Das 2016 im August Verlag erschienene Buch Gegen die Selbsterhaltung versammelt sechzehn Texte des Philosophen Alexander Garcia Düttmann. Es handelt sich dabei ausnahmslos um Gelegenheitstexte. Sie wurden auf Einladung verfasst, auf Konferenzen vorgetragen, in Seminaren entwickelt, in Zeitschriften oder Katalogen veröffentlicht und in sechs verschiedenen Sprachen formuliert. Entsprechend vielfältig sind ihre Gegenstände: Wagners Lohengrin, Bücher des katalanischen Schriftstellers Nèstor Luján oder des mallorquinischen Schriftstellers Llorenç Villalonga, Filme, die Abschiedsnotiz des Philosophen Jacques Derrida. Ihrer Zusammenstellung, Überarbeitung und Übertragung ins Deutsche durch den Autor selbst haftet auch auf den zweiten Blick etwas Beliebiges an. Sie verbindet vor allem ihr Gelegenheitscharakter. In der knappen „Vorbemerkung“ heißt es dazu: „Wenn die Sammlung von einzelnen, eigentlich unvereinbaren Texten, […] etwas Unernstes haben kann, etwas Frivoles, so bleibt nicht viel übrig als die Frage nach Ernst und Unernst des Denkens selbst zum Thema einer solchen Sammlung zu machen.“ (9) Gelegenheiten sind dem Philosophen immer Gelegenheit zum Denken.
Die Texte führen bei allen Unterschieden diesen Charakter der Denk-Gelegenheit vor. Der Text „Für und gegen das Zeitgenössische“ hat, wie einige andere des Bandes, die Form eines (Selbst-)Gesprächs. Die Pluralität von Zeitgenossenschaft, um die es ihm geht, ist angelegt in einer Form, in der mehrere Stimmen zu Wort kommen und es sich auch mal gegenseitig abschneiden. Den Text, „Gesagt, getan oder die Überlebenden“ eröffnet das Nachdenken über den Dialog als philosophische Gattung in Form einer Anekdote: Warum, so fragt der Übersetzter Düttmann den zu übersetzenden französischen Philosophen Jacques Derrida, habe sich dieser entschieden, in vielen seiner jüngeren Arbeiten verschiedene Stimmen sprechen zu lassen. Derrida antwortet: „Ich wähle diese Vorgehensweise, wenn ich nicht mehr weiß, wohin ich mich wenden, wo ich unterkommen soll.“ (61) Handelt es sich bei dem Dialog also, fragt sich Düttmann, um eine Ausflucht aus einer „schwierigen Lage“? Oder geht es ihm im Gegenteil darum, tiefer in die „schwierige Lage“ einzudringen? Vielleicht unterscheiden sich diese Alternativen nicht so sehr, wie es den Anschein hat, antwortet er sich selbst. Beide werden von einer „Aufforderung“ oder „Bitte“ – vielleicht könnte man aber auch sagen einer Hoffnung, mehr noch von einem Wunsch – bestimmt: Eine andere Stimme soll sprechen.
Das heißt nicht, dass es sich bei den hier vorgelegten Texten um Sprechtexte handelt, wenn es so etwas denn gibt. Wir haben es mit Texten zu tun, die ihre Künstlichkeit beizeiten gerne vorzeigen. Oder anders herum formuliert: Wenn es sich um Sprech-Texte handelt, dann in einer die fundamentale Uneigentlichkeit des Sprechens mitdenkenden Form. Wer einmal die Gelegenheit hatte, Düttmann live zu erleben – insbesondere im Seminar –, kennt die Form solcher Sätze. Vielleicht rufen sie bei der einen oder dem anderen sogar ein Bild hervor: Der Philosoph blickt nach oben. Ein Lächeln liegt auf dem Gesicht. Er formuliert einen Satz zu Ende. Dann formuliert er ihn – den Einschub „if you will“ / „wenn Sie so wollen“ selten auslassend – noch einmal. Dieses Prinzip des Neuansetzens findet seine Entsprechung bis in die syntaktischen Struktur der Sätze. Diesen Sätzen ist es darum zu tun, die Bewegung des Denkens selbst im Text (nach) zu vollziehen. Nicht zuletzt werden die Gelegenheiten zum Denken so zu Gelegenheiten, über das Denken nachzudenken. Darin droht ihnen jedoch der Manierismus. Die Sätze schwellen an, weil sie das, was sie vorführen wollen, nur vorführen können, indem sie dessen Nichtvorführbarkeit vorführen. Um diesen Widerspruch kreisen alle Textes des Bandes. Sie ähneln darin zentralen Referenzen Düttmanns, den späten Arbeiten des bereits erwähnten französischen Philosophen Jacques Derrida. In ihnen begegnet der Leserin und dem Leser ein Zug ins Pathetische, der die beschriebene Unmöglichkeit ins Heroische zu wenden versucht. Das ist auch Düttmann nicht fremd. Seine Strategie ist jedoch zumeist die des leisen Witzes. Seine Sätze werden nicht so sehr pathetisch, groß und wertvoll, als preziös, klein und kostbar. In das Preziöse ist die Lust am Denken – eine Lust an einem Denken, dem es ums Denken geht, darin vielleicht mehr Adorno verwandt als Derrida, die sich dabei aber auch über sich selbst, ihre eigene Lust, amüsieren kann, dieses Amüsement wiederum vorführend – eingeschrieben: Im besten Fall bewahrt das die Texte vor der Schließung, die ihnen immer droht. Das Buch trägt den Untertitel Ernst und Unernst des Denkens. In der Vorbemerkung heißt es, „An das Unbedingte, auf das es immer zielen muss, rührt das Denken erst, wo Ernst und Unernst eine Konstellation bilden, ja sich an einem Indifferenzpunkt berühren und nicht mehr unterschieden werden können.“ (9) Der Philosoph blickt nach oben, er lächelt.
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Alexander Garcia Düttmann hat Bücher zu Streitthemen des zeitgenössischen philosophisch-politischen Diskurses vorgelegt: Die Frage der Anerkennung (Zwischen den Kulturen, 1996), wie sie der Frankfurter Sozialphilosoph Axel Honneth diskutiert, die These vom Ende der Kunst (Kunstende, 2000), zu dem u.a. die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen und der Kunsthistoriker Beat Wyss veröffentlicht haben, die Frage der Partizipation (Teilnahme, 2011), mit der sich vor dem Hintergrund der Krise liberaler Konzepte von parlamentarischer Demokratie und Repräsentation prononciert die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe oder der Philosoph Jacques Rancière auseinandersetzen. Düttmanns Bücher begegnen ihren Themen, indem sie sie auf ihre Struktur, auf Brüche und Widersprüche hin befragen. Damit stehen sie immer auch quer zu den Antworten, die andere zu geben versuchen. Als Sammlung von Texten, die zu Anlässen präsentiert wurden, zeigt sich mir im neuen Buch der Philosoph dagegen, wie ich ihn vor allem kenne: im Pullover. Die Leidenschaft Düttmanns für die in Zickzack-Linien gemusterten, knallbunten und sündhaft teuren Pullover des Modehauses Missoni ist schnell ersichtlich. Eine seiner Studentinnen soll einmal aus den versehentlich mitkopierten Mustern auf den Blättern, die Düttmann aushändigte, eine Abschlussarbeit gemacht haben. In seinem Text über das Stichwort („Was ist ein Stichwort?“) hat Düttmann eine Homage an Ottavi Missoni, den Gründer des Modehauses, versteckt. Dieser habe zur Inspiration für seine Kollektionen eine Sammlung von Patchwork-Bildteppichen angelegt. Düttmann schließt an diesen Verweis Gilles Deleuze’ und Felix Guattaris Beobachtungen über das Patchwork aus ihrem gemeinsamen Buch Tausend Plateaus an. Auch wenn das Patchwork „Themen, Symmetrien und Resonanzen“ (192) aufweisen kann, unterscheidet es von der Stickerei, dass es über keinen Mittelpunkt, kein Zentrum verfügt. Es wiederholt ein Grundmotiv und rhythmisiert dadurch die Fläche, die jedoch offen bleibt und in der es um die Bewegung in ihr geht.
Lässt sich hier – meinetwegen etwas gespreizt – eine Analogie zum Verfahren Düttmanns herstellen? Eine Art Patchworkprinzip weisen auch diejenigen Texte des Bandes auf, die nicht als Dialog geordnet sind. Mittels eines Semikolons zugleich getrennt und verbunden, gewissermaßen zusammengenäht, stehen Missoni und Deleuze und Guattari nebeneinander. Dieses Nebeneinander wirkt deshalb hart, weil der Satzbau in seiner die Satzverschachtelung ausreizenden Bewegung die Leserin und den Leser in den Text hineinzieht. Die Schnitte erzeugen dagegen Irritationen. Zugleich rhythmisiert das Verfahren die Textbausteine in ihrer sehr ähnlichen syntaktischen Bauweise und Wiederaufnahme von Sätzen und Formeln aber auch und trägt so zum Sound bei, den es zugleich unterbricht. Sich ihm zu überlassen ist nicht zuletzt deshalb verführerisch, weil das von Düttmann verhandelte selten von vornherein zu überschauen ist, es dabei um die zu vollziehende Denkbewegung selbst geht. So ist die Lesebewegung gezwungen sich einerseits auf den Nachvollzug einzulassen, und sich andererseits immer wieder von diesem Nachvollzug zu distanzieren.
Ich distanziere mich, in dem ich frage: Worum geht es? Die Texte wirken, so betrachtet, ein wenig ahistorisch und ortlos. Liegt das daran, dass sie ihren konkreten Ort, die Gelegenheit, zu der sie entstanden sind, in der Zusammenstellung verloren haben? Das ist sicherlich ein Grund. Dazu kommt, dass sich auch die mit- und gegeneinander montierten Referenzen wiederholen. Immer wieder begegnen uns Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Theodor W. Adorno, Martin Heidegger. Die Auseinandersetzung mit ihnen, die zumeist an einem einzelnen Satz ansetzt, nimmt diesen Satz ernst. Aber indem sie ihn pointiert, stellt sie ihn auch frei und isoliert ihn von seinen (anderen) Kontexten. Verweise auf die Forschung oder auf den Ort des Arguments in den Debatten finden sich selten. Die Einsätze Düttmanns sind, bei aller ausführlichen Abwägung, feststellend; die Schlussfolgerungen steil. Obwohl sie sich anhand von Auseinandersetzungen mit Büchern, Filmen, Kunstwerken, etc. entfalten, tragen die Texte Titel wie: „Kein Denker versteht sich selbst“, „Das Ungedachte“, „Popularität“, „Dilemmata der Form“, „Was ist ein Stichwort?“ Diese Allgemeinheit hat auch mit dem, worum es Düttmann geht, zu tun: Er muss das Denken, um es als Ereignis zu bestimmen, selbst den Bedingungen, denen es sich als Ereignis verdankt, entheben. Das Denken des Ereignisses droht daher aber immer und notwendig das Ereignis des Denkens zu verfehlen. Umgekehrt liegt nur in diesem Verfehlen überhaupt die Möglichkeit des Ereignisses begründet.
Hier waren wir aber schon. Deswegen möchte ich meine Frage noch einmal genauer stellen: Warum – überhaupt? – so denken? Finden sich Indizien auf eine Antwort in den Texten? Es wäre möglich, noch einmal ihre Themen, ihre Gegenstände, ihre Referenzen durchzugehen und nach dem zu fragen, was sie verbindet. Ich orientiere mich dagegen am Titel der Sammlung. Er hatte mich angesprochen, bevor ich noch das Buch in der Hand hielt: Gegen die Selbsterhaltung. Was hat es damit auf sich? „Gegen die Selbsterhaltung“ ist zugleich der erste Teil des Titels desjenigen Essays, welcher den Band eröffnet: „Gegen die Selbsterhaltung oder kann es SCUM ernst meinen?“. Auf den zweiten Teil des Titels, das SCUM-Manifest, kommt Düttmann dabei erst auf den letzten fünf Seiten zu sprechen. Zuvor umkreist er den Begriff „Selbsterhaltung“ mit Jacques Derrida, mit Theodor W. Adorno und Gilles Deleuze: Niemals ist das Denken so ernsthaft wie beim Thema Selbsterhaltung. Zugleich muss das Denken aber die Selbsterhaltung überschreiten, um sich zu ihr in ein Verhältnis setzen zu können. Es hört sonst auf, überhaupt Denken in dem emphatischen Sinne zu sein. Mehr noch, um der Ernsthaftigkeit, die die Selbsterhaltung verlangt, gerecht zu werden, muss es sie überschreiten. Diese Spannung, so zeigt Düttmann an verschiedenen Punkten, erlaubt überhaupt erst ein Rühren an ein Außen.
Im SCUM Manifesto von 1967 entwirf die Schriftstellerin Valerie Solanas eine Gesellschaft zur Vernichtung der Männer. Solanas argumentiert darin, dass Männer aufgrund ihrer Fehlerhaftigkeit nicht zur Einsicht in diese Fehlerhaftigkeit fähig sind. Sie fixieren sich auf die Selbsterhaltung, was bedeutet, dass sie das von ihnen in Folge dieser Fehlerhaftigkeit zur Selbsterhaltung errichtete System aus Geld, Regierung, Arbeit, Projektion der eigenen Mängel auf die Frauen (und die daraus resultierende Frauenverachtung) und Sex bzw., wie Solanas schreibt, screwing, unter allen Umständen aufrechterhalten. Damit stehen sie der Möglichkeit der vollständigen Automatisierung im Wege, die erst die Befreiung von der Notwendigkeit der Selbsterhaltung enthält. Sind die Männer aus dem Weg geräumt, ist der frei. Es irritiert daher, was bei Solanas auf diese Vernichtung/Befreiung folgt: Da die Menschheit, befreit von der Notwendigkeit zur Selbsterhaltung, eine Welt der „Verschiedenheit“ und der „Beziehung“, eine Welt von „Individuen“ und „Selbstvergessenheit“ eingeleitet hat (28f), verzichtet sie schlicht darauf, sich weiter zu reproduzieren. Dieser Verzicht ist eine Entscheidung, denn Solanas Text diskutiert – Düttmann verweist darauf (29) – die Möglichkeit der Reproduktion ohne Geschlechtsakt, ohne Männer und außerhalb des (weiblichen/menschlichen) Körpers. Es ist daher völlig zurecht die radikale Entscheidung Solanas gegen die Reproduktion, die Düttmann betont. Es schaudert einen, aber es schaudert einen vielleicht auch wohlig, denkt man(n) sie aus sicherer Distanz, also da, wo die eigene Selbsterhaltung gerade nicht in Frage steht.
Solanas Text kennt eine männliche Figur, der ein solcher Blick auf das Ende der Männer möglich ist. Es handelt sich dabei um jene Männer, die zur Einsicht in ihre eigene Fehlerhaftigkeit gekommen sind und den Untergang der Männer nicht mehr aufzuhalten suchen: „So scheint es also, als wäre das Ziel von SCUM, die unmittelbare Entwicklung eines weiblichen Individuums zu sichern, das mit dem Selbst der Selbsterhaltung unvereinbar ist, da es danach strebt, nur für eine kurze Zeit zu existieren, für die Zeitspanne, die den Tod des letzten Mannes, des ‚vernünftigen‘ Wesens, das nicht viel Aufhebens macht, des ‚Dandys, der sich zurücklehnt, sich entspannt, die Darbietung genießt und auf den Wellen seiner Auslöschung reitet‘, von der Geburt der ersten und letzten Frau trennt, von der Frau, die endlich Ideen und nicht mehr Kinder erzeugt.“ (29f) In einem Seminar, es trug den Titel „Radikales Denken“, in dem wir das SCUM-Manifest lasen, identifizierte Düttmann sich mit diesem Dandy. Er lachte. Wollte er uns provozieren? Jedenfalls bereitete ihm der Gedanke offensichtlich Freude. Hätte er so auch den Essay „Gegen die Selbsterhaltung“ beschließen können? Er tut es nicht. Stattdessen fragt er sich: Kann es SCUM ernst meinen? und beantwortet diese Frage mit einem klaren Ja. Ist es „frivol“ von einem Philosophen mit einer Professur diese Frage mit Ja zu beantworten, wenn der Kampf um die Selbsterhaltung ein täglicher Kampf für Milliarden Menschen ist? „Würde sich herausstellen, dass diese Sätze von einem Philosophen geschrieben worden sind, und dass sie zu einem von ihm veröffentlichten Werk gehören, wie ernst würde man ihn nehmen? […] [Sind sie] am Ende nichts als Schrott?“ (13) (das fragt sich Düttmann, nachdem er Passagen Derridas und Adornos zur Selbstaufgabe (in der Liebe, in der Musik) referiert hat.) Düttmann antwortet sich selbst: „ja, aber“: Ein solcher „Ernst“ sei „unsinnig“ und zugleich „absolut notwendig“. (30f) Wofür ist ein solcher Ernst notwendig? Er ist notwendig für „eine Konzentration auf etwas so Entscheidendes, dass das Rühren daran die Ewigkeit erschließt.“ (31)
Die Schriftstellerin Sara Stridsberg beginnt ihre Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk Valerie Solanas in dem Roman Traumfabrik von 2006 anders. Sie beschreibt das Hotelzimmer, in dem Solanas 1988 an einer Lungenentzündung stirbt, „auf einer schmutzigen Matratze mit vollgepinkeltem Bettlaken“.[1] Stridsbergs Roman betont damit eine körperliche Dimension von Solanas Leben. Dessen Verbindung zu ihrem Schreiben erzählt Stridsberg von Solanas Kindheit und Jugend in den 40er und 50er Jahren her, d.h. auch von der Gewalt her, die sie als Mädchen und Frau erlebt hat. Scum heißt übersetzt soviel wie Abschaum. Solanas eigener Text spielt mit der Doppelung von allgemeiner Wortbedeutung und dem Akronym SCUM, das sich aus dem englischen, deutlich ambivalenteren Untertitel der von ihr entworfenen Gesellschaft formt: Society for Cutting Up Men. Tatsächlich trennen keine Punkte die Buchstaben auf dem Titel voneinander.[2] Die erste Erwähnung von SCUM, etwa in der Mitte des Manifests, referiert auf die umgangssprachliche Verwendung: „[…] in short, those who, by the standards of our ‚culture‘ are SCUM … these females are cool and relatively cerebral and skirting asexuality.“[3] Diese Frauen, „unhampered by propriety, niceness, discretion, public opinion, ‚morals‘“,[4] die die Gesellschaft als Abschaum bezeichnet, sind diejenigen, die diese Gesellschaft überwinden werden. Solanas eignet sich den Begriff scum an, wie sie umgekehrt die (offizielle, männliche) Wertung von Kultur und Moral zurückweist, indem sie sie in Anführungszeichen setzt. Die textuelle Dimension, eine Arbeit an und mit der Sprache, auch Politik der Sprache – in ihrem Kommentar zum Manifest beschreibt es die New Yorker Philosophin Avital Ronell als eine Art Gegen-Hate-Speech –,[5] ignoriert Düttmann weitgehend. Düttmanns Interpretation reduziert Solanas Text nicht sofort auf eine Polemik, sondern nimmt ihn in seiner Argumentation (tod)ernst. Paradoxerweise geht genau dadurch aber die spezifische (persönliche, historische, politische, literarische und eben immer und überall auch vergeschlechtlichte) Signatur, die in den Text eingeschrieben ist, ein Stück weit verloren.
An einer früheren Stelle des Essays verweist Düttmann, fast schon nebenbei, auf etwas, das wir bei ihm vielleicht als eine spezifische Signatur der Zeit, in der wir leben, lesen können. Ernst ist es mir dann, „wenn ich unter gesellschaftlichen Bedingungen, die zunehmend prekär anmuten, um mein weiteres Leben bangen muss“ (13). Das Adverb „zunehmend“ impliziert in dieser Passage eine geschichtliche Entwicklungstendenz. Prekäre, also unsichere Lebensbedingungen sind für einen Großteil der Erdbevölkerung, nicht zuletzt einen Großteil der Frauen, innerhalb der Geschichte kapitalistischer Vergesellschaftung immer Alltag (gewesen). Aber als Horizont oder vielmehr Nicht-Horizont der gesellschaftlichen Entwicklung mag sie nach der Erschöpfung neoliberaler Versprechen eine Generalisierung erfahren haben. Ich finde hier jedenfalls die historische Konkretion, in deren Kontext ich mir die Frage nach dem Warum eines solchen Denkens noch einmal stellen möchte. Der Text „Gegen die Selbsterhaltung“ hört nämlich auch an dieser Stelle nicht auf. Stattdessen stellt Düttmann die Frage nach dem Ernst (des Denkens) abschließend noch ein letztes Mal losgelöst von Solanas Text, indem er sie „zusammenfassend“, wie er schreibt, als ein Geflecht von vier Fragen darstellt, vier „einander widerstreitende, trotzdem voneinander abhängige Fragen, […] vier Fragen, die sich vor dem Hintergrund der Selbsterhaltung stellen und gegen ihre Nötigungen richten.“ (31) Was halte ich in meinem Leben für wichtig und bedeutsam? Wie kann ich alt und jung genug sein, alt genug um jung genug zu sein? Wie kann ich, wie kann eine schöpferische Tätigkeit die Ewigkeit erschließen? Diesen dreien geht jedoch folgende Frage voraus: Was kann ich tun, um zu vermeiden, dass ich erdrückt werde?
Auf diese Frage möchte ich mich jetzt konzentrieren. Ich höre in ihr ein Echo einer berühmt gewordenen Formel der Theorie. Der französische Theoretiker Michel Foucault schlägt in einem Vortrag vor der Sociéte française de philosophie vom 27. Mai 1978 als Definition von Kritik „die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden“ vor.[6] Wir befinden uns mit diesem Vortrag, ein Jahr nach der Veröffentlichung seines Buches Disziplin und Strafe, an jenem Punkt der Entwicklung von Foucaults Denken, an dem er sich der Regierungskunst, der Gouvernmentalität, der Biopolitik und dem Neoliberalismus zuwendet. Er tut dies nicht zuletzt deshalb, weil er (wie auch andere), in seiner Kritik der Aufklärung, Moderne und Rationalität auf die Verstrickungen der Befreiung in Herrschaft, auf die Verbindung von (auch eigener) Wissen(sproduktion) und Macht, gestoßen war. Zugleich stehen wir am Beginn der neoliberalen Epoche selbst; Margaret Thatcher wird 1979 Premierministerin Großbritanniens. Bald vierzig Jahre später herrschen trotz des nun enttäuschten Versprechens der Selbstverwirklichung noch immer alternativlos und in unerbittlicher Brutalität deren Imperative von Selbstverantwortung und Selbstoptimierung, in die mir Foucaults Formel verstrickt zu sein scheint, zu denen sie in jedem Fall gehört und auf die sie antwortet. (Foucault selbst beschreibt „Kritik“ „[a]ls Gegenstück zu den Regierungskünsten, gleichzeitig ihre Partnerin und ihre Widersacherin, als Weise ihnen zu mißtrauen, sie abzulehnen, sie zu begrenzen und sie auf ihr Maß zurückzuführen, sie zu transformieren, […]“.[7])Vielleicht unter dem Eindruck eines Endes dieser Epoche findet die Formel bei Düttmann eine körperliche Wendung: „Was kann ich tun, um zu vermeiden, dass ich erdrückt werde“. Eine Antwort gibt Düttmann nicht. Stattdessen entlassen uns die Fragen in den weiteren Band.
Hätte Düttmann diese Frage auch ohne die abschließende Lektüre des SCUM-Manifest stellen können? Was ist der Gewinn der Diskussion Solanas? Warum nimmt er diesen Text, den er selbst als „gnadenlos witzig“ (27) (eine geniale Formulierung) charakterisiert und der angesichts der übrigen Referenzen einigermaßen abwegig erscheint, dermaßen ernst? Auf Solanas kommt Düttmann zu sprechen, als er eine Frage aufwirft, zu der die anderen Denker, die er bisher zu Rate gezogen hat, ihm nichts zu sagen haben: Geht es bei Selbsterhaltung immer nur um ein einzelnes Leben, „um mich“ (27) (mich Philosophen, mich Düttmann)? Oder stellt sich in der Frage nach der Selbsterhaltung nicht auch die Selbsterhaltung der Menschheit und die Frage nach dem Erbe, dem Vermächtnis? Das SCUM-Manifest ist deshalb ein radikaler Text, weil es die Antwort auf die Frage nach der Reproduktion und die Frage nach dem Vermächtnis mit einem klaren Nein beantwortet. Wo das SCUM-Manifest damit an etwas Unbedingtes rührt – an ein Leben, das der Selbsterhaltung im Hier und Jetzt enthoben ist –, steht etwas auf dem Spiel, das ich noch einmal betonen möchte: An ein Außen rührt dabei offenkundig nur, was von der Menschheit als Menschheit ausgeht. Düttmann schreibt von einem „kollektiven Individuum, dem es gelingt, die Menschheit zu übertreffen und dadurch alle Möglichkeiten zu erschöpfen“. (30)
Rettet SCUM in der Vernichtung der Männer und der Einlösung des Menschenmöglichen, auch wenn diese Einlösung gerade in einem Übertreffen liegt, die Menschheit vor sich selbst, obwohl, oder gerade weil sie zugleich damit untergeht? Solanas selbst legt eine solche Deutung in manchen Passagen ihres Manifests nahe:[8] Aber ich habe Zweifel daran, ob es das war, was mich am Titel „Gegen die Selbsterhaltung“ angesprochen hat. Sind es nicht doch auch die „killers“, „elite of the elite“, die das Manifest beschreibt, die ich fetischisiere, „unwork“ und „fuckup“? Sind es nicht doch mehr die Schüsse, die Solanas am 3. Juni 1968 auf Andy Warhol und den Kunstkritiker Mario Amaya abgab, die den Text zu einem gefährlichen und deshalb interessanten Text machen? Zugleich scheint es mir, als drohe umgekehrt die oben vorgeschlagene Lesart die Radikalität von Solanas Entwurf – seinen eigenen Exzess, seine Krassheit, seine Ungeduld, die Düttmann durchaus betont – in einer Aufhebungsfigur selbst aufzuheben, die ihr wiederum nicht gerecht wird. Muss Düttmann deshalb die Irreduzibilität des einmaligen Rührens so betonen? Das Unbehagen, das ich Düttmanns Antwort auf die Frage „Kann es SCUM ernst meinen?“ gegenüber selbst als Frage geäußert habe, lässt sich nicht wegargumentieren.
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Theorien und Praktiken des materialistischen Feminismus ist die Frage der Reproduktion wesentlich.[9] Reproduktion ist ein anderes Wort für Selbsterhaltung. Es enthält jedoch jene Bedeutungsweitung, die Düttmann mit dem SCUM-Manifest ins Spiel bringt und zu der neben der rein materiellen Wiederherstellung der Kräfte, neben Sorgetätigkeit und Erziehung auch die Frage des Erbes, der Vermittlung gehören. Die (gewaltsame) Unterordnung der Reproduktion unter die Zwecke der Produktion innerhalb des Kapitalismus geht historisch mit der Zuweisung der (oft unbezahlten) Reproduktionsarbeit an Frauen einher. Sie ist (eine) Grundlage der heterosexistischen Geschlechtscharaktere innerhalb kapitalistischer Vergesellschaftung. Der Gedanke, dass die Entkoppelung der Reproduktion von ihrer körperlichen Grundlage das Potential zu einer umfassenden (gesellschaftlichen) Befreiung birgt, liegt etwa Shulamite Firestones 1975 veröffentlichtem Text „The Dialectic of Sex“ (deutsch: „Frauenbefreiung und sexuelle Revolution“) ebenfalls zugrunde. Im Gegensatz zu Solanas Entwurf von 1967 bleibt in ihm die Reproduktion, jetzt losgelöst von vergeschlechtlichter Körperlichkeit, die Perspektive. (Auch hier verschwindet der Geschlechtsunterschied zugunsten der Vorstellung einer unverfälschten Humanität). Mit ihrer Forderung Wages for Housework hatten italienische Marxistinnen 1972 die zentrale Rolle der Reproduktion für die kapitalistische Produktionsweise aufgezeigt. Sie war im Fordismus u.a. durch historischen Klassenkompromiss und Familienernährer-Modell, durch Konsumkultur und nicht zuletzt auf der Basis der Ausbeutung der restlichen Welt unsichtbar gemacht worden. Entwirft Solanas, vielleicht im Zusammenhang mit ihrer „fringe existence“, wie Avital Ronell schreibt, eine „uniquly American dead-end-one-warrior-revolution“, ist sie ohne Zweifel ebenfalls aus dieser Nachkriegsordnung geboren.[10]
Seit einigen Jahren rückt die Reproduktion angesichts der Krise des Fordismus und des Zerfalls seiner Staats- und Subjektivierungsformen auch in den kapitalistischen Kernländern sowohl im Gesellschaftsgeschehen, als auch in den Theorien 615-544-4827 , die dieses Geschehen kritisch reflektiert, ins Zentrum der Auseinandersetzung. Der Ausdruck dieser Auseinandersetzung um Sozialstaat, Familienmodelle und Sorgetätigkeit ist dabei so widersprüchlich wie das Gesellschaftsgeschehen selbst: Ich denke, Düttmanns Diskussion von Solanas Antwort wäre in den sich hier überschneidenden Debatten produktiv. Sie erlaubt es, Fragen zu stellen, deren Antworten meistens stillschweigend vorausgesetzt werden.[11] Welches Begehren und welche Ängste drücken sich im Kinderwunsch aus? Wem (und wem nicht) verschaffen die Phantasien vom Ende welche Lust? Welche Kräfte könnten sie freisetzten?[12] Ändert es etwas, nicht ein „kollektives Individuum“ Menschheit zu konstruieren, sondern die Menschheit als Menschen zu denken? Und was passiert, beantworten wir, einer solchen Verschiebung folgend, Düttmanns Frage – „Wiegt nicht jedes Rühren an ein Außen, das der Anstrengung eines kollektiven Individuums bedarf, weitere Berührungen auf?“ – mit Nein statt mit Ja? Umgekehrt erlauben es diese Kontexte, Düttmanns Ausführungen auf die konkrete Situation, in der die Selbsterhaltung zum Thema wird, und die Rolle der Geschlechterverhältnisse in ihnen zu beziehen. Welche Rolle das Denken hier spielt und was angesichts der „Zumutungen der Selbsterhaltung“ gefragt ist, ist jedenfalls Motor der weiteren Texte des Buches. Und an einer Stelle, im Text zur Frage des Ungehorsams („Euphemismus und Ungehorsam in der Universität“), so lese ich es, gibt Düttmann dann doch noch so etwas wie eine (persönlichen) Antwort: „Das Recht des Akademikers, alles zu sagen und es öffentlich zu tun, ist nicht zwangsläufig das Recht darauf, etwas Falsches zu sagen, muss er doch, unfähig, alles zu sagen, und doch angehalten, etwas zu sagen, nicht einfach irgendetwas sagen.“ (84) Ich lese den Satz noch einmal. Ich denke an die aufgeregte Diskussion, die wir gestern hatten. Ich glaube, du warst enttäuscht von meiner Zurückhaltung. Die Unbedingtheit, die sich in dieser Enttäuschung ausdrückt, entzückt mich, aber sie bedrängt mich auch. Ich schicke dir eine E-Mail, in die ich kommentarlos das Zitat kopiere, und schmunzle, ja, ich denke das trifft es ganz gut.
Alexander Garcia Düttmann: Gegen die Selbsterhaltung. Ernst und Unernst des Denkens. Berlin: August Verlag Berlin. ISBN: 978-3-941360-49-5. 255 S.
[1] Sara Stridsberg: Traumfabrik. Frankfurt am Main 2012, S. 7.
[2] Avitall Ronell: Deviant Payback: The Aims of Valerie Solanas, in: Valerie Solanas: Scum Manifesto. London, New York 2004, S. 11.
[3] Valerie Solanas: Scum Manifesto. London, New York 2004, S. 61.
[4] Ebd.
[5] „Confined to the precincts of parasitical utterance, she adopted the language of a pest, plugging the kind of speech that counters while resembling hate speech.“ Avital Ronell: Deviant Payback, S. 2.
[6] Michel Foucault: Was ist Kritik? Berlin 1992, S. 12.
[7] Ebd.
[8] Ebd., S. 62.
[9] Die Buchreihe Kitchen Politics. Queerfeministische Intervention gibt in ihren Textsammlungen einen Einblick in historische Debatten und verortet diese in einer Analyse der gegenwertigen Situation. Die Reihe erscheint seit 2012 im Verlag edition assemblage.
[10] Ronell: The Defiant Payback, S. 9.
[11] Lee Edelman: No Future. Queer Theory and the Death Drive, Durham, London 2004.
[12] Kerstin Stakemeier: Katastrophische Reproduktion: Science Fiction jenseits des Subjekts, in: Susanne Witzgall, Kerstin Stakemeier (Hrsg.) Die Gegenwart der Zukunft. Zürich, Berlin 2016.