Wer Bücher schreibt, muss damit rechnen, dass er missverstanden oder gar für dem Autor fernliegende Zwecke eingespannt wird. Das ist der Sinn des Sprichworts, dass „Bücher ihre Schicksale haben“. Das Wort des aus Nordafrika stammenden Grammatikers Terentianus Maurus (2. Jahrhundert) wird notorisch nur zur Hälfte zitiert: „Pro captu lectoris habent sua fata libelli“, also etwa: „Bücher haben ihre Schicksale je nach dem intellektuellen Format des Lesers“.
Für die deutsche Rezeption des Bestsellers des französischen Sozialwissenschaftlers Didier Eribon („Rückkehr nach Reims“, Suhrkamp) ist genau diese Einschränkung entscheidend. Das deutsche Feuilleton- und Talk-Show-Wesen hat es hingekriegt, das Buch vollkommen zu verfälschen und für politische Nebenzwecke zu instrumentalisieren. In der Kritik wurde Eribon mit allerlei Spekulationen zum „Weltweisen“ gekürt. Eribon wehrte seine Verantwortung und Zuständigkeit entschieden ab: „Hören Sie, ich weiß nicht, was ihr wollt. Ich habe ein Buch über meine Mutter geschrieben und jetzt soll ich Brexit, Trump und die Welt erklären“ und spottete über jene, die sein Buch „zum Geburtsmoment einer neuen Denkergattung“ und ihn selbst zu einem der „klügsten Köpfe Europas“ hochschrieben (Alex Rühle, SZ 25.11.2016; Peter Rehberg, Freitag 8.12.2016; Christiane Müller-Lobeck, taz 29.11.2016). Bei Spiegel-Online (30.6.2016) halluzinierte ein ganz Ahnungsloser sogar „eine neue Lesart von Linkssein“.
Was das Buch wirklich beschreibt: Eribon stammt aus einer Arbeiterfamilie, in der „man“ – also vor allem der Vater – traditionell kommunistisch wählte und sich irgendwo links einordnete. Der junge Eribon ist ein ausgezeichneter Schüler und schafft, was das Schulsystem eigentlich verhindern will: den Erfolg von Arbeiterkindern in der Schule und den sozialen Aufstieg durch eine akademische Ausbildung. Dazu muss man wissen, dass sich die französische Gesellschaft und insbesondere das Schulsystem noch stärker als das deutsche an den Eliten orientiert und gnadenlos aussiebt. Keiner hat das genauer beschrieben als der aus der Provinz Südfrankreichs stammende Bauernsohn Pierre Bourdieu, der sich als ehemaliger Rugbyspieler buchstäblich hochkämpfte in die intellektuelle Elite: „Die feinen Unterschiede“ (1979/82), „Ein soziologischer Selbstversuch“ (2002).
Eribon war nicht ganz so erfolgreich, schaffte einen Studienabschluss an der Sorbonne, scheiterte dann aber an der Promotion und damit zunächst an einer universitären Karriere. Er arbeitete journalistisch dank der Hilfe aus der „schwulen Subkultur“, kam aber weder mit den Leuten von „Libération“ noch mit jenen beim „Nouvel Observateur“ zurecht („meine bloße Gegenwart war ihnen zuwider“) und ging dann in die USA, wo er Lehraufträge und Gastprofessuren bekam auf dem Gebiet der Genderforschung, die an amerikanischen Universitäten gerade Hochkonjunktur hatte. Sein „Interesse für die Geschichte des schwulen Lebens und für die schwule Subjektivität“ waren gefragt. In Yale erhielt er auch einen Preis für seine Arbeiten auf diesem Feld. Nach dieser Qualifizierungstour wurde er schließlich in Frankreich Professor.
Eribon beschreibt diesen Bildungsweg aus zwei Perspektiven – der seiner sozialen Herkunft bzw. „Reproduktionsmechanik“ und „Klassenidentität“, wie Eribon lieber sagt, und derjenigen, die die Entdeckung und Entfaltung seiner sexuellen Orientierung und Entwicklung zu einem Intellektuellen beschreibt, der sein schwules Leben lebt. Mit beidem – seinem Bildungsgang und seiner Homosexualität – entfremdete er sich von seinem Herkunftsmilieu, insbesondere von seinem Vater und seinen Brüdern. Er wollte sich selbst von „sozialer und sexueller Scham“, die sein Leben prägten, befreien. Zur Mutter hielt er lockeren Kontakt, den Rest der Familie traf er zwanzig Jahre nicht mehr. Zur Beerdigung des Vaters fuhr er nicht, sondern besuchte seine Mutter einen Tag danach.
Das Buch ist als Autobiografie angelegt so wie frühere, aber dann vernichtete Ansätze in Romanform. Da ihm die literarische Darstellung seines Lebens nicht gelang, versuchte Eribon im vorliegenden Buch, den Bericht über seinen Bildungsgang und sein Leben sozialwissenschaftlich zu garnieren. Aus der Autobiografie wird so der Bericht über „die Arbeit an meinem Selbst, für meine Neuerfindung und Neuformulierung“. Das geht freilich nicht ab ohne akademisch verbrämte Trivialitäten in jeder Preislage: „Transformationsprozesse des Selbst waren für mich schon immer mit Prozessen sozialer Zugehörigkeit verbunden“. Die banale Einsicht, dass jeder Akt der Befreiung eine Negation des Alten und zugleich eine Affirmation von Neuem bedeutet, kommt kunstgewerblich aufgemotzt so daher: „Man könnte sagen, dass ich in dem Bereich zu dem wurde, der ich bin, im anderen jedoch denjenigen zurückwies, der ich hätte sein sollen.“
Das allein genügte dem ehrgeizigen Autor freilich nicht. Er dekoriert derlei gern mit Hinweisen auf alle französischen Intellektuellen von Sartre und Genet bis Foucault und Bourdieu, differenziert aber dabei nicht einmal zwischen den Begriffen „Aggression“, „Norm“, „Macht“, „Herrschaft“ und „Gewalt“, sondern rührt die fünf Wörter zu einem Brei zusammen und verwendet sie synonym, so als ob verbale Attacken und manifeste körperliche Angriffe in etwa dasselbe wären.
Solche begriffliche Unsensibilitäten gehen mit einem grobschlächtigen sozialen Determinismus einher, den sich Eribon als junger Trotzkist aneignete. So kommt er zur These, Bourdieu sei Soziologe geworden, weil er heterosexuell und bäuerlicher Herkunft gewesen sei, während Foucault durch seine Homosexualität und städtisch-bürgerliche Abstammung bei der Philosophie gelandet sei.
Man kann Eribons Buch als lesenswerten autobiografischen Bericht verstehen. Aber sein Ehrgeiz geht weiter. Als Sozialwissenschaftler möchte er auch seine soziale Herkunft analysieren und zum Beispiel erklären, warum in seiner kommunistischen Familie seit 2002 der rechtsextreme „Front National“ (FN) gewählt wurde. Er geht von der Vermutung aus, Intellektuelle, soziale Bewegungen und linke Parteien hätten es nicht nur verpasst, „negative Leidenschaften“ in den populären Klassen zu „neutralisieren“, sondern regelrecht „Klassenverrat“ begangen, als sie sich vom „Klassenkampf“ von unten verabschiedet und den „Klassenkrieg“ von oben ignoriert hätten und sich hinter den Parolen „Reformen“, „Eigenverantwortung“ und „Rückbau des Sozialstaats“ im linken juste Milieu versammelten. Für einen Sozialwissenschaftler stützt sich Eribon bei solchen ausgreifenden Thesen und Erklärungen auf eine lächerlich dünne empirische Basis – ganze fünf Personen (die Eltern und seine drei Brüder). Er räumt ein, „kaum beurteilen“ zu können, wie sich die sozialen Verhältnisse und Probleme in den Arbeitervierteln durch die Einwanderung verändert und das Wahlverhalten der Menschen beeinflusst haben, aber er „spürte förmlich, wie sich in ehemals kommunistisch dominierten Räumen der Geselligkeit und des Politischen eine rassistische Stimmung breitmachte“. Eribon hat den Wohnort der Eltern über 20 Jahre hinweg nicht mehr besucht, spielt also Wissen nur vor.
Für die These, Kommunisten seien für den Aufstieg des FN verantwortlich, die Eribon explizit gar nicht aufstellt, waren das deutsche Feuilleton und einige Feuilletonsoziologen empfänglich, weil sie zur politischen Großwetterlage und dem Aufstieg der AfD irgendwie zu passen scheint.
Die Feuilletons machten aus der sehr privaten Autobiografie und Familiengeschichte eines jungen Mannes, der gegen familiäre Widerstände und soziale Demütigungen seine Homosexualität leben möchte, ein politisches Buch, das die These begründe, wonach die Wahlerfolge des Front National (FN) auf der Wählerwanderung von der KPF zum populistisch-nationalistischen „Front National“ beruhten.
Mit der von Eribon erzählten Familiengeschichte hat das wenig, mit der Familie Le Pen und der Propaganda des FN sehr viel zu tun. Der Vater Jean-Marie Le Pen, Gründer der Partei, brachte das Gerücht, seine Partei sei die Partei der Arbeiter und Arbeitslosen, schon Ende des letzten Jahrhunderts propagandistisch ins Spiel. Empirische Studien belegen nur, dass zwischen 20 und 30 Prozent der FN-Wähler Arbeiter oder Arbeitslose sind. Der rote Gürtel rund um Paris mit kommunistisch regierten Städten und Gemeinden entstand bereits vor dem Zweiten Weltkrieg und existierte bis in die 70er Jahre. Aber nach 1981, als der Sozialist Mitterrand Präsident geworden war, schrumpfte die Zahl der kommunistisch dominierten Kommunen von 67 auf 41, weil viele kommunistische Wähler sehr unzufrieden waren mit der von ihrer Partei mitgetragenen Politik Mitterrands. Die enttäuschten Wähler wanderten jedoch nicht zum FN ab, sondern zogen sich aus der politischen Arbeit in den kommunistischen Parteizellen zurück und nahmen an Wahlen nicht mehr teil. Zudem verschwanden in den 80er Jahren allein im Département Seine-Saint-Denis 45 Prozent der industriellen Arbeitsplätze, was qualifizierte Arbeiter und Stammwähler der KPF zur Abwanderung zwang. Nachgerückt sind Einwanderer aus Nordafrika. „Die Banlieue wurde zunehmend zum Sammelbecken der pauperisierten und prekarisierten Bevölkerungsschichten“, stellte Lisa Jandi in ihrer Studie 2006 fest.
Der Vater Le Pen benützte wie die Tochter die sozialen Zustände in den Vorstädten und die hohen Kriminalitätsrate für die nationalistische Hetze gegen Immigranten und Kriminelle. 1988 wählten im Département Seine-Saint-Denis schon 20 Prozent der Wähler den FN, aber nur noch 13,5 Prozent die KPF. Kommunisten wanderten aber nicht zum FN ab, sondern wurden zu Nichtwählern.
Nach den EU-Wahlen von 2014, bei denen der FN landesweit einen Wähleranteil von 25 Prozent erreichte, kamen Kommentatoren ins Hyperventilieren und sprachen vom Vormarsch einer „faschistischen Partei“, die bald zum Durchmarsch antrete. Was war tatsächlich geschehen?
Durch die geringe Wahlbeteiligung erhöhte sich der prozentuale Anteil des FN und löste Alarmstimmung aus. Dasselbe passierte bei den Regionalwahlen nach dem ersten Wahlgang, als der FN fast 30 Prozent erreichte. Viele Medien sahen die Partei in drei Regionen schon als Sieger. Die Wahlbeteiligung lag bei 50 Prozent, und die Zahl der Nichtwähler übertraf diejenige der FN-Wähler um das Vierfache. Im zweiten Wahlgang stieg die Wahlbeteiligung auf 59 Prozent. Dadurch und durch den Rückzug der Sozialisten in drei Regionen erreichte der FN in keiner einzigen der 13 Regionen eine Mehrheit. Der angeblich bevorstehende Durchmarsch wurde einfach auf die Präsidentschaftswahlen 2017 verschoben. Wahrscheinlicher wird er aber nicht.
Entgegen dem Gerücht besteht die Wählerbasis des FN nicht aus Arbeitern, Arbeitslosen und sozial Abgehängten, sondern zu 71 Prozent aus Menschen, die sich zur Mittelschicht zählen. Arbeiter, sozial Abgehängte und Arbeitslose bilden dagegen das wachsende Reservoir der Nichtwähler – besonders in den entindustrialisierten Zentren im Norden und Nordosten des Landes. Die Masse der FN-Wähler wohnt nicht in Städten, sondern auf dem Land und in Kleinstädten unter den durch Kredite „verbürgerlichten“ Einfamilienhausbesitzern – Gegenden, die in Frankreich „Banlieue pavillonaire“ (in etwa „Reihenhaus-Banlieue“) heißen. Bei den Nichtwählern ist der Anteil von Arbeitern bedeutend höher als bei den FN-Wählern. Dass dennoch Arbeiter zum FN abwanderten, ist unbestreitbar und hat vor allem mit dem Niedergang der KPF nach 1989 zu tun, wie die empirisch gestützte Analyse von Sebastian Chwala („Der Front National“) belegt, und nicht damit, dass KPF-Wähler in großer Zahl zum FN abwanderten.
Man sollte Eribons Porträt seiner tapferen Mutter anerkennen und seine Autobiographie streckenweise gelungen nennen. Die restlichen Zutaten des Buches kann man nur vergessen.
Didier Eribon, Rückkehr nach Reims. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 238 S., € 18.—
* Erschienen zuerst in Express, Nr. 1 / 2, 2017.
Auch in der Schweizer SP wird Eribons Analyse propagiert. „Ein französischer Denker wird zum Vorbild der SP“, titelte der T.-A. am 16.11.2016. Siehe auch in Konkret 4 / 17 die kritische Rezeption von Thomas Ebermann: „Haben Fehler und Versagen der Linken den Aufstieg der Rechten befördert?“
Franco Bellettini
Der Schluss von Rudolf Walters Beitrag widerspricht
dem Mittelteil , was ihn nicht zu stören scheint .
Die wichtigste Frage , was eine Linke die sich
von den Problemen der Basis entfremdet hat , noch
zu bieten hat , umgeht er mit einer nichtssagenden und formalen Kritik .