines Eintreffens, um Recht zu behalten. Die Technik des gleichzeitigen Heroisierens und Dämonisierens der Anderen, von ihnen also permanent alles im Guten und im Bösen zu erwarten, um für die Zweideutigkeit aller menschlichen Beziehungen, die jeweils passende Spaltung in der Haltung vornehmen zu können. Im zynischen Bestreben, auf keinen Fall je zu verlieren, kommen alle drei Techniken zusammen. Der Tod und die Einübung in sein Wesen – denken wir nur an die hier oft gespenstisch durchrationalisierte, schuldverdrängende Sterbehilfe- und Abtreibungsdiskussion (auf die dort die verschuldend-dämonisierenden Reaktionen folgen) – wird zum letzten Grund des Handelns, zur besten Erlösungsvision für alles Lebendige. Auf die Frage, was er denn tun würde, wenn er seinen Wohlstand verlöre und seinen Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen müsste, antwortete der Stoiker Seneca, dann würde er kein Drama draus machen, sondern sich halt umbringen. Und in welcher Weise die krasseste Form der Selbstzerstörung, das Selbstmordattentat als «Bereitschaft zum Nichts» (Karl Löwith), symptomatisch für unsere Zeit ist, hat 2003 Gerhard Scheit in seiner grossen Studie «Suicide attack» dargelegt.
Heinrich, der sich unermüdlich an den Reinheits-, Endgültigkeits- und Machtphantasien von Parmenides bis Heidegger reibt, bietet nun, weit davon entfernt, den Tod als bestimmendes Gattungsthema zu verkennen, dagegen keinen Vitalismus auf und keine Lebensphilosophie. Vielmehr nimmt er das, was die Didaktik unserer Bildungsinstitute gerne «totes Wissen» nennt, als «Wissen der Toten» zum «Bundesgenossen» für die Aufgabe der Haltbarkeit der Zivilisation. In einem Gespräch über die Voraussetzungen und die Folgen des 11. September 2001 und über die Erosion einer kollektiven Begräbniskultur als Symptom gesellschaftlicher Verwirrung im Umgang mit dem Tod spricht er diesbezüglich auch von «mehr Mitbestimmung für die Toten»[19]
Dieses Wiedergewinnen des Alten und seine Verwandlung in jenes Neue, das es selber einmal war, wie Heinrich das in Bezug auf den Umgang mit Geschichte umschrieben hat, ist ein Unternehmen, das vom Prinzip her heroisch zu nennen ist. Damit ist angespielt auf den Herakles-Stoff, an dem Heinrich exemplarisch vorführt, was eine Wissenschaft vermag, die sich ihre Gegenstände nicht durch Kritik vom Leibe hält, sondern die ihre existentiellen Interessen in die Verhandlung eines Stoffes einbringt und ihn zum Bundesgenossen nimmt.[20] Heinrich gewinnt durch die psychoanalytische Arbeit mit dem Heros als einem einerseits autonom-patriarchalen Kraftmeier und andererseits einem in vielfältige Spannungsverhältnisse von Herkunft, Geschlecht und Arbeit eingebundenen und daher von Zerreissungsszenarien bedrohten, zerbrechlichen Menschen einen Begriff des Heroischen, der die Zweideutigkeit des Zivilisationsprozesses nicht verdrängt und ihr trotzdem nicht ohnmächtig gegenübersteht. Heinrichs Vorlesung «arbeiten mit herakles» erscheint in dieser Hinsicht wie der analytische Kommentar avant la lettre zu Peter Weiss’ «Ästhetik des Widerstands».
Fruchtbar zu machen wäre Heinrichs Denken von daher vielleicht auch für die Neuorientierung der Gesellschaftskritik, insofern sie sich als Erbin der Aufklärung versteht. Denn die folgenreichen Einschränkungen des Vernunft- und Erfahrungsbegriffs in der Aufklärung, die Heinrich exemplarisch an Kant zeigt,[21] haben einen Realitätsverlust zur Folge, den das kritische Denken immer schmerzlicher zu spüren bekommt. Zu fragen ist beispielsweise, ob nicht der Umstand, dass viele Linke immer wieder dazu neigen, mit der Zeit nach rechts zu wandern, auch damit zu tun hat, dass im linken Denken allzu vieles von vornherein ausgeklammert wird, dass zu vieles unbedacht, das heisst verdrängt bleibt. Denn im Gegensatz zur Rechten, deren Argumentations- und Mobilisierungskraft darin besteht, das Problem der Zweideutigkeit alles Menschlichen mit Spaltungen zu lösen um dann auf die reine Macht von Natur einerseits und Technik andererseits zu rekurrieren ohne den Preis der menschlichen Vermittlungsanstrengungen in Rechnung zu stellen und die also ihre Zukunftsvision aus der Faktizität des Vergangenen als Siegergeschichte bezieht, muss die Linke eine stets gebrochene, um einiges heterogenere Geschichte – mit all den verdrängten Erfahrungen, den gescheiterten und gelungenen Befreiungsversuchen, Befreiungshoffnungen (wobei solche selbst noch im Schlimmsten in Rechnung zu stellen sind) – mitbedenken und aufheben. Oder anders gesagt: Eine Linke, die sich ihre Theorie- und Politikgeschichte nicht immer wieder neu in ihrer ganzen Zweideutigkeit des Entspringens aus den Ursprungsmächten des blossen Daseins aneignet, kann weder ihren eigenen Bedeutungsverlust, noch schleichende gesellschaftliche Verfallsprozesse, noch sprunghafte historische Veränderungen verstehen und gestalten. Ihr Wissen über die Gegenwart darf niemals, wie das der Rechten, erkauft sein mit dem Unwissen über die Vergangenheit. Wiederzugewinnen wäre für die Linke mit Heinrich ein Begriff von Tradition, dessen Zweideutigkeit (auch im Sinne Benjamins) zur Bundesgenossin werden kann für die Balancierung der bedrohten zweideutigen Zivilisation und der ebenso bedrohten Einheit der zweideutigen Gattung Mensch.
[1] Siehe die zwei Werk-Reihen im Stroemfeldverlag: Dahlemer Vorlesungen und Reden und kleine Schriften, die seit dem Tod des Herausgebers und ehemaligen Assistenten von Klaus Heinrich Hans-Albrecht Kücken ins Stocken geraten sind.
[2] Was Klaus Heinrich über Freuds Ödipuskomplex sagt, gilt auch für seine eigenen Begriffe: «Freud sagt sehr simpel oder sehr apodiktisch: Wenn ich in der Analyse der Krankengeschichte eines Individuums, also in einer Individualtherapie auf den Ödipuskomplex stosse, dann stosse ich auf etwas Allgemeines. Aber er lehnt zwei Schlussfolgerungen ab: eine doketische oder doketistische und eine private oder privatistische Lösung. Er sagt nicht: Ich stosse auf etwas Allgemeines und jetzt wird das Individuelle Schein; noch: Obwohl ich auf etwas Allgemeines gestossen bin, muss ich es doch irgendwie in Individuelles auflösen; sondern er sagt: Ich stosse in der Analyse auf Individuelles, das Allgemeines ist. (…) Ich wollte diesen immensen Anspruch einmal in aller Schroffheit formulieren.» Klaus Heinrich: arbeiten mit ödipus, Frankfurt am Main 1993, S. 119.
[3] Heinrich: arbeiten mit ödipus, S. 17f.
[4] Heinrich: arbeiten mit ödipus (wie Anm. 1) S. 20.
[5] Heinrich: arbeiten mit ödipus, S. 19.
[6] Ebd. S. 25.
[7] Ebd. S. 25.
[8] Aufmerksam zu machen ist hier auf den Kontrast dieses Zugangs zum Wissen zur heute in Bildungsdiskursen immer wieder zur Grundlage von Reformen erhobenen These vom schnellen Veralten des Wissens in unserem technischen Zeitalter. Ein Bildungswesen, das auf das Veralten des Wissens fokussiert und nicht auf dessen Potential Unerledigtes und Aktualisierbares zu enthalten, untergräbt aber das Fundament worauf es steht.
[9] Klaus Heinrich: psychoanalyse, Frankfurt am Main 2001, S.63.
[10] Heinrich: psychoanalyse, S. 59.
[11] Klaus Heinrich: arbeiten mit herakles, Frankfurt am Main 2006, S. 217.
[12] Es kann hier nicht auf den für die neuere systematische Theologie so folgenreichen Symbolbegriff eingegangen werden. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Arbeit von Wolfgang Müller, die einen guten Überblick über diese Thematik bietet: Wolfgang Müller: Das Symbol in der dogmatischen Theologie. Eine symboltheologische Studie anhand der Theorien bei K. Rahner, P. Tillich, P Ricoeur, J. Lacan, Frankfurt am Main 1990.
[13] Heinrich, arbeiten mit ödipus (wie Anm. 1), S. 257.
[14] Heinrich, arbeiten mit ödipus (wie Anm. 1), S. 254.
[15] Heinrich, psychoanalyse (wie Anm. 9), S. 259.
[16] Sigmund Freud/Carl Gustav Jung: Briefwechsel, Frankfurt am Main 1974, S. 582. , zit. n: Heinz Politzer: Freud und das Tragische, Wiener Neustadt 2003, S. 99.
[17] Selbstredend bleibt Heinrich nicht bei einer undialektischen Kritik an der Mystik stehen. So sagt er in der Erörterung des Zusammenhangs von «Erleuchtung» und einem «verändernden Wissen», der kritischen Philosophie: «(…), dass unter diesem Gesichtspunkt von der grossen Mystik eines Meister Eckhart bis zu den Forderungen der grossen aufklärerischen Philosophen eine Brücke zu schlagen ist. (…) Licht, das nicht nur einen Gegenstand scharf beleuchtet, sondern das zu einer Lichtquelle in der Person wird und als lumen internum oder als lumen naturale der mystische Ausdruck (…) für den autonomen Verstand ist, auf dem die Philosophie der Aufklärung dann ihre Systeme des Wissens und der Wissenschaft aufbauen wird.» (Heinrich: arbeiten mit ödipus, S. 51.)
[18] Siehe zum Beispiel Christopher Schwarz: Standhalten, ruhig bleiben, Charakter zeigen (30. März 2017).
[19] Siehe auch: «Tradition lässt sich als Erweiterung des Wahlrechts beschreiben. Tradition heisst der obskursten aller Gesellschaftsklassen das Stimmrecht zu verleihen – unseren Vorfahren. Tradition ist die Demokratie der Toten. Sie lehnt es ab, sich der kleinen arroganten Oligarchie derer zu unterwerfen, die zufällig zu einem bestimmten Zeitpunkt herumlaufen.» (Gilbert K. Chesterton: Die Wildnis des häuslichen Lebens, 2006 Berlin, S. 57.) Eine Forderung, die vielleicht unter dem Aspekt der Haltbarkeit der Zivilisation ihren reaktionären Charakter verliert.
[20] „Nicht die Versöhnung hat Marx Hegel vorgeworfen, sondern das Misslingen der Versöhnung“, schreibt Heinrich in seinem frühen Buch: Klaus Heinrich: Versuch über die Schwierigkeit Nein zu sagen, Frankfurt am Main 1964, S. 23.
[21] Siehe: Klaus Heinrich: vom bündnis denken, Frankfurt am Main 2000, 142-146 und 208-210, und Rolf Bossart: Die theologische Lesbarkeit von Literatur. Studien zu einer verdrängten Hermeneutik, Wien 2009, S. 51-56.
* Zuerst veröffentlicht in: sans phrase, Nr. 10, Frühjahr 2017.