Vordergründig erzählt dieses Buch, wie die letzten GAV-Verhandlungen in der Maschinenindustrie eskalierten – und scheiterten: Am 26. April 2013 verliess die Gewerkschaft Unia den Verhandlungstisch. Es war ein Donnerschlag in der Schweizer Sozialgeschichte. Nun drohten Arbeitskämpfe, Streiks, eine Periode sozialer Unrast. Doch die Öffentlichkeit erfuhr davon nichts.
Dieser Bruch war aus Sicht der Gewerkschaft logisch und notwendig. In ihm entlud sich ein lange schwelender Konflikt. Gesamtarbeitsverträge sind das zentrale Instrument der Sozialpartnerschaft. Sie befrieden den Streit der gegensätzlichen Interessen von Arbeit und Kapital. Zu beiderseitigem Nutzen. Im Prinzip. Nur hatten die Arbeitgeber den Kollektivvertrag der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie MEM in den vergangenen drei Jahrzehnten ausgehöhlt und verschlechtert.
Statt Arbeitszeitverkürzungen gab es nach 1988 real Erhöhungen der Arbeitszeit und eine extreme Flexibilisierung. Statt Lohnerhöhungen bröckelnde Löhne für die Qualifizierten und Lohndumping für die Hilfsarbeitenden. Statt mehr Sicherheit für die Arbeitenden einen neuen «Krisenartikel», der den Konzernen erlaubte, den GAV auszusetzen. Und die Arbeitgeber drängten die Gewerkschaft immer stärker aus den Betrieben zurück. Da schienen klare Kräfteverhältnisse am Werk. Eine Absicht ohnehin: Die Aktionäre und ihre Manager rollten die Errungenschaften der «sozialdemokratischen Epoche», der «goldenen Jahre der Sozialpartnerschaft» (1948 bis 1980) wieder auf. Stück um Stück, GAV um GAV.
Höchste Zeit, diesen Reigen der Verschlechterungen zu beenden, fand die Gewerkschaft. Undenkbar, weiter zurückzuweichen. Das war, kritisierten die Arbeiterdelegierten und Gewerkschaftssekretäre der Metaller, längst keine Sozialpartnerschaft mehr. Eher ein immer offener Klassenkampf von oben.
In der Krise nach 2007 hatten auch hochrentable Unternehmen von ihren Belegschaften Gratisarbeit verlangt. Fronarbeit. Zum Beispiel der Bucher-Konzern, der gleichzeitig die Dividenden der Aktionäre um ein Drittel erhöhte. Bucher-CEO Philip Mosimann führte in diesen GAV- Verhandlungen, zusammen mit Swissmem-Direktor Peter Dietrich, die Klassenkampf-Fraktion der Aktionäre.
Corrado Pardini, seit 2008 Leiter des Sektors Industrie in der Gewerkschaft Unia, hatte eine einfache Botschaft für sie: «Wir verlangen einen neuen Sozialpakt. Schliessen wir ihn nicht ab, sind Arbeitsfrieden und Sozialpartnerschaft tot.» Er stellte also die Grundfrage: Waren die Arbeitgeber weiterhin an einem Vertrag mit der Arbeit interessiert? Und waren sie bereit, den Preis für den Arbeitsfrieden zu bezahlen? Die immensen Gewinne zu teilen und neue soziale Fortschritte in den Gesamtarbeitsvertrag zu schreiben? Oder suchten sie den Konflikt mit den Arbeitenden?
Unausgesprochen stellte dies auch eine Frage an die Metaller-Gewerkschaft: War sie fähig und willens, sich aus der jahrzehntealten Bindung an ein Modell zu lösen, das zuerst sehr erfolgreich, dann zunehmend lähmend für die Arbeitenden war? Konnte sie neue Praktiken finden? Hatte sie die Kraft zur Auseinandersetzung?
Die Antwort der Arbeitgeber und ihres Verbandes Swissmem/ASM wurde im Verlauf der Verhandlungen immer deutlicher: Nein, sagte Swissmem, wir sind an dieser Erneuerung der Sozialpartnerschaft nicht interessiert. Was sie wollten, formulierten sie ohne Beschönigung: Der Rückbau sollte weitergehen. Die Arbeitgeber wollten einen weiteren Rabatt-GAV, einen weiteren Pseudo-GAV abschliessen. Ein Blick in den Forderungskatalog der Swissmem genügt, um das zu verstehen (Seite 45).
Zum ersten Mal können wir GAV-Verhandlungen so detailliert nachverfolgen. Was sonst eher diskret hinter verschlossenen Türen stattfindet, wurde diesmal offiziell protokolliert. Das Protokoll ist ein erhellendes Dokument für eine neoliberale Epoche, die trotz Krise in die Verlängerung geht. Wir sehen den Arbeitgebern dabei zu, wie sie versuchen, ein soziales Modell weiter zu demontieren. Und der Gewerkschaft, wie sie beginnt, ihre Gegenoffensive zu organisieren.
Was da im April 2013 zu zerbrechen schien, war nicht irgendein GAV unter vielen. Seit dem «Friedensabkommen» von 1937, das Arbeitergeber und Gewerkschaften zum Gründerakt der Sozialpartnerschaft überhöht hatten, gilt der Vertrag der MEM-Industrie als Mass der sozialen Beziehungen in der Schweiz. 76 Jahre später stand der MEM zum ersten Mal ein vertragsloser Zustand bevor.
Zerbricht der soziale Kompromiss, zerbricht die politische Ordnung. Der gesellschaftliche Frieden, die Konkordanz, die Regierungsbeteiligung der SP und die ganze Aushandlung vorparlamentarischer Kompromisse stehen auf einem wacklig gewordenen Sozialpakt. Denn die neoliberale Gegenreform greift nicht nur den sozialen Kompromiss an. Sie zerstört auch die Grundlagen gesellschaftlicher Sicherheit, am Ende sogar der Demokratie.
Robert Castel, der kürzlich verstorbene grosse französische Sozialwissenschafter («Die Metamorphosen der sozialen Frage»), hat dem Autor die Ergebnisse seiner lebenslangen Forschung mehrmals dargelegt. Er sagte: «Wo der entfesselte Kapitalismus den Gesellschaftsvertrag schleift, die soziale Sicherheit zerstört und Gemeingüter privatisiert, wird der Einzelne zum negativen Individuum: Es kann sich nicht mehr entfalten, es verliert seine Freiheit, es versinkt in Angst vor dem Morgen, in Abgrenzung und Gewalt.» Wie stark das Gefühl einer zunehmenden sozialen Kälte in der Schweiz schon ist, sollte neun Monate nach den MEM-Verhandlungen die Abstimmung über die Abschottungsinitiative enthüllen.
Warum blieb der entscheidende Moment in der MEM der Öffentlichkeit verborgen? An jenem Freitagabend Ende April 2013 erklärte die Unia die Verhandlungen für gescheitert, aber ohne das publik zu machen. Dann politisierte die Gewerkschaft den Konflikt. Pardini rief Bundesrat Johann Schneider-Ammann um Vermittlung an. Damit dieses Vorhaben gelang, musste dies zuerst diskret geschehen. Der Unia-Mann und SP-Nationalrat spekulierte darauf, dass der FDP-Wirtschaftsminister und frühere Swissmem-Präsident die politischen Verwerfungen fürchtete. Die Abstimmungen über die Abschottungsinitiative der SVP und der Mindestlohninitiative der Gewerkschaften lagen voraus.
Gescheitert waren die Verhandlungen an der Frage der Mindestlöhne. Ein Dreivierteljahrhundert lang hatten die MEM-Arbeitgeber die Löhne aus den GAV draussen gehalten. Es war ihre Methode, die Gewerkschaften nicht in die Betriebe zu lassen. Ökonomisch waren Mindestlöhne, das brachten die Verhandlungen an den Tag, für die Unternehmen kein Problem. Aber die Arbeitgeber verharrten im Dogma: Löhne dürfen nicht in den GAV. Es hätte bedeutet, die Gewerkschaft tatsächlich als vollwertige Gesprächs- und Sozialpartnerin zu akzeptieren.
Doch Pardini hatte richtig vermutet: Der Arbeitgeber-Bundesrat Schneider-Ammann setzte, gegen erheblichen Druck der Swissmem, einen Vermittler ein. Die Arbeitgeber standen unter Schock, und sie stehen es bis heute. So kannten sie «ihre» Gewerkschaft nicht. Die Unia-Delegation war nicht nur gut vorbereitet zu den Verhandlungen erschienen. Sie verhandelte auch konfliktiv, hart und auf Augenhöhe. Vorbedingungen wie den «absoluten Arbeitsfrieden» (Swissmem-Präsident Hans Hess) lehnten sie kategorisch ab.
Swissmem drängte die Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, sich dem neoliberalen Glaubenssatz zu unterwerfen. Der behauptet, dass allen diene, was dem Unternehmen zu mehr Profit verhelfe. Unsinn, sagten die Unia-Leute: Eure Interessen sind andere als unsere. Seid ihr bereit zum Kompromiss? Besonders irritierend für die Patrons: Die Gewerkschaft war offenbar dafür gerüstet, auch ohne GAV aus den Verhandlungen zu gehen.
Über Löhne reden wir nicht, hatten die Arbeitgeber gesagt: «Sie sind die private Domäne jedes Unternehmens.» Doch die Unia zwang Swissmem, sieben Monate lang fast nur über die Mindestlöhne zu reden. Das trieb die Swissmem-Vertreter Hess, Direktor Dietrich und die anderen zur Weissglut.
In vielen Branchen sind die Lohndiskussionen zwischen Gewerkschaft und Arbeitgebern üblich. Die Metaller-Sozialpartnerschaft aber litt unter diesem fundamentalen Baufehler, den Swissmem sogar als Forderung formulierte: «Die Sozialpartnerschaft muss weiterhin vor allem betrieblich stattfinden.»
Am Ende, als durch die bundesrätliche Mediation dann doch ein Gesamtarbeitsvertrag zustande kam, war es ein GAV mit zwei Mindestlohn-Stufen. Nicht einmal in der Unia verstanden alle genau, was der Gewerkschaft da gelungen war: Sie hatte die alte «Sozialpartnerschaft» in der MEM begraben und eine neue erfunden. Zumindest hatte sie den ersten Schritt dieser Neuschöpfung getan: Künftig werden die Arbeitgeber mit der Gewerkschaft über Löhne verhandeln müssen. Und über ihre konkrete Anwendung. Die Unia hat wieder einen Fuss in den Fabriktoren der MEM-Betriebe.
Wie wegweisend das ist, zeigt die jüngere Geschichte der Metaller-Gewerkschaft. Der Schweizerische Metall- und Uhrenarbeiterverband SMUV, der 2004 mit der GBI zur Unia fusionierte, wies einen hohen Organisationsgrad auf, und er galt als mächtig. Leicht konnte man übersehen, wie sehr seine zahlreichen Erfolge durch eine enge Kooperation mit den Arbeitgebern erkauft waren. Als die Aktionäre und Manager ihr Geschäftsmodell änderten, vermochte die Gewerkschaft dem Abbau der sozialen Errungenschaften im GAV und dem Umbau der MEM-Industrie durch das Finanzkapital nur wenig entgegenzusetzen. Die Gegenreform der Arbeitgeber enthüllte, wie schwach der SMUV in den Betrieben verankert war. Und die Gewerkschaftssekretäre wandten sich, wie der langjährige SMUV-Präsident und Unia-Copräsident Renzo Ambrosetti schreibt (Seite 273), immer mehr von den Betrieben ab. Folgen: Rascher Mitgliederschwund und Demobilisierung. Auch gewerkschaftliches Denken folgt Mainstream-Moden. Industrielle Produktion, sagten die neoliberalen Professoren und Politiker, habe in der Schweiz keine Zukunft. China und andere «Schwellenländer» seien nun die Fabrik der Welt. Viele Gewerkschafter dachten genauso.
Da kommt eine andere Geschichte ins Spiel, die sich unter der Oberfläche dieser GAV-Verhandlungen abspielte. Die Unia-Delegation forderte von den Arbeitgebern eine gemeinsame Plattform für Industriepolitik. Sie soll das Fundament einer neuen Sozialpartnerschaft werden. Verhandlungsleiter Pardini sagte: «Die Zukunft der Schweiz liegt in der Industrie, nicht im Finanzplatz.» Das war eine Aufforderung an die Besitzenden, wieder mehr in den Werkplatz zu investieren. Frappierend in diesen Protokollen ist: Die Rollen waren oft getauscht. Über längere Strecken gerieten die Arbeitgeber in die Defensive. Nun führten sie, die doch den GAV eigentlich zur Versicherung für noch höhere Gewinne ausbauen wollten, einen Abwehrkampf.
Das brachte überraschende Resultate hervor. Die Mindestlöhne sind das eine. Weniger offensichtlich, aber vielleicht noch wichtiger ist: Die offensive Verhandlungsführung, Pardinis Bekenntnis zu einer «konfliktiven Sozialpartnerschaft» und die Mindestlöhne führten die Industrie in die Gewerkschaft zurück. Der SMUV ist endlich in der Unia angekommen. Von Pardini wird in diesem Buch immer wieder die Rede sein. Das ist verzerrend, weil hinter einer Gewerkschaft immer viele Köpfe und Gesichter stehen. Und es ist ungerecht gegenüber seinen Vorgängern, auf deren Schultern er steht. Aber es dient der Klarheit. Allein hätte Pardini nicht viel bewegt, doch der gelernte Maschinenschlosser ist die treibende Kraft hinter dieser Renaissance der Industrie in der Unia. Jede Situation ist aus objektiven Verhältnissen geboren und braucht doch subjektive Täter.
Nach den langen Jahren neoliberalen Umbaus (der Publizist Serge Halimi nennt es «den grossen Sprung zurück»), schien nicht nur die politische Arbeiterbewegung erledigt, sondern auch die Kraft der Gewerkschaften erschöpft. Die Gründung der Unia setzte einen machtvollen Kontrapunkt. Sie bewies, was der deutsche Gewerkschaftsforscher Klaus Dörre schon 2008 im Buch «Strategic Unionism» formulierte: «Die Gewerkschaften haben auch unter erschwerten Rahmenbedingungen eine strategische Wahl. Sie verfügen über Handlungsoptionen und sind potentiell in der Lage, sich auf die Realitäten des veränderten Kapitalismus einzustellen.»
Aber die Industrie? In der Innenwahrnehmung der Unia gab man dem Sektor Industrie keine hohe Lebenserwartung. Welche «strategische Wahl» sollte er denn haben, bei schwindender Mitgliedschaft, überteuertem Franken, Auslagerungen und einer langen Tradition von Unterordnung? Die Industrieleute zeigten, wie das geht. Ihre erste Wahl bestand darin, nur einen GAV abzuschliessen, wenn er Mindestlöhne enthielt.
Mindestlöhne, weil sie die überkommene Sozialpartnerschaft aufbrechen. Die zweite Wahl war die dominante Verhandlungsführung. Als dies zu scheitern drohte, setzte Pardini, dritte Wahl, die institutionelle Macht der Gewerkschaft ein: Schneider-Ammann waren der soziale Frieden und die formelle Sozialpartnerschaft wichtiger als Zugeständnisse beim Mindestlohn. Institutionelle Macht funktioniert manchmal auch, wenn ihre realen Grundlagen (zum Beispiel ein hoher Organisationsgrad, also strukturelle Macht) schon angekratzt sind. Bei allem half die Tatsache, dass die Unia als Grossgewerkschaft beträchtliche Organisationsmacht hat.
Schliesslich beschloss der neu aufgestellte Industriesektor, die Resultate der GAV-Verhandlungen zu nutzen, um nun, Betrieb für Betrieb, die «konfliktive Sozialpartnerschaft» Realität werden zu lassen: Mit der Durchsetzung der Löhne, mit dem Kampf gegen den Krisenartikel, mit vielen Interventionen Mitglieder und Sympathisanten zu gewinnen. Und diese Arbeitenden zu eigener Handlungsfähigkeit zu ermächtigen. Also ein Stück klassischer gewerkschaftlicher Macht gegen neue, aktive, selbstverantwortliche Vertrauensleute zu tauschen. Es ist, sagt Pardini, «ein Kampf um die Köpfe». Dies wäre eine echte strategische Wahl.
So entfaltet sich in der «kleinen» Geschichte um einen einzelnen GAV für die MEM die grössere Geschichte gewerkschaftlicher Renaissance in der Industrie.
* Bei diesem Text handelt es sich um das «Intro» zu Heavy Metall. Wie sich eine Gewerkschaft in der Industrie neu erfindet von Oliver Fahrni, erschienen 2014 im Seismo Verlag, Zürich. Wir danken dem Seismo Verlag für die Abdruckgenehmigung.