Vor fünfzig Jahren, im Herbst 1966, erschien die Negative Dialektik, eines der wichtigen Werke Theodor W. Adornos. An diesem Buch arbeitete er mehr als sechs Jahre. Während dieses Zeitraums verfasste er Aufsätze, hielt mehrere Vorlesungen und bot mehrere Seminare an, die sich mit den Themen des Buches befassten. Die Negative Dialektik zählte er zu jenen Werken, die er „in die Waagschale zu werfen habe“ (vgl. Adorno 1970: 537). Doch nicht, weil das Buch ein bedeutender Beitrag zur philosophischen Diskussion über Dialektik ist, soll es hier gewürdigt werden, sondern weil es einen der Meilensteine in der Entwicklung der marxistischen Theorie darstellt. An den Zusammenhang dieses Buches mit dem Marxismus und seine Bedeutung für ihn gilt es zu erinnern. Adornos Überlegungen stellen ausdrücklich ein kritisches Verhältnis zur 11. Feuerbach-These her: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“ (Marx 1845, MEW 3: 7) Doch was ist, wenn die Bemühungen, die Welt zu verändern, gescheitert sind, man sich gleichwohl nicht entmutigen lassen, nicht aufgeben will und die Ziele weiterhin für richtig hält? Betrifft dies nicht auch die Theorie? Muss dann nicht die Frage nach der „Interpretation“, nach der Theorie, nach den Subjekten der Theorie neu, nach einer Erneuerung der Theorie und der Intellektuellen gestellt werden? Adorno stellt diese Frage gleich zu Beginn des Buches: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward. Das summarische Urteil, sie habe die Welt bloß interpretiert, sei durch Resignation vor der Realität verkrüppelt auch in sich, wird zum Defaitismus der Vernunft, nachdem die Veränderung der Welt mißlang.“ (Adorno 1966: 15)
Das ist kein nachträglicher Triumph für die Philosophie. Sie hat sich historisch überlebt; es geht nicht um die naive Fortsetzung oder gar restaurative Wiederbelebung einer besonderen akademischen Wissenspraktik. Adornos Buch ist kein fachphilosophisches Buch. Wenn Philosophie fortgesetzt werden kann oder besser: fortgesetzt werden muss, dann, weil es nicht zu jener Verwirklichung der Theorie kam. An jenen folgenreichen Moment, an dem sich Theorie und Geschichte erneut auseinander traten, muss erinnert werden, weil er die Geschichte dieser Gegenwart ist und sich immer noch vollzieht. Adornos Geste der reflexiven Hinwendung zur theoretischen Praxis ist bedeutend: in der Theorie nicht von Bewegung zu Bewegung zu springen, von Triumph zu Triumph zu eilen und sich nur für Erfolge zu interessieren, sondern das Scheitern, die Niederlagen für die Theorie ernst zu nehmen – und dies nicht kleingläubig, um ein Zeichen der Resignation zu setzen, wie Adorno oft von jenen missverstanden wurde, die das Projekt der Emanzipation nicht einmal in ein paar aufgeregten Jugendjahren teilen sollten, um sich von ihm dann abzuwenden, sondern die Theorie der Emanzipation zu erneuern und dieser neue Impulse zu geben. „Was in Hegel und Marx theoretisch unzulänglich blieb, teilte der geschichtlichen Praxis sich mit; darum ist es theoretisch erneut zu reflektieren, anstatt daß der Gedanke dem Primat von Praxis irrational sich beugte; sie selbst war ein eminent theoretischer Begriff.“ (Adorno 1966: 147) Die selbstreflexive Geste von Adorno ist also keine Resignation, sondern motiviert davon, einem „veränderten Vernunftbegriff“ zuzuarbeiten (Adorno 1969: 292). Dazu wendet er sich gegen die von Linken wie Karl Korsch oder den VertreterInnen des sogenannten dialektischen Materialismus (Diamat) in Anspruch genommene Einheit von Theorie und Praxis. In dieser vermeintlichen Einheit komme es, für Adorno ein Hinweis auf das Scheitern der Theorie, zu ihrer Unterordnung: „Die Forderung der Einheit von Praxis und Theorie hat unaufhaltsam diese zur Dienerin erniedrigt; das an ihr beseitigt, was sie in jener Einheit hätte leisten sollen. Der praktische Sichtvermerk, den man aller Theorie abverlangt, wurde zum Zensurstempel. […] Das Verhältnis beider Momente zueinander ist nicht ein für allemal entschieden, sondern wechselte geschichtlich. Heute, da der allherrschende Betrieb Theorie lähmt und diffamiert, zeugt Theorie in all ihrer Ohnmacht durch ihre bloße Existenz gegen ihn.“ (Adorno 1966: 146f).
Tatsächlich haben die Linken und ihre marxistische Linie, auf die Adorno Bezug nimmt und in die er sich mit seinen Texten einschreibt, eine lange Geschichte von Niederlagen erfahren. Dazu gehört die gescheiterte Revolution von 1848, die Niederschlagung der Pariser Kommune, das Scheitern der Revolutionen in Westeuropa nach dem Ersten Weltkrieg und die Zerschlagung der Rätebewegung, die autoritären Dynamiken innerhalb der Linken selbst und schließlich der Nationalsozialismus mit all seinen Verbrechen – zu denen nicht zuletzt gehörte, den Marxismus als höchste Stufe der Aufklärung und die ihn vertretenden Intellektuellen zu verfolgen: „Der Marxismus muß sterben, damit Deutschland leben kann.“ (Vgl. die Rede Hitlers am 10.2.1933.) Diese Barbarei war – im Sinne einer negativen Dialektik – nicht das Andere der Zivilisation, sondern sie konnte sich auf die moderne staatliche Organisation, auf die Demokratie, auf die Universitäten, auf die fortgeschrittenen Wissenschaften und technischen Entwicklungen, auf die neuesten Medienpraktiken und weiträumigen Transportsysteme stützen (vgl. Adorno 1966: 359). Die marxistische Tradition muss diese Niederlagen zum Anlass nehmen, über ihre eigenen Unzulänglichkeiten nachzudenken. Die marxsche Theorie kann eine neue Bedeutung gewinnen und der Marxismus fortgesetzt werden, wenn er die eigene Theorie und ihre Praxis sowie den Anspruch auf einen veränderten Vernunftbegriff ernst nimmt. In der kritischen Theorie müsse „der Marxismus – ohne daß er aufgeweicht würde – sich selbst kritisch reflektieren“ (Adorno 1969: 292).
Negative Dialektik – Neufassung der marxistischen Theorie
Kritische Theorie ist für Adorno also intern mit Marxismus verbunden; sie ist die Fortsetzung des Marxismus, die Form, in der er sich selbst reflektiert; das bedeutet umgekehrt aber auch, dass die marxistische Theorie durch diese Reflexion, durch dieses Stadium der kritischen Theorie hindurch gehen muss, wenn sie ihren emanzipatorischen Gehalt bewahren und erneuern will. Über die Angemessenheit und das Potenzial der Theorie entscheidet also nicht allein die richtige, objektiv-sachliche Einschätzung der konkreten Situation der bürgerlichen Gesellschaft. Es ist für die Theorie selbst konstitutiv, die historische Konstellation durch das Verhältnis der Theorie zur Praxis, also ihre eigene theoretische Praktik zu bestimmen. Denn ihre besondere Form, ihre spezifische soziale Praxis, ihre Ansprüche, ihre Begriffe, Gegenstände und Argumentationsweisen ebenso wie der von ihr ausgearbeitete Begriff der Praxis können autoritäre Folgen haben oder der Grund dafür sein, dass sie die Individuen nicht erreicht, um zu jener mobilisierenden Kraft und Einsichtsfähigkeit beizutragen, die zu verändernder Praxis im emphatischen Sinn führt. Wissenschaft ist, Adorno zufolge, nicht die geeignete Form. Als eine der Produktivkräfte sei sie mit den Produktionsverhältnissen verflochten und unterliege jener Verdinglichung, „gegen welche die kritische Theorie sich richtet. Sie kann nicht das Maß der kritischen Theorie, diese kann nicht Wissenschaft sein wie Marx und Engels es postulierten.“ (Adorno 1969: 292) Wissenschaften, die sich als einzelwissenschaftliche Disziplinen in die gesellschaftliche Arbeitsteilung einfügen, bieten nicht den Raum für eine reflektierte Neufassung der marxistischen Theorie und für die Arbeit an einem veränderten Vernunftbegriff, der sich dessen bewusst ist, dass auch noch die Bestrebungen nach Emanzipation der Dialektik der Aufklärung unterworfen sein und in Barbarei umschlagen können.
Dies umreißt das Selbstverständnis der Negativen Dialektik, die als eine der großen Innovationen der marxistischen Theorie begriffen werden muss. Das wird von Adorno nicht plakativ annonciert, aber die Absichten und Argumente lassen sich deutlich erkennen und verfolgen in den Texten, die seit den 1930er Jahren von den Vertretern der Kritischen Theorie formuliert wurden. Insofern ist es in systematischer Hinsicht irreführend, wenn in der neueren Literatur dieser Zusammenhang weitgehend außer Betracht gelassen wird (vgl. Seel 2006: 56ff; Honneth/Menke 2006; Sommer 2016); umgekehrt wird die Bedeutung von Adornos Überlegungen für eine marxistisch zu verstehende Dialektik kaum angemessen gewürdigt (vgl. Haug 1995). Mit seinem Buch setzt Adorno Überlegungen fort, die in der Dialektik der Aufklärung zum ersten Mal formuliert wurden. Dieses gemeinsam von Max Horkheimer und ihm verfasste Buch versucht, jenen Schock der Niederlage begrifflich zu fassen, den die Vertreter der Kritischen Theorie nicht im Sinn allein einer historisch-politischen Niederlage erfuhren, sondern einer, die die Theorie selbst berührte. In den großen, programmatischen Texten der Kritischen Theorie, die insbesondere von Max Horkheimer während der 1930er Jahre als Fortsetzung und Aktualisierung der marxschen Theorie ausgearbeitet wurden, stand im Zentrum die Überzeugung, dass Marx an das Emanzipationspotenzial des Bürgertums angeknüpft hatte, vor allem an den Begriff der Vernunft. In seiner Theorie habe dieser Begriff die dem Entwicklungsstand der bürgerlichen Gesellschaft gemäße kritische Gestalt angenommen. Wenn es dem Idealismus darum gegangen sei, die Wirklichkeit zu vergeistigen und zu verklären, so bedeutete die materialistische Wendung, die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Gesamtheit zu begreifen, zu gestalten und vernünftig zu planen. Damit sollte der Widerspruch von Allgemeinem und Partikularem aufgehoben werden, wie er für die bürgerliche Gesellschaft charakteristisch ist. Der Liberalismus erwartet, dass sich aus der Vielzahl von individuellen Nutzenverfolgern das Allgemeine und die größere Wohlfahrt für alle ergeben würden.
Doch das geschieht nicht. Vielmehr verhält es sich so, einem Argument von Marx zufolge, dass die kapitalistisch formierte Gesellschaft rational im Einzelnen ist, also dort, wo nach dem Gesichtspunkt des einzelwirtschaftlichen Profitgesichtspunkts die Unternehmensabläufe aufs Äußerste kontrolliert, geplant und gelenkt werden. Im Ganzen jedoch besteht Irrationalität: Externalisierung der Folgen, Konkurrenz, Arbeitslosigkeit, Kriege oder Krisen, Zerstörung von individuellen Lebensperspektiven und gesellschaftlichem Reichtum. Zahllose Anstrengungen werden aufgeboten, um diese Irrationalitäten dann sekundär wieder zu bewältigen oder zu integrieren und die immer wieder scheiternde Einheit der Gesellschaft zu erzwingen (vgl. Demirović 2015). Die kritische Gesellschaftstheorie nimmt demgegenüber in Anspruch, den Begriff der Vernunft von der Einzelrationalität der ihren Nutzen verfolgenden Akteure oder den Einzelwissenschaften auf die Gesellschaft als ganze auszudehnen. Dies ist jedoch nur möglich, wenn das Zusammenleben der Menschen von ihnen selbst vernünftig geplant werden würde. Vernunft ist, so verstanden, also nicht nur ein Erkenntnisvermögen, sondern wird praktisch und gegenständlich, sie stellt ein Verhältnis zwischen Menschen und der Welt dar.
Aufklärung und Vernunft
Dass die Vernunft gegenständlich, wirklich werden soll, ist kein abstrakter Wunsch. Denn sie ist dies in gewisser Weise immer schon. In der Wirklichkeit ist das Moment von Vernunft und Planung enthalten, denn die Arbeit der Einzelnen, mit der sie Natur aneignen, beruht auf Erkenntnis und ist begrifflich organisiert. Das Resultat der Arbeit ist ideell schon vorhanden (vgl. Marx 1873, MEW 23: 193). Es entsteht ein Kreislauf zwischen dem Begreifen, Wahrnehmen, Fühlen, Arbeiten und wiederum der sinnlichen Erfahrung und Erkenntnis der Wirklichkeit. Was die Menschen wahrnehmen, ist von ihnen selbst durch verändernde Arbeit in der Natur und in der Gesellschaft erzeugt. „Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstands und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs. […] Auf den höheren Stufen der Zivilisation bestimmt die bewußte menschliche Praxis unbewußt nicht bloß die subjektive Seite der Wahrnehmung, sondern in höherem Maß auch den Gegenstand. […] Diese sinnliche Welt trägt die Züge der bewußten Arbeit an sich, und die Scheidung, was davon der unbewußten Natur, was der gesellschaftlichen Praxis angehört, ist real nicht durchzuführen.“ (Horkheimer 1988: 174f) Zwischen der Vernunft und der gegenständlichen Welt gibt es dieser praxisphilosophischen Überlegung Horkheimers zufolge eine interne Vermittlung. Die gegenständliche Welt darf nicht unter der „Form des Objekts“ (Marx 1845, MEW 3: 5) gesehen werden, vielmehr lässt sie sich als eine von Menschen bearbeitete und konstituierte begreifen. Deswegen wohnt ihr Vernunft inne. Die Philosophie der Praxis zielt darauf, diese schon in der konkreten Welt vorhandene Vernunft weiter zu entfalten. Im weiteren Prozess durchdringt die Vernunft diese Welt immer weiter und organisiert sie nach ihren Prinzipien, so dass sich Subjekt und Objekt immer weiter durchdringen und beide eine Einheit bilden, in der das Subjekt, also die vernünftige Menschheit, durch seine Begriffe und seine Praxis das Objekt bestimmt.
Die Welt, wie sie ist, verwirklicht Vernunft. Dies bildet die Grundlage dafür, dass sich die Menschen erhalten. Doch ist diese Selbsterhaltung von Herrschaft bestimmt und durchdringt auch die Vernunft selbst. Die Theorie und die Vernunft werden Teil der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Sie werden von der körperlichen Arbeit isoliert und nehmen selbstständige Gestalt insbesondere in den Wissenschaften an. Die Theorie wird auf ihre aus der kapitalistisch bestimmten beruflichen Arbeitsteilung erwachsenden wissenschaftsdisziplinären Formen und Berufe verkürzt. Auf diese Weise wird der Gesamtprozess verkannt (vgl. Horkheimer 1988: 171ff). Die Welt besteht jedoch nicht aus isolierten Faktizitäten, die passiv darauf warten, klassifiziert, disziplinär zugerechnet und unter bestimmte Kategorien subsumiert zu werden. Doch die Ignoranz gegenüber der internen Vermittlung und wechselseitigen Verweisung der gegenständlichen Welt und ihre verfügende Zergliederung entsprechen dem ausbeutenden Selbstverständnis von Herrschaft. Wenn die Welt nun in dieser bestehenden Form schon vernünftig ist, dann ist die Vernunft kein kritischer Maßstab mehr, sondern affirmativ. Bestätigt wurde diese Befürchtung nach dem Verständnis der kritischen Theoretiker in einem weltgeschichtlichen Ausmaß, als mit den Planungsversuchen in der Sowjetunion Herrschaft über Menschen und Natur keineswegs verringert wurde. Auch der Nationalsozialismus nahm für sich umfassende Planung in Anspruch: „Nicht die Planenden herrschen (das war der Irrweg der Utopie), sondern die Herrschenden planen“, wie Hans Freyer (1933: 31) dies im Namen der völkischen Revolution auf den Punkt brachte (vgl. Marcuses Besprechung in der Zeitschrift für Sozialforschung Jg. 2, 1933: 272f). Planung stellt also keineswegs als solche schon eine Alternative zu Herrschaft dar, sondern lässt sich von dieser durchaus instrumentalisieren. Dies tangiert aber auch den Begriff der Vernunft selbst. Denn wenn Vernunft umfassend die Wirklichkeit ebenso wie die menschlichen Sinne und ihr Denkvermögen organisiert, dies aber nicht zu Emanzipation, sondern zu einem immer noch dichteren Herrschaftszusammenhang führt, dann sind die praxisphilosophischen Überlegungen, wie sie Horkheimer angestellt hatte, im Kern berührt. Vernunft ist dann kein Maßstab der Emanzipation mehr, sondern schlimmer noch, die Emanzipationsbestrebungen und die sie orientierenden und mit ihnen verbundenen Begriffe sind ihrerseits der Dialektik der Aufklärung unterworfen. Anders gesagt: Werden die praxisphilosophischen Begriffe einer vernunftgemäßen Gestaltung der Welt verfolgt, dann deutet alles darauf hin, dass sich die Verhältnisse zu einer Totalität ausbilden, in der die Menschen zwar ihre Vernunft verwirklichen, dies aber gerade nicht zu Emanzipation führt, sondern zu einem höchsten Maß an Unfreiheit. Entsprechend reproduziert sich die verhängnisvolle Dialektik von Aufklärung und Mythos immer weiter und auf höherer Stufenleiter.
Die Frage stellt sich, ob Aufklärung und Vernunft unvermeidlich dem Immer-Gleichen solcher Umschläge von Aufklärung in Gegen-Aufklärung unterworfen sind oder ob sie radikaler begriffen sich selbst aus diesem verhängnisvollen Kreislauf befreien können – und zwar mit den Mitteln der Vernunft, weil ein anderer Begriff als der der Vernunft nicht zur Verfügung steht. Deswegen nehmen Horkheimer und Adorno eine grundlegende Kritik und Selbstkritik der Vernunft in Angriff. Sie wollen aufzeigen, dass und warum die Aufklärung historisch bislang scheiterte. Mit der Vernunft verbindet sich der Anspruch, die Welt von der Seite des Subjekts zu gestalten, sie vollständig zu durchdringen und alle Aspekte derart zu vermitteln, dass sie sich einer Totalität einfügen. Nichts darf anders sein, alles muss sich dem konstitutiven Subjekt, seinem Bewusstsein und Willen, seiner Vernunft fügen. Was sich dem verfügenden und planenden Zugriff, dem Kommando über Arbeit und Natur nicht unterwirft, muss eliminiert werden. Subjekt und Objekt bilden auf diese Weise eine zwanghafte Einheit, in der das Subjekt den Anspruch erhebt, bestimmend zu sein. Unter den Bedingungen von Herrschaft kommt es zwischen der Vernunft der Menschen und der Welt zu einer Tautologie. Deswegen können Horkheimer und Adorno sagen, dass die Aufklärung totalitär sei (vgl. Horkheimer/Adorno 1947: 28).
Die nach herrschaftlichen Gesichtspunkten arbeitsteilig gegliederte Vernunft, die ihre eigene totalitäre Dynamik nicht durchschaut, bleibt naturverhaftet. Sie entzieht sich nicht den Zwängen der herrschaftlich organisierten Naturaneignung. Dies bedeutet, dass Zusammenhänge zerrissen werden: hier das Subjekt, das mit sich identisch zu sein glaubt und Kategorien setzt, die es der gegenständlichen Welt – Natur und Gesellschaft – aufzwingt; dort die gegenständliche Welt, die als außerhalb des Verhältnisses zu den Menschen stehend gedacht wird. Um zu überleben, scheint es erforderlich zu sein, dass sich die Menschen den Naturzwängen unterwerfen und diese durch Anpassung in die Gesellschaft selbst hinein nehmen: mit der Annahme, dass angesichts der materiellen Not im Prozess der Naturaneignung das Überleben der Einzelnen nur gesichert ist, wenn das Ganze überlebt und im Zweifelsfall die Einzelnen geopfert werden müssen, dass deswegen die Starken den Vorrang vor den Schwachen haben, dass es Menschen gibt, die den Überblick und das allgemeine Wissen haben, das sie ermächtigt, die anderen zu kommandieren, zu führen, unterzuordnen. In solchen Allgemeinheiten wie Göttern und Gott, Markt, Nation, Rasse oder Staat, die das Primat vor den Einzelnen haben und über diese sich hinwegsetzen, im Hinnehmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und dem Kommando über die Arbeit, in der Formierung einer stabilen, starren, männlichen Identität, die sich der zu beherrschenden Welt entgegensetzt, behauptet sich die Naturgeschichte in und durch die Aufklärung über die Freiheit der Menschen.
Aufklärung vollzieht sich historisch bislang durch Widersprüche hindurch. Es gibt keinen historischen Zeitpunkt vor der Aufklärung, auch die ersten Mythen waren bereits Aufklärung, denn sie trugen dazu bei, Natur zu erhellen, Furcht und Not von den Menschen zu nehmen, Kooperation zu ermöglichen, das Überleben zu gewährleisten und neue Freiheit zu erschließen. Doch aufgrund ihrer inneren Dynamik geht Aufklärung immer wieder in den Mythos über – auch noch die Wissenschaft wird zu einer zwingenden Gewalt und verliert insofern ihre aufklärend-emanzipatorische Bedeutung. Um Natur zu beherrschen, bilden sich übermächtige allgemeine Instanzen aus und statten einige wenige Individuen mit der Macht und dem Recht aus, im Namen jener Allgemeinheit das menschliche Zusammenleben zu organisieren. So erscheint die Herrschaft des Allgemeinen prinzipiell für das menschliche Zusammenleben als notwendig, um das Überleben der Einzelnen zu sichern. Die Ursache für diesen kreislaufartigen Prozess, in dem sich das Immer-Gleiche der Herrschaft erneuert, erblicken Horkheimer und Adorno in einem Mangel an selbstreflexiver Aufklärung der Aufklärung. Diese begreift sich selbst nicht in der Fatalität ihrer Umschläge. Sie ist so damit beschäftigt, die Gesetzmäßigkeit in der Welt ‚da draußen‘ zu begreifen und jede Stufe der Aufklärung für die letzte zu halten, dass sie nicht wahrnimmt, wie sie selbst Teil des mythischen Verhängnisses ist – wie aber auch der Mythos wieder in Aufklärung übergeht. Diese Fatalität stellt sich ein, weil Vernunft innerhalb der Logik der gesellschaftlichen Arbeitsteilung funktioniert – ein partikulares Moment, das sich als Allgemeinheit missversteht – und nicht durch Selbstbesinnung aus dieser heraustritt, sich selbst nicht als Fortsetzung von Natur und als Moment in einem Prozess zwischen Gesellschaft und Natur versteht, sondern unterstellt, das Denken könne allein bei sich bleiben und aus sich heraus die gegenständliche Welt bestimmen. „Wenn das Denken bewußtlos seinem Bewegungsgesetz folgt, wendet es sich wider seinen Sinn, das vom Gedanken Gedachte, das der Flucht der subjektiven Intentionen Einhalt gebietet. Das Diktat seiner Autarkie verdammt Denken zur Leere; diese wird am Ende, subjektiv, zur Dummheit und Primitivität. Regression des Bewußtseins ist Produkt von dessen Mangel an Selbstbesinnung.“ (Adorno 1966: 152)
Dialektik nach Adorno
Die Kritik des Denkens in seiner bisherigen historischen Gestalt zielt keineswegs allein auf einen Bewusstseinsakt, sondern auf eine Objektivität: eine intellektuelle Praxis, die als Vernunft gilt, aber nur ein Moment des Herrschaftszusammenhangs ist. Dieser Herrschaftszusammenhang besteht aus der Ordnung der Dinge, der Ordnung der Wörter, der Ordnung des Zusammenlebens. Alles bildet einen Zusammenhang, in dem diese Welt als mit sich identisch erkannt wird: Kontinuitäten und Allgemeinheiten, die ihrem Prinzip nach als unveränderlich gelten – der Staat, die Familie, das Recht, der Markt, das Geld, der Krieg, die Anpassung. Sie bilden ein Ganzes, eine Totalität, in das sich jedes Moment als ein notwendiges Moment einfügt. Seine Freiheit und seinen vollen Sinn erlangt es, wenn es zu einem vermittelnden Moment in der Reproduktion dieses Ganzen wird. Dieses Denken, seine Begriffe, die damit verbundene gesellschaftliche Arbeit und kollektiven Praktiken erzeugen den Zusammenhang als herrschenden Zusammenhang, in dem diejenigen, die herrschen, im Namen des Überlebens aller die Prinzipien zur Geltung bringen, die den Herrschaftszusammenhang erhalten. Dieses herrschende Denken ist seit der frühesten Aufklärung gekennzeichnet durch den Begriff der Äquivalenz: vom Besonderen wird abgesehen, um die einzelnen Dinge mit den Begriffen gleich zu machen, um sie aneignen und kontrollieren zu können. Aufklärung sei die radikal gewordene, mythische Angst, nichts Unbekanntes solle es mehr geben, nichts dürfe mehr draußen sein (vgl. Horkheimer/Adorno 1947: 38). Die bürgerliche Gesellschaft stellt für Adorno die volle Entfaltung dieses Herrschaftszusammenhangs zu einer sich mehr und mehr abschließenden Totalität dar. Denn entscheidend wird nun der Tauschakt der lebendigen Arbeit gegen den Lohn. „Die durch ‚Produktion‘, durch gesellschaftliche Arbeit nach dem Tauschverhältnis zusammengeschlossene Welt hängt in allen ihren Momenten von den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Produktion ab und verwirklicht insofern in der Tat den Vorrang des Ganzen über die Teile; darin verifiziert die verzweifelte Ohnmacht eines jeden Individuums heute den überschwenglichen Hegelschen Systemgedanken.“ (Adorno 1963: 274)
Das universale Tauschverhältnis ist kein anonymer, fetischhafter Sachzwang, sondern steht selbst unter der Herrschaft der über die gesellschaftliche Produktion Verfügenden (ebd.). Es ist Herrschaft, die das Klassenverhältnis hergestellt – Adorno hat recht, auch wenn er Marx missversteht: „Das ist natürlich eine der Marxischen Theorie gegenüber vollkommen häretische Ansicht, weil Marx ja geglaubt hat, gerade umgekehrt die Herrschaft aus dem Tauschverhältnis ableiten zu dürfen.“ (Adorno 1964: 97) Mit der bürgerlichen Gesellschaft gelangt die Geschichte wie an einen teleologisch angelegten Kulminationspunkt. Hegel kann deswegen auch als der affirmative Denker genau dieser Totalität gelten. Die bürgerliche Gesellschaft ist diejenige, die die Natur ebenso wie alle Verhältnisse zwischen Menschen immer weiter und intensiver nach ihren eigenen Begriffen gestaltet, um schließlich infinitesimal immer totalitärer zu werden. Auch noch die Widerstände und Widersprüche, die in diesem Zusammenhang entstehen, werden genutzt, um schließlich Herrschaft durchdringender zu gestalten und zu perfektionieren. Adorno ist sich selbst der Tatsache bewußt, dass die Totalität der bürgerlichen Gesellschaft nicht ihrem Begriff entspricht, vielleicht auch niemals entsprechen wird und immer wieder neue Ungleichzeitigkeiten hervorbringt, also Praktiken, Denkweisen, die jeweils sich dieser Totalität nicht fügen. Solche Momente können jeweils kleine Nischen der Freiheit darstellen. Doch ihm geht es mit dieser stilisierten Dystopie einer sich teleologisch abschließenden Totalität um etwas anderes: nämlich ein Denken frei zu setzen, das sich die Macht dieses Ganzen zueignet, die Totalität von innen heraus aufsprengt und damit ganz andere Verhältnisse ermöglicht. Ein solches Denken erkennt er in der Dialektik. Dialektik ist nach Hegel organisierter Widerspruchsgeist. Listiges Denken, schlüpft es in die feindlichen Mächte hinein und erhofft sich den Sieg „über die Übergewalt der Welt, die es ohne Illusion durchschaut, davon, daß es diese Übergewalt gegen sie selber wendet, bis sie ins Andere umschlägt.“ (Adorno 1963: 287)
Adorno weiß darum, dass Dialektik affirmativ sein kann. Dies gilt noch bis in die Linke hinein, die als Ergebnis der Negation der Negation ein Positives erwartet hat und nicht eine radikalere Verneinung noch des Negativen selbst. Zwar sei Dialektik „Asyl allen Gedankens der Unterdrückten, selbst des nie von ihnen gedachten. Aber sie war als Mittel, Recht zu behalten, von Anbeginn auch eines zur Herrschaft, formale Technik der Apologie unbekümmert um den Inhalt, dienstbar denen, die zahlen konnten: das Prinzip, stets und mit Erfolg den Spieß umzudrehen. Ihre Wahrheit oder Unwahrheit steht daher nicht bei der Methode als solcher, sondern bei ihrer Intention im historischen Prozeß.“ (Adorno 1951: 280) Louis Althusser kritisiert die hegelsche Dialektik, weil sie teleologisch sei und alle Vielfalt in eine zeitliche Homogenität zwinge. Michel Foucault hat gegen diejenigen, die in der Dialektik eine philosophische Methode für das Verständnis der historischen Kämpfe sehen, eingewandt: „Im Grunde kodifiziert die Dialektik den Kampf, den Krieg und die Zusammenstöße in einer Logik, einer sogenannten Logik des Widerspruchs; sie integriert sie in den doppelten Prozeß einer Totalisierung und einer zugleich endgültigen, grundlegenden und auf jeden Fall irreversiblen Rationalisierung. Schließlich garantiert die Dialektik durch die Geschichte hindurch die Bildung eines universellen Subjekts, einer versöhnten Wahrheit und eines Rechts, in dem alle Partikularitäten letztlich den ihnen zugewiesenen Platz gefunden hätten.“ (Foucault 1976: 71). Adorno will sich dialektisch selbst die so kritisierte Dialektik noch zunutze machen. An jener vereinheitlichenden Totalisierung hat Herrschaft über die Jahrtausende gewirkt; in der zur Totalität gefügten bürgerlichen Gesellschaft verdichten sich – so ließe sich mit Althusser (vgl. 1965: 119) sagen – alle die Herrschaftspraktiken zur „Einheit eines Bruchs“, zur Möglichkeit, mehr als nur die neueste Gestalt von Herrschaft, die Lohnarbeit, zu überwinden. Es ist so, als hätte Adorno Althussers und Foucaults Kritik antizipiert, denn ohne apologetisch zu werden, versucht er eine Konzeption von Dialektik auszuarbeiten, die solchen Einwänden Rechnung trägt und weder für Totalisierung noch für systematische Theorie plädiert. Das Ergebnis ist seine Konzeption einer negativen Dialektik.
Dialektik ist für Adorno ein Denken, das, weil es selbstreflexiv ist, nicht innehält, sich also nicht mit den klassifikatorischen Kategorien schon bescheidet. Es akzeptiert die Trennung von Subjekt und Objekt nicht, sondern überlässt sich der Dynamik der Begriffe, die von sich aus über sich hinaus auf das Gedachte wollen. Damit aber werden die Begriffe, das Gedachte, wiederum vom Gegenstand bestimmt – in der Art und Weise, in der die Gegenstände begrifflich angeeignet werden. Das Denken ist nicht ‚wertneutral‘, Ergebnis einer dem Gegenstand äußerlichen Entscheidung des erkennenden Subjekts zur Hypothese. Fruchtbar werde Erkenntnis nicht durch die Ausschaltung des Subjekts, „sondern vielmehr kraft dessen höchster Anstrengung, durch all seine Innervationen und Erfahrungen hindurch“ (Adorno 1963: 256). Adorno würde deswegen wohl auch jene spontane liberale optische Erkenntnistheorie ablehnen, der zufolge die Perspektive, die jeweils aufgesetzte Brille entscheidend dafür ist, wie der Gegenstand erscheint und jeweils erkannt wird. In einer solchen Erkenntnistheorie bleibt das Subjekt immer auf Distanz und pluralistisch, man scheint es einmal so, ein anderes Mal so sehen zu können, der Konflikt der Sichtweisen wird selbst nicht noch einmal als gegenständlicher, als einer in der Sache liegender Konflikt ausgetragen. „In gewissem Betracht ist die dialektische Logik positivistischer als der Positivismus, der sie ächtet: sie respektiert, als Denken, das zu Denkende, den Gegenstand auch dort, wo er den Denkregeln nicht willfahrt. Seine Analyse tangiert die Denkregeln. Denken braucht nicht an seiner eigenen Gesetzlichkeit sich genug sein zu lassen; es vermag gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben; wäre eine Definition von Dialektik möglich, so wäre das als eine solche vorzuschlagen.“ (Adorno 1966: 144)
Zu den Erfahrungen gehören die widersprüchlichen Bewegungen der Begriffe, in denen die Individuen sich und die Wirklichkeit denken und fühlen: Freiheit kann die des Mächtigen sein, der sich in seiner kraftstrotzenden Überlegenheit rücksichtslos durchsetzt und nicht binden lassen will – Freiheit kann der Schutz vor den Zumutungen solcher Willkür mittels Rechtsgarantieren sein – Freiheit kann schließlich in die gemeinsame Gestaltung der Verhältnisse übergehen, unter denen die Gestaltungsspielräume der Einzelnen immer noch größer werden; Gleichheit ist Gleichheit hinsichtlich eines Kriteriums und setzt also Ungleichheit – es wird deswegen dieses Ungleiche zum Ausgangspunkt von differenziellem Handeln, um Gleichheit herzustellen – doch diese Gleichheit wiederum droht Differenzen zu unterwerfen. Dialektik findet sich auch auf ganz anderen Ebenen. So wurde von der großen Wirtschaftskrise als einem nicht erwartbaren „schwarzen Schwan“ gesprochen, so wie alle Krisen in der kapitalistischen Produktionsweise wie von außerhalb einzutreten scheinen und nicht als Momente eines Reproduktionskreislaufs gedacht werden können, der aus internen Gründen in sein Gegenteil, eine Störung umschlägt. Für Adorno ist Dialektik mehr als nur eine Wechselwirkung von zwei für sich bestehenden Entitäten. Subjekt und Objekt sind reziprok durchdrungen, bilden gleichzeitig eine Einheit und gehen doch in dieser nicht auf. Das Nichtaufgehende muss in die Theorie mit hinein genommen werden (vgl. Adorno 1964: 125). Wird dies getan, verändert sich das Verständnis von Gesellschaft selbst. Der Rassismus oder Antisemitismus, die Krise oder der Klimawandel, die sexuelle Gewalt treten zur Gesellschaft nicht nachträglich hinzu, sondern sind konstitutiv für sie. Doch bleibt ein Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft, dass es ihr nicht möglich ist, sich als eine rassistische, antisemitische, sexistische, gewalttätige Gesellschaft zu denken. Wenn es solche entsprechenden Denkweisen, Einstellungen oder Praktiken gibt, dann werden sie als Ausreißer, Versehen, Missverständnisse, Abweichungen, Irrationalitäten einzelner Personen gedeutet – die Gesellschaft ist System und Nicht-System. Mit einer Vielzahl von sozialen, administrativen, polizeilichen Maßnahmen wird derart Integration organisiert, dass es solche Vorkommnisse nicht mehr gibt – jedenfalls nicht an der Oberfläche des Alltags, nicht in einer relevanten Häufung, nicht in der offiziellen Selbstwahrnehmung der Gesellschaft, wie sie von Politik und Medien inszeniert wird, was dann wiederum zu Angst, Bedrohungsgefühlen, Ressentiments führt. Die Gesellschaft geht zur Tagesordnung, zur Normalität über, vermittelt sich selbst das Selbstverständnis, sie sei die eine Gesellschaft. Bis dann ein Streik ausbricht, ein Flüchtlingsheim brennt, ein Anschlag stattfindet, Menschen an den Tafeln um ein Mittagessen anstehen oder DemonstrantInnen vor Endlagerungsstätten auftauchen. Die Gesellschaft ist eins, das nicht eins ist. Sie will mit sich identisch sein, und doch gelingt ihr dies nicht. Diese Identität, die nicht mit sich identisch sein und werden kann, ist der Gegenstand der Dialektik. „Die bürgerliche Gesellschaft ist eine antagonistische Totalität. Sie erhält einzig durch ihre Antagonismen hindurch sich am Leben und vermag sie nicht zu schlichten.“ (Adorno 1963: 274)
Nichtidentität als Vermittlungskategorie
Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten im Wissen über Adornos Theorie, dass er sich gegen das identifizierende Denken wendet, also die begriffliche Bestimmung der Gegenstände oder sozialer Verhältnisse. Die Begriffe erscheinen in ihrer Allgemeinheit als symbolische Gewalt, die dem von ihnen Gemeinten Unrecht zu tun scheint und seine Besonderheit reduziert. Tatsächlich kritisiert Adorno diese verfügende Gewalt, die das Viele und Einzelne unter starre Kategorien bringt. Seine philosophischen Überlegungen dienen der Kritik des konstitutiven Subjekts, das von sich selbst glauben machen will, dass sein denkendes Ich alle seine Vorstellungen begleiten kann. Adornos begriffliche Anstrengung zielt darauf, immanent den Weg aus der Immanenz der Begriffe nach draußen zu eröffnen. Den Materialismus will Adorno (1966: 197) nicht weltanschaulich gesetzt, sondern durch Begriffe, durch menschliche Aktivität vermittelt wissen – ganz im Sinne der ersten Feuerbach-These, in der Marx dem Idealismus bescheinigt, darin dem Materialismus überlegen zu sein, dass er die subjektive Seite, die menschliche Tätigkeit einbezieht. Adorno kritisiert am herrschenden Erkenntnismodell alle Elemente: die Isolierung von Subjekt und Objekt und ihre Entgegensetzung, die verfügende Haltung und identitäre Starrheit des Subjekts, die Unterstellung, dass die klassifikatorische Ordnung und Subsumtion des Einzelnen unter allgemeine Oberkategorien schon Erkenntnis sei; die Reduktion des Objekts auf bloß einzelne, passive Gegenstände, die sich fügen und in keinem Zusammenhang zu stehen scheinen. Doch Adorno flüchtet nicht in Intuition, Leid oder Kunst, wie manchmal behauptet wird; vielmehr betont er immer und immer wieder, dass anders als durch Theorie und Begriffe das Seiende nicht gegeben ist. Des Einzelnen, des Vielen können wir nicht unmittelbar habhaft werden. Es gibt keinen anderen Weg als die begriffliche und theoretische Erschließung der Wirklichkeit.
Die Illusion, es gäbe andere Möglichkeiten „schlüge als mimetische Regression ebenso in Mythologie, ins Grauen des Diffusen zurück, wie am Gegenpol das Einheitsdenken, Nachahmung blinder Natur durch deren Unterdrückung, auf mythische Herrschaft hinausläuft. Selbstreflexion der Aufklärung ist nicht deren Widerruf.“ (Adorno 1966: 160). Deswegen kann Adorno dafür argumentieren, dass es der Identifikation bedarf. Ohne sie könne nicht gedacht werden, keine Annäherung an das Besondere und Nichtidentische stattfinden. „Insgeheim ist Nichtidentität das Telos der Identifikation, das an ihr zu Rettende; der Fehler des traditionellen Denkens, daß es die Identität für ein Ziel hält […] Dialektisch ist Erkenntnis des Nichtidentischen auch darin, daß gerade sie, mehr und anders als das Identitätsdenken, identifiziert. Sie will sagen, was etwas sei, während das Identitätsdenken sagt, worunter etwas fällt, wovon es Exemplar ist oder Repräsentant, was es also nicht selbst ist.“ (Adorno 1966: 152)
Aus dem Spiegelverhältnis von Subjekt und Objekt, von Begriff und Gegenstand soll herausgetreten werden, die Tautologie ist zu durchbrechen, die sich daraus ergibt, dass die die Menschen umgebende Welt von ihnen erzeugt, umgestaltet und auf eine gewisse Weise immer schon von ihnen begriffen ist, so dass sie das Andere, das Nicht-Aufgehende, die Veränderung nicht denken können, sondern immer und immer wieder unter den und in den Veränderungen das Identische identifizieren. Jenes Nichtidentische zu erfahren ist in gewisser Weise einfach, denn erforderlich ist nur, sich der Erfahrung der Bewegungen des Begriffs und des Gegenstands zu überlassen, also jener schwebenden Passivität des Denkens, die Adorno für charakteristisch für Dialektik hält: die Erfahrung des „Widerstands des Anderen gegen die Identität“ (Adorno 1966: 163). Es geht also nicht um Identität in der Nichtidentität, sondern um Nichtidentität in der Identität (Adorno 1963: 157), also darum, die Individuen und die Gegenstände aus dem sich wie eine Spiegelrelation schließenden Zusammenhang der Totalität zu befreien. Diese Nichtidentität ist selbst jedoch nichts positiv Gegebenes, sie ist auch kein Rest, das, was an der Kante des Begriffs als Abgeschnittenes von der Sache dann übrig bleibt. Es ist also nicht möglich, sich einfach positiv auf sie als einen Standpunkt zu beziehen und über das Identische hinweg zu gehen. Nichtidentität ist selbst eine Vermittlungskategorie. „Als Bewußtsein von Nichtidentität durch Identität hindurch ist Dialektik nicht nur ein fortschreitender sondern zugleich retrograder Prozeß. … Nur an der vollzogenen Synthesis, der Vereinigung der widersprechenden Momente, offenbart sich die Differenz.“ (Adorno 1966: 160)
Das Viele ist nicht unmittelbar zugänglich, weil es in ein gewalthaftes System der Äquivalenz integriert ist, das zur Totalität wird. Wenn Adorno die Tendenz der identitären Durchdringung des sozialen Lebens und des Denkens durch das System, also durch Herrschaft, kritisiert, so auch jene Haltung der Resignation der Theorie vor der Einzelheit, die sich angeblich nicht begreifen lasse. Geistige Undurchdringlichkeit und gefräßiger Überschwang entsprechen sich in ihrer Missachtung des Gegenstands. Die Gesellschaft muss als Totalität gedacht werden, gleichzeitig müssen die Brüche und das Scheitern jener Totalität in den Begriff mit hinein genommen werden. Dies gelingt nur durch Dialektik: diese Totalität ist eine, doch es gelingt ihr nicht, diese prätendierte Totalität zu werden, da sie aus sich heraus ständig von Neuem desintegrative Tendenzen erzeugt, der sie mit umfangreichen Integrationsmaßnahmen begegnen muss; sie hält sich für ein sich selbst setzendes System, doch hat es Voraussetzungen in Herrschaft und in von dieser geprägten Naturaneignung; Herrschaft beansprucht absolute Immanenz, und doch kann sie von außen gedacht werden, weil sie von einem Subjekt konstituiert wird, dem es angesichts der Widerstände der Dinge und der Menschen nicht gelingt, sich endgültig zu setzen.
Dies sind Antworten auf die Frage, ob es angesichts des Vielen plausibel ist, von Widersprüchen zu sprechen. Warum nämlich sollte überhaupt dialektisch gedacht werden? Dialektik ist nur möglich, wenn es zu Widersprüchen kommt. Sie sind weder allein in den Gegenständen zu finden noch im Denken. In der Wirklichkeit gibt es nur die vielfältigen Dinge, die in keinem logischen Verhältnis zueinander stehen. Diese Mannigfaltigkeit des einfach Unterschiedenen dann auf die logische Form des Widerspruchs zu bringen, erscheint wie eine Reduktion. Adorno stimmt einem solchen Einwand gegen Dialektik teilweise zu. Der Widerspruch sei nichts Wesenhaftes (Adorno 1966: 17). Dieser sowohl als auch Dialektik haben einen historischen Index, nur unter bestimmten historischen Bedingungen ist es unerlässlich, in Begriffen des Widerspruchs und der Dialektik zu denken. Der Widerspruch sei „Index der Unwahrheit von Identität, des Aufgehens des Begriffenen im Begriff“ (ebd.). Adorno fasst das Problem, so scheint es, jedoch gleichzeitig auch unhistorisch: „Der Schein von Identität wohnt jedoch dem Denken selber seiner puren Form nach inne. Denken heißt identifizieren. Befriedigt schiebt begriffliche Ordnung sich vor das, was Denken begreifen will.“ (Ebd.) Die Totalität erscheint nach Begriffen der Logik als widerspruchsfrei. Entsprechend nehme alles qualitativ Verschiedene die Signatur des Widerspruchs an. „Der Widerspruch ist das Nichtidentische unter dem Aspekt der Identität; der Primat des Widerspruchsprinzips in der Dialektik mißt das Heterogene am Einheitsdenken.“ (Ebd.) Wenn es sich so verhält, dann ist die Form des Widerspruchs unvermeidlich. Doch Adorno hält an dem historischen Charakter der Dialektik fest. Sie wird sich überwinden lassen. „Dialektik entfaltet die vom Allgemeinen diktierte Differenz des Besonderen vom Allgemeinen. Während sie, der ins Bewußtsein gedrungene Bruch von Subjekt und Objekt, dem Subjekt unentrinnbar ist, alles durchfurcht, was es, auch an Objektivem, denkt, hätte sie ein Ende in der Versöhnung. Diese gäbe das Nichtidentische frei, entledigte es noch des vergeistigten Zwanges, eröffnete erst die Vielheit des Verschiedenen, über die Dialektik keine Macht mehr hätte. […] Der Versöhnung dient Dialektik. Sie demontiert den logischen Zwangscharakter, dem sie folgt.“ (Ebd.: 18)
Mit dieser Überlegung kehrt Adorno negativ-kritisch zur Dialektik der Aufklärung zurück. Die Begriffe müssen sich reflexiv der Erfahrung überlassen, die sie mit sich selbst machen, also der Erfahrung, dass Mythos und Aufklärung ineinander umschlagen – und gerade diese widersprüchliche Bewegung ist derart zu denken, dass sie selbst überwunden wird. Die Erfahrung des Nicht-Aufgehenden, des Widerspruchs bedeutet, dass immer noch Herrschaft ist; aber es soll eben nicht zur widerspruchsfreien Totalität kommen. Der Ausdruck „negative Dialektik“ sollte nicht philosophisch verrätselt werden, sondern ist wörtlich zu nehmen: Dialektik darf nicht affirmativ verstanden werden. „Dialektik ist das Selbstbewußtsein des objektiven Verblendungszusammenhangs, nicht bereits diesem entronnen. Aus ihm von innen her auszubrechen, ist objektiv ihr Ziel. […] Ohne Identitätsthese ist Dialektik nicht das Ganze; dann aber auch keine Kardinalsünde, sie in einem dialektischen Schritt zu verlassen.“ (Ebd.: 398) Trivialer formuliert, Adorno ist kein Hegel-Marxist, sondern ein entschiedener Kritiker Hegels. Der Anspruch geht dahin, durch Dialektik auch noch Dialektik zu überwinden, also alle jene Verhältnisse, die zu Totalität, Widersprüchen und zu Dialektik führen – und zwar überwinden nicht innerhalb des Denkens durch diese oder jene logische Korrektur, die die Vernunft in ihre Schranken weist, oder durch sinnkritische Sprachanalysen, die nahelegen, dass die Widersprüche nicht tatsächlich objektiv in den Denkbewegungen existieren würden. Dialektik hat die Aufgabe, die widersprüchlichen Bewegungen der Begriffe selbst zu erkennen, um auf diese Weise auf einen Umschlag zu drängen, der zur Versöhnung führt und Dialektik selbst noch erübrigt. „Utopie wäre über der Identität und über dem Widerspruch, ein Miteinander des Verschiedenen.“ (Ebd.: 153, vgl. auch ebd.: 21)
Für die marxistische Theorie sind die Überlegungen Adornos folgenreich. Spätestens seit Geschichte und Klassenbewußtsein von Georg Lukács gab es die Überlegung, dass die bürgerliche Klasse aufgrund ihrer Distanz zur naturaneignenden Arbeit nicht in der Lage ist, zur Erkenntnis der Totalität zu gelangen. Ihr gelingt es nicht, die Sphäre des Marktes und der Zirkulation zu durchdringen und das Geheimnis der bürgerlichen Gesellschaft zu erkennen: nämlich hinter der Fassade von Subjekten, die als gleich und frei gelten können und müssen, um ihr Arbeitsvermögen als Ware verkaufen zu können, die Aneignung der Mehrarbeit dieser Subjekte. Die Arbeiterklasse hat aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess genau die Möglichkeit zur umfassenden Erkenntnis der Totalität. Sie kann sich ihrer Lage bewusst werden, sich die Gesellschaft als Ganze aneignen und sie zu einer gelingenden, vernünftig gestalteten Totalität fortentwickeln. Zu einer solchen Totalitäts- und Vernunftkonzeption, die in den Texten von Horkheimer zunächst noch durchaus vertreten wurde, ging die Dialektik der Aufklärung auf kritische Distanz. Es geht genau nicht mehr um die Herstellung von Totalität. Das Selbstverständnis der kritischen Theorie ist nun strikt antitotalitär. Da, wie oben angesprochen, sich der Marxismus in der kritischen Theorie reflektiert, also sich in ihr erweitert reproduziert, kommt es damit also auch zu einer grundlegend veränderten Perspektive der marxistischen Theorie. Totalität wird nun kritisch und negativ begriffen; Dialektik ist das Selbstbewusstsein, die Logik dieser Totalität, also mit ihr intern verbunden. Deswegen kann sie dazu dienen, diese Totalität zu überwinden. Denn Dialektik wendet sich auch noch gegen sich selbst, stellt die widersprüchliche Bewegung von Begriffen und Sachverhalten infrage und arbeitet damit auf ihre Überwindung hin – nicht im Sinn einer positiven Aufhebung, sondern in einer solchen Kritik der Totalität und der Dialektik, dass selbst Dialektik jede soziale und intellektuelle Notwendigkeit verliert. Die Negative Dialektik bereitet eine solche Überwindung der Dialektik vor, indem sie eindringlich vorführt, in welcher Weise Dialektik kritisch zu praktizieren sei. Die Unlösbarkeit von Widersprüchen in der kapitalistischen Gesellschaft: dass Geld das Allgemeine repräsentiert, über das einzelne Private nach Belieben verfügen können; dass formale Gleichheit umschlägt in Ungleichheit; dass Demokratie grundsätzlich mit Antinomien wie der von Volkssouverän und Mehrheitsregel oder von Allgemeinheit und Partikularinteresse konfrontiert ist – erweisen sich nicht einfach als logische Probleme, sondern sind objektiv Resultat einer bestimmten Gesellschaft. Auch die Denkbewegungen in ihrer Widersprüchlichkeit gehören zu dieser Objektivität. Insofern stellt die negative Dialektik die Aufforderung dar, die Erfahrung solcher Widersprüche zuzulassen, sie bis ins Äußerste zu durchdenken, um gerade auf dieser Grundlage selbst noch gegen die Logik des Widerspruchs anzudenken, also die Frage aufzuwerfen: Warum kommt es überhaupt zu solchen Widersprüchen, warum lassen sie sich nicht auflösen – und welche Formen des Zusammenlebens erlauben es, diese Widersprüche nicht in einer umfassenden Theorie zu rationalisieren und „aufzuheben“, sondern sie zu überholen, so dass sie sich überhaupt gar nicht mehr stellen: Negation der Negation, die negativ bleibt? Eine versöhnte Menschheit wäre über Dialektik hinaus.
Denken in Konstellationen
Nach diesem Verständnis und mit der Kritik an Totalität und Dialektik ändert sich auch die Art und Weise des Denkens und der Anspruch an Theorie. Die Theorie zielt nicht mehr auf Vollständigkeit, darauf, dass immer neue Generationen von WissenschaftlerInnen jedem Sachverhalt und jeder Klassifikation einen genau bestimmten Ort in dem immer umfassenderen Gebäude der Theorie zuweisen, so dass am Ende umfassende Totalitätserkenntnis stünde. Dass es so nicht geht, ist nicht das Zugeständnis eines Scheiterns, sondern kritische Einsicht, dass auch die materialistische Theorie über viele Jahrzehnte falschen, nämlich bürgerlichen, idealistischen Vorstellungen von Theorie und intellektueller Praxis gefolgt ist. Die Einheit der Gesellschaft besteht nicht, und sie ist auch nicht anstrebenswert. Dies berührt auch die Logik der Theorie. Adorno verwirft nicht die Möglichkeit von Theorie überhaupt. Aber er plädiert dafür, dass die Theorie die Gestalt einer „nichtsystematischen Theorie“ annehmen muss (Adorno 1964: 49). Ohne System verbindlich denken, heißt für Adorno, in Modellen zu denken: negative Dialektik sei ein Ensemble von Modellanalysen (Adorno 1966: 39). Sie bringen Begriffe zu Konstellationen zusammen. Begriffe stellen selbst soziale Verhältnisse dar, in ihnen werden die Gegenstände gedacht und in Zusammenhänge gebracht. Deswegen besteht die Gefahr, dass Begriffe an ihnen etwas abschneiden oder verstellen, weil sie sie der intellektuellen und sozialen Praxis unzugänglich machen. Adorno argumentiert, dass in einer Konstellation von Begriffen, die sich um eine Sache versammeln, ein besonderes und durchaus kontingentes begriffliches Verhältnis entsteht, in dem die Begriffe denkend erreichen, „was Denken notwendig aus sich ausmerzte“ (ebd.: 165).
Die Erfahrung des Objekts führt das Denken hin zu Konstellationen von Begriffen und Zusammenhängen, in denen das Objekt steht. Das subjektiv Gedachte gewinnt dadurch Objektivität, der Gegenstand verliert seine Selbstverständlichkeit als bloß Gegebenes. „Der Konstellation gewahr werden, in der die Sache steht, heißt soviel wie diejenige entziffern, die es als Gewordenes in sich trägt. Der Chorismos von draußen und drinnen ist seinerseits historisch bedingt. Nur ein Wissen vermag Geschichte im Gegenstand zu entbinden, das auch den geschichtlichen Stellenwert des Gegenstandes in seinem Verhältnis zu anderen gegenwärtig hat; Aktualisierung und Konzentration eines bereits Gewußten, das es verwandelt. Erkenntnis des Gegenstands in seiner Konstellation ist die des Prozesses, den er in sich aufspeichert. Als Konstellation umkreist der theoretische Gedanke den Begriff, den er öffnen möchte, hoffend, daß er aufspringe etwa wie die Schlösser wohlverwahrter Kassenschränke: nicht nur durch einen Einzelschlüssel oder eine Einzelnummer sondern eine Nummernkombination.“ (Ebd.: 165f) Das Denken in Konstellationen ist für Adorno die fortgeschrittene, emanzipierte Denkweise, die Begriffe derart in eine Konfiguration bringt, dass sich ein Verständnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge ergibt, das die historische Notwendigkeit als Zufall erkennen lässt und den Umschlag in Emanzipation freisetzt. Totalität ist eine solche Konstellation. Entsprechend ist auch nicht Herstellung von Totalität das Ziel, sondern die Freisetzung der Vielfalt ohne Maß.
Dialektik ist aus vielerlei Gründen in den vergangenen Jahren oder Jahrzehnten als eine intellektuelle Praxis kritisiert worden. Eines der besten Motive bestand darin, die konkreten Kämpfe und die historischen Kontingenzen in den Blick nehmen zu wollen. Doch der Verzicht auf Dialektik hat die emanzipatorisch orientierte Analyse in erheblichem Maße beeinträchtigt. Dort, wo Antagonismen am Werk sind, wird auf Nominalismus oder auf Pluralismus ausgewichen, Widersprüche werden in Paradoxien transformiert, die sich, würden sie nur richtig durchdacht, durch Einzelmaßnahmen auch wieder auflösen ließen oder als unvermeidlich hinzunehmen seien. Dialektiken wie die zwischen dem Allgemeinen der kapitalistischen Produktionsweise und ihren besonderen historischen und regionalen Ausformungen, zwischen den verschiedenen Formen des Kapitals und den Verschiebungen der Dominanz in seinem Kreislauf, zwischen der Dynamik der Veränderung und Reproduktion und Beharrung der Verhältnisse werden nicht verständlich; ebenso gilt dies für die widersprüchlichen Zusammenhänge der Herrschaftsformen der Naturausbeutung, der kulturell-intellektuellen Enteignung und Entmündigung, der Lohnarbeit, des Rassismus oder des Sexismus; und ebenso für die widersprüchliche Einheit von kapitalistischen Produktionsverhältnissen und repräsentativer Demokratie. So kommt es immer wieder zu Rückfällen in ökonomistische oder mechanische Analysen, die bestimmte Trends linear fortschreiben (das „Ende des Kapitalismus“) oder Phänomene künstlich voneinander trennen und das innere Band widersprüchlicher Bewegungen nicht verständlich machen.
Adornos bedeutende Erneuerung der materialistischen Dialektik, die keineswegs das Selbstverständnis kritischer Theoriebildung heute bestimmt, gilt es anzueignen – und dies im Lichte kritischer Auseinandersetzungen mit Dialektik, um sie zeitgemäß fortzuentwickeln. Dabei sollte ihr vorläufiger Charakter im Blick behalten werden: dass nämlich die Notwendigkeit, dialektisch zu denken, selbst noch als Hinweis auf die Notwendigkeit radikaler Veränderung zu verstehen ist. Von Versöhnung könnte erst gesprochen werden, wenn Antagonismen gar nicht erst mehr entstehen und Dialektik überflüssig wird.
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* Wir danken der PROKLA-Redaktion für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung dieses Artikels aus dem Heft 184 / 2016.