Rebellionen in Städten wie Istanbul, Kairo, Madrid oder Sao Paulo bilden den aktuellen Hintergrund des Buchs «Rebellische Städte» des Humangeographen und Sozialtheoretikers David Harvey, das 2012 geschrieben und nun in deutscher Übersetzung erschienen ist. Etwas früher, 2010 (in deutscher Übersetzung 2014), erschien «Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln», eine Analyse der Weltwirtschaftskrise von 2007/09, die hier zur Erläuterung der Grundlagen von Harveys Analysen beigezogen wird.
Der Autor, geboren 1935 in England, wurde durch die Rassenunruhen und die 68er-Bewegung zu seiner Beschäftigung mit der Stadt angeregt. Seine klassische Studie ist diejenige über die Transformation von Paris durch den Stadtarchitekten Hausmann unter Napoleon III. «Hausmannisierung» meint die Herrichtung der Stadt gemäss militärischen Gesichtspunkten zur Bekämpfung revoltierender ArbeiterInnen, welche dann gegen den Aufstand der Pariser Kommune 1871 zum Tragen kam. Interessant sind jedoch vor allem die vielfältigen Studien zu heutigen Stadtentwicklungen. Als kritischer Marxist fasst er die Stadt nicht als Objekt, sondern als widersprüchlichen Prozess der Urbanisierung auf, der durch Aufschwungsphasen und Krisen geprägt wird.
In seinem Buch «Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln» geht Harvey ausführlicher auf die Kapitalakkumulation als einen krisenhaften Prozess ein. Zweck der Akkumulation ist nicht die Befriedigung von gesellschaftlichen Bedürfnissen, sondern die Generierung von Überschüssen, von Mehrwert. Damit sich ein Unternehmen in der kapitalistischen Konkurrenz halten kann, muss es wachsen, um einen Profit zu erzielen. Abgestützt auf Berechnungen des britischen Ökonomen Angus Madison muss die Weltwirtschaft um durchschnittlich 3 Prozent wachsen, damit genügend Profit erzielt wird, wobei sich dieses Wachstum sehr uneinheitlich und unregelmässig vollzieht, wenn wir zum Beispiel an die Wachstumsraten von Schwellenländern wie China oder an diejenigen der «Rentnerökonomien» der USA und der EU denken, die Profite aus anderen Ländern abziehen können. Liegt das Wachstum unter 1 Prozent, wird von einer Krise gesprochen, weil dann viele KapitalistInnen keine ausreichenden Profite, sondern Verluste schreiben.
Den Krisen liegen Schranken der Akkumulation zugrunde. Als mögliche solche Schranken erwähnt Harvey erstens den Kapitalmangel, also den Mangel an Startkapital in der Form von Geld, das investiert werden kann; zweitens die Knappheit an Arbeitskräften oder eine zu starke Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung; drittens die heute viel diskutierten «natürlichen» Schranken der Produktion; viertens unzureichende Produktionsmittel, ungeeignete oder veraltete Technologien und Organisationsformen; fünftens die mangelnde Rentabilität des Produktionsprozesses, etwa wegen Überinvestitionen oder zu hohen Kapitalkosten und sechstens, aber keineswegs am unwichtigsten, den Mangel an zahlungskräftiger Nachfrage auf dem Markt.
Diese Schranken können zu Überakkumulationskrisen führen, wenn vorhandenes Kapital nicht genügend rentable Anlagemöglichkeiten mehr findet. Allerdings hat sich der Kapitalismus bis heute als ein sehr flexibles System erwiesen, das seine Schranken zum Beispiel mit einer räumlichen Verlagerung von Kapital überwinden kann. Bis heute hat sich keine Schranke als unüberwindbar erwiesen – entgegen der Behauptung einiger MarxistInnen, die den notwendigen Fall der Profitrate postulieren, oder einiger ÖkologInnen, die von unüberwindbaren Schranken der Ausbeutung der Natur sprechen. Wichtige Mittel zur Überwindung jener Schranken sind etwa technische Erneuerungen, eine Beschleunigung des Produktionsprozesses, die räumliche Expansion oder Verlagerung oder die Steigerung der Ausbeutung der Arbeitskräfte. Allerdings überwindet das Kapital seine Krisentendenzen nie definitiv, es verlagert sie bloss in einem doppelten Sinn: von einer Region der Welt in eine andere und von einem Problembereich in den nächsten. Die Wucht der Weltwirtschaftskrise von 2007/09 zum Beispiel ist von den Banken und dem Finanzsystem auf die Staatsschulden verlagert worden. Die Antwort der Regierungen auf die durch die Bankenrettung angeschwollenen Staatsschulden ist die heutige Austeritätspolitik, mit der die Folgen der Krise auf breite Bevölkerungsschichten abgewälzt werden.
Die Probleme des internationalen Finanzsystems sind dadurch keineswegs gelöst worden. Im Gegenteil konnten die Manager der führenden Hedgefonds ihre Macht noch vergrössern; so versuchten diese im Sommer 2014 etwa, Argentinien in den Ruin zu treiben. Harvey vermag so den kapitalistischen Akkumulationsprozess nicht nur in seinen verschiedenen ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Dimensionen, sondern auch in seinen zeitlichen und räumlichen Strukturen zu erfassen. Er thematisiert damit konsequent ungleiche Entwicklungen sowie den «Aufstieg» und «Abstieg» von Wirtschaftsregionen. Auch seine Theorie des modernen Imperialismus ist von grosser Aktualität.
Stadtökonomie und Urbanisierungsprozesse als zentrale Bereiche der kapitalistischen Entwicklung spielen in der bürgerlichen Marktökonomie, aber auch bei MarxistInnen immer noch eine untergeordnete Rolle. Letztere konzentrieren sich meist auf die Produktionsprozesse und vernachlässigen tendenziell das, was Marx die sekundäre Ausbeutung genannt hat: «Ist die Ausbeutung des Arbeiters durch den Fabrikanten beendigt, dass er seinen Arbeitslohn bar ausbezahlt erhält, so fallen andere Teile der Bourgeoisie über sie her, der Hausbesitzer, der Krämer, der Pfandleiher etc.» (Kommunistisches Manifest, MEW 4, S. 469). Als Zentren der Produktion und der Reproduktion sind die Städte ein weites Feld der Ausbeutung und Enteignung. Ein stetiger Vermögenstransfer zu den Besitzenden findet insbesondere auch im Immobiliensektor, einem Kernbereich der Stadtökonomie, statt. Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen Entwicklungen des Kapitalismus und der Urbanisierung: Das Wachstum schreitet parallel zur Verstädterung der Weltbevölkerung voran.
Der Städtebau übernimmt mithin eine wichtige Rolle in der kapitalistischen Entwicklung. Investitionen in die städtische Infrastruktur und die Verkehrssysteme benötigen viel Kapital und setzen oft ein Engagement der Grossbanken und des Staates voraus. Zudem sind es langfristige Investitionen, deren spätere Rentabilität nicht exakt vorausgesagt werden kann. Daher sind diese Investitionen äusserst krisenanfällig, der durch Krisen verursachte Schaden lässt sich nur langsam wieder beheben. Alle grossen Krisen, wie die lange Depression nach 1873, die Krise der 1930er Jahre, aber auch die jüngste Krise seit 2007 waren und sind zu einem wichtigen Teil Immobilienkrisen. Da es meist gelingt, die Krisenfolgen auf die Bevölkerung abzuwälzen, sei es mit Zwangsvollstreckungen bei Wohnungen, Lohnrestriktionen oder der Sparpolitik im Sozial- und Bildungsbereich, lässt sich an städtischen Krisen beispielhaft zeigen, was Klassenkampf von oben ist.
Auch die gegenwärtige Krise ist eine städtische Krise. Schon ab Mitte der 1980er Jahre haben die Schwierigkeiten zugenommen, für das überschüssige Kapital rentable Anlagemöglichkeiten zu finden. Im Gegensatz zu den vorgelagerten regionalen Krisen, der Krise in Japan seit 1990, der Asienkrise oder der Savings-and-Loan-Krise in den USA, ist die Weltwirtschaftskrise seit 2007 durch eine globale Gleichzeitigkeit gekennzeichnet, auch wenn die Ausprägungen zum Beispiel in China, Brasilien, Deutschland oder der Schweiz weniger stark ausfielen, was einen noch grösseren Absturz verhindert hat. Der Urbanisierungsschub vor dem Krisenausbruch 2007/08 war gekennzeichnet durch eine Verstärkung früherer Tendenzen, einen gewaltigen Wandel des Lebensstils und einen ungehemmten Konsumismus. Die Stadt wird zu einem Konsumgut der Wohlhabenden, vollgepflastert mit Banken, Boutiquen und Büros. Die Städte werden zu Zentren des Einkaufstourismus, der Kultur- und Wissensindustrie sowie der Ökonomie des Spektakels. Hier tobt sich die neoliberale Ethik eines habgierigen Individualismus und Konsumismus aus: mit den negativen Folgen einer zunehmenden Isolation, sich verbreitender Ängste und Neurosen. In den städtischen Krisen werden aber auch die Risse im System sichtbar, wenn die konsumistische Befriedung an ihre Grenzen stösst und die Jugend sowie andere Teile der Bevölkerung zu rebellieren beginnen.
Nach Harvey müssen heute Antworten auf drei Hauptprobleme gefunden werden: auf die erdrückende Armut eines grossen Teils der Weltbevölkerung, auf die Umweltzerstörung und auf den Wachstumswahnsinn einer ungebremsten kapitalistischen Akkumulation. Um diese Probleme zu lösen, braucht es seiner Meinung nach eine Reform des Staates, eine demokratische Kontrolle der Produktion und eine kontrollierte Verwendung der Überschüsse. Dies wird nicht möglich sein ohne den Bruch mit traditionellen linken Vorstellungen. Notwendig sei es deshalb, so Harvey, das Problem der Klasse und das Terrain der Auseinandersetzung mit dem Kapital neu zu definieren. Ausbeutung gibt es nicht nur am Arbeitsplatz. Das klassische Fabrikarbeiterproletariat der traditionellen Industrieländer verschwindet, zum Teil hat es Privilegien erlangt und ist in die Unternehmen eingebunden worden. Deshalb werden in zukünftigen Konflikten andere Schichten wie Bau- und TransportarbeiterInnen, Frauen im Verkauf und in der Restauration oder Hausangestellte eine wichtige Rolle spielen.
Zudem sind nach Harvey die Probleme im Reproduktionsbereich für das Klassenbewusstsein heute prägender als die berufliche Stellung im Unternehmen. Die Stadt, in der sich die Probleme des Produktions- und des Reproduktionsbereichs überschneiden, wird in Zukunft folglich noch stärker das Zentrum der Auseinandersetzung bilden, wobei Städte auch früher schon eine wichtige Rolle gespielt haben, wenn wir an die Pariser Kommune von 1871, an Leningrad in den russischen Revolutionen von 1905 und 1917, den Cordobazo in Argentinien 1969 oder den Caracazo in Venezuela 1989 denken. In der Stadt treffen verschiedenste Gruppen aufeinander. Lokale Organisationen, in denen diese zusammengeführt werden, sind entscheidend. Beispiele dafür sind die Quartierorganisationen in den sozialen Kämpfen in El Alto in Bolivien oder in Caracas in Venezuela, welche einen Transformationsprozess ermöglicht haben. Im Zentrum dieser Kämpfe muss das Recht auf Stadt stehen, das Recht auf eine alternative Entwicklung in der Stadt, findet Harvey. Recht auf Stadt heisst Recht auf kollektive Gestaltung der Stadt, welche uns allen gehört, und Kampf gegen eine destruktive Urbanisierung, die von den Interessen des Kapitals, der Banken und der multinationalen Unternehmen bestimmt ist.
Seit der Weltwirtschaftskrise 2007/09 hat sich die zuvor schon sichtbare Spaltung zwischen den Strategien des Westens, Nordamerikas, der EU und den Schwellenländern wie China, Indien und Brasilien noch verstärkt. Die Staaten des Westens verfolgen als Rentnerökonomien eine Austeritätspolitik, durch die grosse Vermögen auch in einer Krisensituation erhalten und vermehrt werden. Dies geschieht auf Kosten der breiten Bevölkerung, nicht zuletzt auch des sogenannten Mittelstands, vorab in den südeuropäischen Ländern. Diese Strategie funktioniert vorläufig nicht schlecht, da sich der bedrohte und absteigende Mittelstand wie schon in den 1930er Jahren politisch nach rechts orientiert und anfällig ist für nationalistische Mobilisierungen und Fremdenfeindlichkeit. China hingegen betreibt eine keynesianische Wachstumspolitik, um die wirtschaftliche Situation seiner Bevölkerung zu verbessern und diese zu befrieden, mit unabsehbaren ökologischen Folgen. Wo die nächste Krise ausbrechen wird, ob aufgrund der mangelnden Kaufkraft im Westen oder aufgrund von nicht mehr rentabilisierbaren Überinvestitionen in China, ist schwer vorauszusagen. Noch problematischer ist aber auch, dass sich in der Folge der Weltwirtschaftskrise die imperialistischen Rivalitäten zwischen den Staaten und Machtblöcken verschärft haben, wie das etwa im Nahen Osten und in der Ukraine sichtbar wird. Diese politischen und militärischen Auseinandersetzungen beseitigen die inneren Widersprüche der Kapitalakkumulation keineswegs, sondern tragen meist zu deren Verschärfung bei. Die nationalistische Mobilisierung nützt allein den Oligarchen in West und Ost – die Dummen sind am Schluss immer die aufgehetzten Bevölkerungsschichten.
Sicher ist für Harvey, dass die Situation heute so bedrohlich geworden ist, dass es einen immer kleineren Spielraum für den närrischen Versuch gibt, den Kapitalismus sozial gerecht zu gestalten und moralisch zu rechtfertigen. Heute sind im Gegenteil Widerstand und Rebellion an der Tagesordnung. Das Problem des endlosen Wachstums und der endlosen Kapitalakkumulation muss angegangen und überwunden werden. Notwendig dazu ist die Entstehung einer globalen korevolutionären Bewegung, in welcher die heterogenen oppositionellen Kräfte zusammenarbeiten: Die sozialen Bewegungen der Bauern, Indigenen, Frauen und Gewerkschaften, welche sich in den Ländern des Südens gegen die Enteignung von Land, Wasser und anderen Ressourcen zur Wehr setzen, und die rebellischen Bewegungen in den Metropolen, welche für das Recht auf Stadt und gegen die Austeritätspolitik kämpfen.
David Harvey: Rebellische Städte. Edition Suhrkamp, Berlin 2013.
Ders.: Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln. Den Kapitalismus und seine Krisen überwinden. VSA, Hamburg 2014.