Der bedeutende Autor, Kunstkritiker und Kulturphilosoph John Berger ist im Januar 2017 im Alter von 90 Jahren gestorben. Ein Versuch, entlang seiner Schriften einen exemplarischen Blick auf einige Themen im linksintellektuellen Nachdenken über die Moderne zu werfen.
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Um zu verstehen, warum der marxistische Kunsttheoretiker die letzten Jahrzehnte bei den Bauern in Savoyen lebte und sich die Bauern zum Subjekt seiner Erzählkunst erwählt hat, das heisst, um zu verstehen, wie der Widerspruch zwischen Fortschrittsorientierung und Bodenbindung nach dem vorläufigen Scheitern der sozialistischen Entwicklungshoffnung und der zunehmenden Auflösung der bäuerlichen Lebensweise im 20. Jahrhundert gegen Regressionsphantasien produktiv gemacht werden kann, ist es notwendig, zunächst die grossen Bergerschen Problemkreise „Sehen“ bzw. „das Sichtbare und das Verborgene“ zu untersuchen.
Berger bestimmt das Unsichtbare deutlich als verdrängten Teil des Sichtbaren: „Die Abbildung kommentiert die Abwesenheit dessen, was abgebildet ist.“ Und die Aufgabe der Kunst als Sichtbarmachung dessen, was fehlt, als Verkörperung des Mangels: „(…) von den paläolithischen Höhlenzeichnungen bis heute war es die Hauptaufgabe der Malerei, etwas, das nicht gegenwärtig ist, sichtbar zu machen.“[1] Ähnliches sagt er über das Verhältnis des Bauern zum Sichtbaren: „Was sichtbar ist, gilt ihm gewöhnlich als Zeichen für den Zustand des Unsichtbaren.“[2] Dann aber ist die Frage der Deutung eines Werks nicht nur eine der minutiösen Wahrnehmung oder der Phänomenologie, sondern sie ist entscheidend geleitet durch die Bestimmung dessen, was fehlt. Was aber fehlt?
Ein möglicher Versuch, dies zu erkennen, geht aus von der Sprache Bergers. Die grosse Klarheit und der unerschütterliche Tonfall in Bergers Unternehmen, das Sichtbare und Unsichtbare in Sprache zu übersetzen, scheint zunächst direkt aus seiner Pedanterie gegenüber der eigenen Wahrnehmung zu stammen. Weil Genauigkeit in der Beobachtung wohl die grösstmögliche Klarheit ergibt. Aber bei näherem Hinsehen ergibt sich der gegenteilige Befund. Denn Bergers Worte über ein Bild, über einen Menschen oder eine gesehene Begebenheit tasten sich Schritt für Schritt der Oberfläche entlang und lassen sich erschüttern durch jede Unebenheit, suchen jede Untiefe, scheuen sich nicht Widersprüchliches gegeneinander zu stellen, sehen sich ausser Stande, alles, was da ist, zu beschreiben oder in Sprache zu übersetzen, korrigieren sich, mit einem Wort: sie schwanken. Was aber sonst, wenn genaues Beobachten die Worte brüchig und unsicher macht, ist der Grund für die Klarheit in Bergers Sprache? Oder anders gefragt, weshalb schwanken die Worte, ohne uns schwankend zu machen, die wir ihnen folgen? Ich glaube, weil sie es um der Liebe willen tun zum immer schwankenden und immer zweideutigen, sich, um mit Bloch zu sprechen, nicht habenden Gegenstand, den sie beschreiben. Je deutlicher Berger hinsieht und sich seinem Gegenstand annähert bis er „Wange an Wange“ mit ihm sich befindet, desto mehr kann er sich einfühlen, um schliesslich mit dem Recht des Liebenden das Wagnis einzugehen, dem Gegenstand sein Unsichtbares in Form von Sprache einzutragen. Daher die immer neuen Thesen und Behauptungen, die Berger aufstellt, korrigiert, präzisiert, widerruft und bestätigt. Sie sind der Versuch, den Gegenstand trotz seines Mangels an Sichtbarkeit, trotz der Bedrohung seiner Wirklichkeit durch Unsichtbarkeit zu stützen, zu behaupten, zu erfüllen mit Welt. In diesem Vorgang wird auch das abstrakte, bisher abwesende, aus der Ferne der Verallgemeinerung geholte Wissen, das er den Dingen aufbürdet, konkret und bedeutsam für das Einzelne. Diese sichtbar gemachte und zurückgegebene Bedeutsamkeit erst macht das Einzelne konkret und seine Versöhnung mit dem abstrakten Allgemeinen wieder möglich.
In seinem Aufsatz „Das Geheimnis des Frans Hals“ schreibt Berger über ein Portrait: „Ich merke, dass es mir nicht gelingen wird, die Verzweiflung in diesem Bild zu beschreiben.“[3] Doch gerade dieses durch die feinfühlige Wahrnehmung möglich gewordene Eingeständnis öffnet den Raum für eine Erklärung der fehlenden Sinnhaftigkeit der Verzweiflung. Es fehlt im Bild das Wissen für ihren Grund, der sich nicht innerhalb des Gesichts des dargestellten Mannes finden lässt. Es muss also etwas hinzugefügt werden. Diese Hinzufügung aber ist nicht direkt ableitbar aus dem Bild, sondern nur aus dem Mangel, den Berger durch eine Irritation der eigenen Wahrnehmung erkennt, die sich wiederum als Erwartung, hier auf einen Mangel zu stossen entpuppt. („Gerade das Gefühl des Verlusts nährt seine Erwartung“, sagt Berger einmal über Baudelaire.) Wir könnten diese Situation einfach als „Unmöglichkeit“ beschreiben und es dabei belassen. Für Berger aber ist sein Scheitern bei der Beschreibung der Verzweiflung Anlass zu weiteren Untersuchungen mit dem Ergebnis, dass er folgende Hinzufügung machen kann:
Das Fehlende ist zum Beispiel das Wissen über die Zurichtungen und Zumutungen, die trotz aller Prosperität der junge Kapitalismus des 17. Jahrhunderts über das niederländische Bürgertum gebracht hat: „Wir erkennen in diesen Portraits der Männer (nicht der Frauen) eine ganz neue gesellschaftliche Typologie und – je nach dem besonderen Fall – eine neue Art von Angst und Verzweiflung. Wenn wir Hals glauben wollen – und er ist durchaus glaubwürdig –, dann hat die heutige Welt nicht mit grossem Jubel begonnen.“[4]
Was hereingeholt wird, erklärt, was drinnen zuvor nicht erklärbar war. Aber die Erkenntnis des „etwas fehlt“ ist zusätzlich auch die Bestimmung der Realität als bedrohte Wirklichkeit durch Mangel. Richtiges Sehen, was nach Berger nichts anderes ist als die Voraussetzung für die „Rettung der Wirklichkeit“, ist nur, was gleichzeitig Wagnis des Sehens ist, das Wagnis zu sehen, was den herrschenden Sehgewohnheiten fremd ist, das aber heisst auszusagen, was den Herrschern feindlich ist. Die Kritik des Sichtbaren im Namen des Verdrängten. „Die Wirklichkeit“, sagt Berger, „ist denen feindlich, die Macht haben.“ Und: „Mehr aus der Realität herauszubekommen – das ist das Wesen eines Künstlers.“[5]
Aber es genügt heute nicht mehr, das Unsichtbare oder Abwesende im Sichtbaren nur immer wieder neu historisch, materialistisch, politisch, psychoanalytisch usw. zu bestimmen. Denn das Licht, das eine solche Bestimmung auf das Unsichtbare wirft, wird mit der Zeit aufgebraucht, die Erhellung des Dunkeln bzw. die Behebung des Mangels wird automatisiert als „ewige Wiederkehr des Neuen“[6] und versorgt ins Gestell evidenter Verborgenheit, wo Aufklärung bedeutet, das allen Bekannte immer wieder neu als Entdeckung zu feiern. Die ständige Veränderung und Anpassung, die alles ins Vergängliche der evolutiven Weltsicht reisst, schwächt die Kraft der Aufklärung, indem sie die Vorstellung einer permanenten Erhellung und Sichtbarmachung umwandelt ins impressionistische Weltbild, wo nur der aufblitzende und vorüberhuschende Moment noch Erkenntniskraft hat. Berger zitiert dazu Baudelaires Gedicht „Der Schwan“: „die Gestalt einer Stadt wechselt rascher, ach!, als das Herz eines Sterblichen.“[7]
Die bürgerliche Strategie, mit der Enttäuschung über dieses Ungenügen fertig zu werden, heisst Melancholie. Das Unsichtbare, das die Aufklärung als Verdecktes bzw. Verdrängtes bestimmt hatte, wird dadurch, dass es nun als verlorenes oder verschwundenes Gut und Glück beklagt wird, in die Zeitlosigkeit des ewig menschlichen Sehnens und Begehrens nach dem verlorenen Paradies verlegt und so dem Wechsel seiner Gestalt und seiner Wahrheit entzogen. Berger aber, am selben Punkt angelangt – auch er auf der Suche nach der Vermittlung – zieht nicht mit, sondern behauptet gegen die Rede vom Verschwinden die fortdauernde und also gleichsam zeitlose Anwesenheit des Verdrängten.
Dabei könnte das Verdikt über den Verlust der Zeitlosigkeit in der Moderne nicht drastischer ausfallen als in jener kleinen Bemerkung Bergers zu den Bildern Mark Rothkos: „Nach dem Krieg machten die Surrealisten die ungelöste Problematik der Zeit zum Dauerthema ihrer Arbeiten; alle surrealistischen Bilder beschwören die Traum-Zeit, denn Träume waren der einzige Bereich des Zeitlosen, der unbeschädigt geblieben war. In den letzten vierzig Jahren hat die transatlantische Malerei gezeigt, dass nichts mehr da ist, das vermittelt werden könnte, und daher nichts mehr gemalt werden kann. Das Zeitlose war – wie Rothko so intensiv gezeigt hat – leer.“[8] Für Berger ist die ungebrochene Faszination Rothkos, nicht Anlass für eine zen-buddhistisch inspirierte Verzückung über die Leere als Lehre, wie sie sich vor wenigen Jahren eindrücklich in der Basler Ausstellung manifestiert hat, sondern er erschrickt über die Konsequenz solcher Leere, wenn er feststellt: „Das Vergängliche ist zur einzigen Zeit-Kategorie geworden. Durch Pragmatismus und Konsumdenken wurde es schliesslich aus der abstrakten Kunst ausgeschlossen oder zum Fetisch einer kurzlebigen Mode – wie in der Pop-art und ihren Ablegern. Das Vergängliche, das nicht mehr auf das Zeitlose ausgerichtet ist, wird so trivial und flüchtig wie das Modische. Wenn dem Vergänglichen und Zeitlosen keine Koexistenz eingeräumt wird, lässt sich in der bildenden Kunst nichts schaffen, was von Bedeutung wäre.“[9]
Und er erkennt in der Folge im Verdrängten und Unsichtbaren auch jenes Zeitlose, das er wieder den Diskursen und der Darstellbarkeit zuführen möchte. Denn wie die Erfahrung zeigt, Aufklärung behält ihre Wirkung für das Zeitliche nur in der spannungsreichen Vermittlung mit dem Zeitlosen[10], das sie einerseits permanent in Vergänglichkeit überführt und von dem sie andererseits ihre eigene Gültigkeit gegen die Vergänglichkeit borgen muss.
Aber was heisst das konkret? „Die Anerkennung der Koexistenz von Zeitlosigkeit und Vergänglichkeit muss nicht notwendig eine romantisierende Rückkehr zu früheren religiösen Formen bedeuten“[11], schreibt Berger, sich dieser Gefahr wohl bewusst. Und deshalb ist es entscheidend, hier nicht vom Verschwinden zu sprechen, sondern vom Verdrängen. Denn das Abwesende, einmal gedeutet als das Verschwundene, kann nur als Wiedergänger wiederkommen, da dem Verschwundenen gegenüber die Arbeit nur im Zurückholen besteht, seine Qualität liegt einzig in seinem Seinsstatus, entweder da zu sein oder abwesend zu sein. Seine Unbearbeitbarkeit bestätigt sein reaktionäres Potential. Dagegen macht die Bewusstmachung des Verdrängten sichtbar, dass die Arbeit mit dem Verdrängten bzw. dessen Bearbeitung, von der man sich im Akt der Verdrängung suspendiert hat, ein notwendiger, weil immer wiederkehrender Prozess ist. Denn Verdrängen heisst auch Zugänglichkeit erhalten, vergessen dagegen heisst, diese aufzugeben.
Pier Paolo Pasolini drückt diesen feinen Unterschied aus im Gedicht „Gesang der Glocken“: „Körperlos heimkehrend dorthin, wo die Glocken / Worte der Pflicht sangen, dumpf wie Donner / weine ich nicht, weil jene Welt nicht mehr wiederkehrt, sondern weil ihr Wiederkehren vorbei ist.“
Die verlorene Welt ist nicht wiederzuhaben ohne ihr dumpfes Grollen. Das zu Leugnen ist der Irrtum des Nostalgikers. Wiedergewinnen lässt sie sich nur als das Verdrängte, das ständig wiederkehrt, als Mahnung, sich damit zu beschäftigen und sich ihr und ihrem dumpfen Grollen anzunehmen. Die Trauer aber, die Pasolini beschreibt, ist die moderne Erkenntnis, dass einem das Verdrängte nicht mehr bedrängen wird, weil man selber ihm nichts mehr entgegensetzen kann, weil man, wie er sagt, „körperlos“ geworden ist und weil dadurch auch das Versprechen nach Bearbeitung und Verbesserung der verlorenen Welt, das in jener Wiederkehr noch lag, hinfällig geworden ist. Was man sucht, ist unwiederbringlich verloren deshalb, weil man selber dafür nicht mehr zugänglich ist, es nicht mehr deuten, es auch nicht gestalten kann. Die Leere, die daraus folgt, ist die Leere der Konfliktlosigkeit. Wir nennen sie Depression. Um ihr zu entgehen, besteht nun der Trick des Melancholikers darin, sich die Zugänglichkeit zum Gegenstand als ein Geniessen der Unmöglichkeit seiner Realisierung zu erhalten. Körperlosigkeit entsteht aus der Unschuldsphantasie, sich nicht mehr beteiligen und einmischen zu müssen. Sie bringt Erfahrungsverlust, der allmählich in Welt- und Wirklichkeitsverlust übergeht. Im Gegensatz dazu setzt der Maler und Kunstdeuter Berger in allen seinen Schriften Körperlichkeit. Gerade der immer von Zerfall bedrohte, von Entbehrungen gezeichnete und von Empfindungen besessene Körper stellt für ihn den Bezug zu jener Art der Zeitlosigkeit dar, die Pasolini so feinsinnig von der nostalgischen Klage über die Vergänglichkeit absetzt: Nicht die verlorene Welt selber, sondern ihr Wiederkehren – als unvergängliche Arbeit und Mühsal des Lebens, des wirklich Werdens bzw. der Verkörperung – ist wiederzugewinnen. Über die Menschen auf Caravaggios Bildern sagt Berger: „Da sie nicht unschuldig sind, können ihre Körper Erfahrung in sich bergen.“[12]
Bergers Hinwendung zum Zeitlosen ist der Versuch, das Abwesende der Verlorenheit zu entziehen ohne dabei der Nostalgie, der Melancholie oder der Depression nachzugeben (die ja allesamt Symptome sind für den Verlust von Realkontakten). Sie ist notwendig, weil jene Zuversicht, die noch Paul Tillich 1932 in seinem Buch „Die sozialistische Entscheidung“ in die prophetische Kraft der Zeit hat legen können, brüchig geworden ist: „Positiv bedeutet das die Erfassung der Zeit in ihrer wesenhaften Selbständigkeit und die Erhebung der Zeit über den Raum. Die Zeit bekommt eine Richtung; sie geht auf etwas zu, das nicht war, sondern sein wird und das, wenn es erreicht ist, nicht wieder verloren geht.“[13] Aber es ist die schmerzliche Erfahrung der Linken im ausgehenden 20. und im beginnenden 21. Jahrhundert, dass es eben doch verloren gehen kann und dass die Anstrengung der Erinnerung dagegen nichts vermag, wenn sie nur auf das Festhalten des Zeitlichen aus ist. Vielleicht deshalb, weil er dies gespürt hat, ist Erinnerung keine wesentliche Kategorie in Bergers Werk.[14]
Kategorie aber geworden ist für ihn zunehmend, gestaltend, bearbeitend, entwerfend der Bauer. Doch während die übliche feuilletonistische Rede vom allmählichen Verschwinden der Landwirtschaft sich unter der Klage darüber insgeheim nochmals distanziert vom Bauern, den sie schon früher als realexistierendes stinkendes und unkultiviertes Subjekt nicht haben wollte, findet Berger einen anderen, realistischen Zugang.
In seinem kurzen Text: „Eine Fuhre Scheisse“ macht Berger klar, worum es ihm geht: „In einem seiner Bücher verwirft Milan Kundera die Vorstellung eines lebendigen Gottes, denn kein Gott, so seine Überlegung, hätte ein Leben ersonnen, in dem es nötig wäre zu scheissen. Die Art und Weise, wie Kundera dies vertritt, lässt vermuten, dass es sich um mehr als einen blossen Witz handelt. Er bringt eine tiefe Kränkung zum Ausdruck. Und eine solche Kränkung ist typisch elitär. Sie verwandelt einen natürlichen Widerwillen in eine moralische Empörung. Das gehört zu den Gepflogenheiten der Eliten.“[15] Berger macht einen Schnitt und notiert ohne Überleitung eine eigene Erfahrung: „Vor einer Woche habe ich die Scheisse vom letzten Jahr ausgeräumt und vergraben. Die Scheisse meiner Familie und der Freunde, die uns besuchen. Einmal im Jahr muss das gemacht werden und der Mai ist der richtige Zeitpunkt für diese Arbeit.“ Nach Betrachtungen über Beschaffenheit und Geruch der verschiedenen Arten von Kot, fährt er fort: „In der Welt der modernen Hygiene ist Reinheit zu einem rein metaphorischen oder moralischen Begriff geworden. Jede sinnliche Realität ist verlorengegangen.“[16] Das Vermeiden von Realkontakten in der bürgerlichen und postbürgerlichen Gesellschaft gebiert Ungeheuer, wie wir beispielsweise aus der Erforschung der Gewalt in der Schule wissen. Und daher auch die elitären, fundamentalistischen oder rassistischen Phantasien von Reinheit, wo diese nicht mehr als Resultat einer gewöhnlichen, notwendigen und immer wiederkehrenden Arbeit gedacht werden kann, sondern als Seinsqualität ein für allemal gegen Vermischung ins Feld geführt wird.
Was nun ist das Zeitlose der Bauern, das Berger als das Verborgene bestimmt, das die Gegenwart um den Preis ihrer Bedrohtheit willen verdrängt hat? Es ist Arbeit als zeitlose Arbeit des Überlebens, worin ein Versprechen des gerechten Lebens sich konservieren kann. Indem Berger den Bauern in erster Linie von der Arbeit her begreift und von ihm her Arbeit begreift, entreisst er ihn sowohl der ästhetischen und naiven Phantasie der Städter als auch jener instrumentellen, die ihn nur als Variable von Agrarreformen sieht und jener reaktionären, die ihn als Unterpfand des Nationalismus missbraucht. Gerade mit einem Maler, mit van Gogh, wird der Fokus auf die Arbeit eingestellt. „Aus seinen Briefen weiss man auch, dass ihm nichts heiliger erschien als die Arbeit. In seinen Augen war die physische Realität der Arbeit gleichzeitig eine Notwendigkeit, eine Ungerechtigkeit und der Wesensgrund der Menschheit durch die ganze Geschichte hindurch. Der schöpferische Akt des Künstlers war für ihn bloss einer unter vielen. Er glaubte, den besten Zugang zur Wirklichkeit gewähre die Arbeit, und zwar genau deshalb, weil die Wirklichkeit selbst eine Form der Produktion war.“[17] Denn die bäuerliche Lebenswelt mit dem Begriff der Arbeit zu begreifen, heisst Erfahrungen und Prozesse zu deuten und nicht Seinsweisen. Somit kann das, was Berger über den Bauern sagt, insofern er es vermittelnd über die Arbeit des Bauern sagt, prinzipiell auch in andere Produktionsweisen übernommen werden. Denn trotz aller Emphase stellt Berger in der Einleitung zu seinem erzählerischen Hauptwerk „Von ihrer Hände Arbeit“ fest: „Aus dem, was ich bisher gesagt habe, muss folgen, dass niemand vernünftigerweise der Erhaltung der traditionellen bäuerlichen Lebensweise das Wort reden kann. Das zu tun hiesse, dafür zu sein, dass Bauern weiterhin ausgebeutet werden und dass sie ein Leben führen sollen, in welchem die Bürde körperlicher Arbeit oft verheerend und immer niederdrückend ist.“[18]
Die Arbeit des Bauern, sagt Berger, ist reine Arbeit des Überlebens. Das heisst der Bauer muss sich und seine Familie immer neu durch seiner Hände Arbeit hervorbringen, da er durch Willkür der Herrschenden und durch die Launen der Natur der Zukunft immer wieder schutzlos ausgeliefert ist. Sowohl Abgabenlast als auch Naturereignisse sind ständigen Schwankungen unterworfen. Das ergibt für den Bauern die Notwendigkeit, sich immer wieder unter neuen Voraussetzungen neu zu behaupten. „Alles, was sie tun, ist antizipatorisch – und kommt deshalb nie zu einem Abschluss. Diese Zukunft, der sie notgedrungen ihr Handeln widmen müssen, stellt sich ihnen als eine Folge von Hinterhalten dar.“[19] Die Arbeit des Bauern als Arbeit des Überlebens bringt nichts hervor, das Bestand hat, das im Sinne der Fortschrittsidee Zukunft vorhersagbar oder bestimmbar machen könnte, sondern der Bauer rettet durch ständige Arbeit einzig sich und seine Familie und also, um es mit einem viel verwendeten Begriff des Philosophen Giorgio Agamben zu sagen, nur das „nackte Leben“.
Ist das also nun Bergers Pointe der Analyse bäuerlicher Arbeit? Die Skepsis des Bauern gegen den Fortschritt, die daher rührt, dass er nichts Beständiges hervorbringt ausser immer wieder nur das nackte Leben selber? Fast scheint es so. Aber was hätte es für einen Sinn, ausser den, den Bauern als zeitlosen Prototypen für das aller Staats- und Herrschaftsmacht schutzlos ausgelieferte nackte Leben zu präsentieren? Denn diese kaum kritische, weil rein katastrophisch angelegte, zur Differenzierung von Zurichtungsprozessen kaum geeignete, weil die herrschenden Gegensätze nicht klärende, sondern sie nivellierende und also bestätigende Kategorie verfehlt, worum es Berger geht. Näher kommen wir dieser Sache mit der merkwürdigen Definition von Arbeit, die Hegel in der „Phänomenologie des Geistes“ gibt. Merkwürdig vor allem deshalb, weil im Kontext dieses Satzes die Kategorie des Verschwindens plötzlich nicht mehr schicksalhaft gegeben ist, sondern als genuine Tätigkeit (Machenschaft) der herrschenden Klassen entlarvt wird: „Die Arbeit hingegen ist gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden, oder sie bildet.“[20] Hegel, obwohl er später die Bürde der konstruktiven Arbeit positiv und exklusiv in die Sphäre der Knechtschaft eintragen wird, erhebt mit diesem Satz den arbeitenden Knecht gegen den Herrn, der alles durch Arbeit hervorgebrachte unaufhörlich und gierig verschlingt, sich einverleibt und verzehrt, dessen Genuss Vernichtung bedeutet, zum Träger zivilisatorischen Fortschritts, zu demjenigen also, der Beständiges schafft und durch eigenen Triebverzicht (gehemmte Begierde) im Interesse der Allgemeinheit das ständige Verschwinden des Geschaffenen aufhält, oder, mit Rekurs auf Bergers Kategorie, die Wirklichkeit rettet. Aber wie kann, was Hegel im Blick auf den Arbeiter der Manufaktur und der Künste entwickelt hat, für die Arbeit des Bauern gelten, die ja nichts Beständiges schafft? Bergers emphatischer Begriff der bäuerlichen Arbeit, die er mit der Aura von Schöpfung umgibt,[21] legt nahe, dass der Arbeitsakt selber geeignet ist, dazu beizutragen, „das Verschwinden aufzuhalten“. Der Versuch, für diese Behauptung Gründe zu finden, bringt die folgenden vier Punkte hervor:
Erstens, weil die Arbeit des Bauern darauf aus ist, das Wiederkehren aller wesentlichen Prozesse auch unter den ständig sich verändernden Produktionsbedingungen und Klimaverhältnissen zu garantieren.[22]
Zweitens, weil der Bauer über seine Arbeit immer im Realkontakt mit den äusserlichen Dingen ist, mit denen er sich um zu überleben verbünden muss und die doch jederzeit und unvermittelt Herrschaft über ihn ausüben können. Insofern bildet die Arbeit des Bauern die antagonistische Verfassung der Wirklichkeit ab, das heisst sie befähigt ihn Herrschaft als äusserliche Macht und Willkür zu deuten und bewahrt ihn davor sie zu verinnerlichen und als eigenes Interesse bzw. als gemeinschaftlichen Willen zu missdeuten, wie es die Grundmetapher „am gleichen Strick ziehen“ im Dienstleistungssektor Herrschaft verschleiernd vorsieht.[23] Unausgesprochen war zu jedem gegebenen Zeitpunkt die Beziehung dieser bäuerlichen Tradition zu der jeweils herrschenden Klassenkultur zumeist häretisch und subversiv. „Lauf vor nichts weg“, sagt ein russischer Bauernspruch, „aber tu auch nichts.“[24] Und Adorno schreibt mit Bezug auf Hegel: „Den gesunden Widerspruchsgeist hat Hegel mit der Dickköpfigkeit des Bauern hervorgehoben, der jahrhundertelang lernte, Jagd und Zins der mächtigen Feudalherren zu überstehen.“[25]
Drittens, weil die Arbeit des Bauern, vielleicht unter dem Zwang ständig zu improvisieren, den Eigenwillen, der sowohl dem industriellen Proletariat wie auch dem Dienstleistungsangestellten ausgetrieben worden ist, als wesentliches Merkmal hervorbringt und ihn in Form des bäuerlichen Eigensinns gerettet hat bis in die heutige Zeit.[26] Zahlreiche Geschichten, die Berger über das Landleben notiert, kreisen zentral um die verschiedenen, geradezu schöpferischen und produktiven Formen dieses Eigensinns.
Viertens, weil die Arbeit des Bauern die unaufhörliche und genaue Beobachtung der Wirklichkeit verlangt, das Bemühen noch die feinsten Veränderungen mit Hilfe der Erfahrungen aus der Vergangenheit als Vorboten zukünftigen Geschehens zu bestimmen.
So bestätigt also Bergers Definition der bäuerlichen Arbeit als Arbeit des Überlebens nicht die Rede vom nackten Leben als Rettung des einzigen, was dem Bauern bleibt, sondern sie bedeutet: der Bauer gibt sein spezifisches, weil immer neu durch Arbeit bestimmtes Leben nicht preis. Indem er es schafft zu bleiben, schafft er Bleibendes, das Wiederkehr sichern, Herrschaft überdauern, Eigenwillen erhalten kann. Leben an sich ist dem Bauern fremd. Romantisierende Etiketten wie „echtes Landleben“ oder „Leben im Einklang mit der Natur“ beschreiben Seinsweisen und verfehlen die Pointe, worauf es Berger ankommt: Das Leben muss immer wieder neu getan, angeeignet oder erworben werden und kann, wenn ihm die Möglichkeit dazu genommen worden ist, auch vertan werden. Insofern wehrt sich der Bauer gegen das grosse Verschlingen und Verzehren, insofern ist seine Arbeit „aufgehaltenes Verschwinden“. John Berger formuliert es so: „Ein intakter Bauernstand war die einzige Klasse mit eingebautem Widerstand gegen die Konsumgesellschaft. Wenn eine Bauernschaft verloren geht, vergrössern sich die Märkte.“[27]
Letztlich ist dieser existentialistische Arbeitsbegriff, der resistent ist gegen Fortschritt und Verschwinden, womöglich gegenwärtig geeignet, den Zivilisationsprozess erhalten zu helfen und damit auch dessen Idee des Fortschritts, der ohne die Dauerhaftigkeit seiner Errungenschaften gezwungen ist, sich immer wieder selber zu verzehren. Die bürgerliche Klage über bzw. das melancholische Geniessen des Verschwindens der Bauern entpuppt sich vor dem Hintergrund der hegelschen Bestimmung von Arbeit, wonach also das Verschwinden derjenigen beklagt wird, die erst mit ihrer Arbeit Verschwinden durch Verzehr und Konsum ermöglichen und gleichzeitig aufhalten durch das mit Triebverzicht geformte Bleibende, als auf Untergang angelegte Vernichtungsphantasie, aber auch als ein Wissen von der Tragweite dieser Vorgänge, an denen man selber beteiligt ist. – Was gegen melancholisch imaginiertes Verschwinden hilft, hat Berger in seinem grossen Erzählwerk über die Bauern gezeigt, was aber gegen real drohendes Verschwinden zu machen ist, weiss er nicht oder er sagt es nicht. Aber das Bild, das er in Sprache malt, in Solidarität zu diesen Menschen, versprüht erstens ungeachtet aller selber formulierten Skepsis das Pathos der Befreiungstheologie: „Die Wahrheit erscheint in der Gestalt der Armen“ und atmet zweitens den Geist des Standhaltens oder des Trotzes. Denselben, den der Schweizer Bildhauer Peter Kamm gegen immer neue Verschärfungen der Asylgesetzgebung in zeitlosen Stein gehauen hat: „WIR VERSCHWINDEN NIE“.
So bedeutet der Terminus „Rettung der Wirklichkeit“ noch nicht die Rettung der Subjekte selber, sondern nur ihre Sichtbarmachung in einem neuen Licht, der Beweis ihrer bedrohten Existenz, weil einer sie angesehen hat,[28] weil einer das Wagnis auf sich genommen hat, sie so zu sehen, wie es im Moment zu sehen nicht opportun ist.[29] Dies ist die Voraussetzung, dass Rettung geschehen kann, damit der Retter gerufen wird. In diesem Sinne ist auch jene hochmütige Provokation zu verstehen, mit dem Janos, der Maler in Bergers erstem Roman, einem Kunsthändler entgegentritt: „Wissen Sie überhaupt, für wen Künstler malen? Ich will es ihnen sagen: Für Helden.“[30] Rettung, bzw. das aufgehaltene Verschwinden, ist der direkte Angriff auf die Wirklichkeitssicht der Herrschenden. Und deshalb sagen sie auch, dass es nichts zu retten gibt: weil alles immer und überall verfügbar ist (die Ideologen der globalisierten Vielfalt), weil alles bereits verloren ist (die Melancholiker), weil es sich nicht lohnt (die schöpferischen Zerstörer im Namen des Kapitals) und weil es wider die Natur ist (die Verfechter eines evolutiven Fortschritts). Das Gerettete entfaltet seine subversive Kraft, weil man es, um mit einer Wendung von Walter Benjamin zu sagen, aus seinem Zeitraum herausschlug und es so seine Zeit überdauern kann.
Überdauern heisst Überleben und das bedeutet, wie Anna Seghers in ihrem gleichnamigen Roman so unvergesslich gezeigt hat, dass „die Rettung“ am Anfang jedes produktiven, Zivilisation und Fortschritt stützenden Prozesses steht und nicht am Schluss, wie uns die bürgerliche Literatur und die katastrophische Filmindustrie mit viel Aufwand weismachen. Was soviel heisst, wie: ohne Rettung kein Anfang. Aber Rettung ist nur der Anfang, die ganze Arbeit muss noch und neu getan werden, aber sie ist jener Anfang, der, ohne Verdrängung und Vernichtung, einen unverstümmelnden Arbeitsprozess zulässt. An diesem Anfang steht, als ein zu Rettender, immer wieder neu der Bauer. Oder anders gesagt, Bergers Konzeption der bäuerlichen Arbeit als dauernde Arbeit des Überlebens beinhaltet das Versprechen einer immer wiederkehrenden Möglichkeit des Neuanfangs und also auch eine zureichende Begründung für die Hinwendung der Revolutionen und ihrer Solidarisierungsbewegungen zu den Bauern, weil vor allem mit ihnen der nach dem revolutionären Ereignis der Machtergreifung (die Rettung) dringend benötigte Anfang gelingen kann. Das normale immer wiederkehrende schutzlose, landwirtschaftliche da capo verwandelt sich unter revolutionärem Vorzeichen in einen Neuaufbau, in Entwicklung und Fortschritt, der gerade an den Rückständigsten sich bewähren soll.[31] Der landwirtschaftliche Aufbau wird zum Prüfstein, ob das revolutionäre Ereignis sein immer drohendes zeitliches Verschwinden aufhalten kann.[32] Der Widerspruch, der offensichtlich darin liegt, den Fortschritt mit Rückgriff auf jene zu verwirklichen, die seinem Begriff entgegen stehen, hat Berger beschrieben, aber nicht gelöst. Er ist aber von Paul Tillich immerhin in eine eindrückliche dialektische Formel gebracht worden. Für Fortschritt steht bei Tillich „das bürgerliche Prinzip“, für das bäuerlich Zeitlose steht „Ursprung“: „Das Proletariat muss das verneinen, in dessen Kraft es das bürgerliche Prinzip bekämpft, den Ursprung; und es muss das bejahen, das es zerbrechen will, eben das bürgerliche Prinzip. Das ist der innere Widerstreit seiner Lage.“[33] Über diese Gültigkeit sind wir nicht hinweg.
Zugegeben, das bisher Gesagte ist eine Spekulation, die versucht, Bergers Hinwendung zum Bauern theoretisch produktiv zu machen. Sie hat aber ihre Aktualität in der sowohl dringenden wie Bergerschen Frage, wie es gelingen kann, die europäische Landbevölkerung von jenen Rechtsparteien zu lösen, die durch die Propagierung einer bäuerlichen Seinsweise ihre Rückständigkeit beschwören und gleichzeitig durch eine neoliberale Wirtschaftspolitik ihre Arbeitsweise dem Untergang weihen, ohne selber regressive Phantasien herauszulocken. Wie unendlich wichtig gerade im Hinblick darauf Bergers Begriff der bäuerlichen Arbeit als Arbeit des Überlebens ist, zeigt ein Blick auf Martin Heidegger. In seinem Aufsatz: „Überwindung der Metaphysik“ beschreibt Heidegger in kaum zu überbietender Kälte sein Verhältnis von Seinsweise und Arbeit: „Ehe das Sein sich in seiner anfänglichen Wahrheit ereignen kann, muss das Sein als der Wille gebrochen, muss die Welt zum Einsturz und die Erde in die Verwüstung und der Mensch zur blossen Arbeit gezwungen werden. Erst nach diesem Untergang ereignet sich in langer Zeit die jähe Weile des Anfangs.“[34] Nicht Rettung, sondern Untergang ist die Bedingung des Anfangs bei Heidegger. Nicht zuletzt gegen diese, mit Zustimmung Heideggers von den Nazis wahrgemachte und heute aus demselben Geist noch immer reale Drohung, richtet sich Bergers Konzept des Wirklichen, als Widerstehen gegen die Drohung des Nichtseins.
Aber Berger wäre nicht der Maler, der er in allen Worten immer geblieben ist, wenn er nicht auch für eine herrschaftsfreie Vermittlung der Arbeit als „gehemmte Begierde“ und „aufgehaltenes Verschwinden“ mit dem sorglosen Geniessen und Verzehren ein nahezu biblisches Bild finden würde: „Es gibt Leute, die stolz das Wurzelgemüse mit einem Spaten ausgraben, das sie gesät, gezüchtet und betreut haben. Es gibt andere, die auf unbestelltem Land im Gras, das ihnen bis zur Brust steht, wilde Beeren pflücken. Die meisten von uns folgen ihren Begierden entweder auf die eine oder andere Weise. Wir müssen so geduldig wie der erste Typ sein und so sorglos wie der zweite.“[35]
[1] John Berger, Das Kunstwerk, Berlin 1992, 83.
[2] John Berger, Begegnungen und Abschiede, Frankfurt am Main 2000, 92.
[3] John Berger, Das Sichtbare und das Verborgene, München 1990, 132.
[4] Ebd.
[5] John Berger, Die Spiele, Leipzig 1991, 186.
[6] Vgl. dazu mit Bezugnahme auf Walter Benjamin: Franz Hinkelammert, Der Schrei des Subjekts, Luzern 2001, 356.
[7] Ebd., 53.
[8] Ebd., 81.
[9] Ebd., 82.
[10] So ist verschiedentlich schon darauf hingewiesen worden, dass der Begriff der unantastbaren Menschenwürde problematisch wird, wenn er zum Beispiel nicht mehr gestützt wird vom Glauben an einen Gott, demgegenüber sich der Mensch würdig zu erweisen hat.
[11] John Berger, Das Kunstwerk, 84.
[12] John Berger, Und unsere Gesichter, mein Herz vergänglich wie Fotos, München 1986, 99.
[13] Paul Tillich, Die sozialistische Entscheidung, in: Christentum und soziale Gestaltung (GW 11), Stuttgart 1962, 241.
[14] Was nicht heisst, dass Erinnerung nicht trotzdem ständig präsent ist. Am genauesten vielleicht in “Geschichte eines Landarztes”, wo er beschreibt, in welchem Sinne der Landarzt Gedächtnis seiner Patienten ist: “Er behandelt sie nicht nur wenn sie krank sind, sondern er ist der objektive Zeuge ihres Lebens. Er ist keinesfalls der endgültige Richter. Deshalb wählte ich das bescheidenere Wort: der Archivar ihrer Geschichte. (…) “Die häufigste Gesprächseröffnung ausserhalb ärztlicher Konsultationen sind die Worte: ‘Erinnern sie sich, als…?’ Er vertritt sie, wird zu ihrem objektiven (nicht subjektiven) Gedächtnis, weil er ihre verlorene Fähigkeit, die Aussenwelt zu verstehen und sich auf sie zu beziehen, ebenso verkörpert wie einiges, was sie wissen, aber nicht denken können.” (John Berger/Jean Mohr, Geschichte eines Landarztes, München 1998, 103.)
[15] John Berger, Begegnungen und Abschiede, Frankfurt am Main 2000, 39.
[16] Ebd.
[17] John Berger, Und unsere Gesichter, 84.
[18] John Berger, Von ihrer Hände Arbeit, München 1995, 28.
[19] Ebd., 18.
[20] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, (nach dem Text der Originalausgabe), Hamburg 1952, 149.
[21] Überleben heisst bei Berger nicht nur davonkommen sondern auch sich neu schöpfen. Mit dem Verweis auf das Schöpferische und gleich auch mit jenem auf den natürlichen Bezug zur Religion in der Arbeit des Bauern, die wesentlich Handarbeit ist, vermittelt Berger die bäuerliche Arbeit mit der des Künstlers: „Kunst ahmt die Natur nicht nach, sie ahmt eine Schöpfung nach (…). Die transzendentale Seite der Kunst ist immer eine Form des Gebets“ (John Berger, Das Sichtbare und das Verborgene, München 1990, 19.)
[22] Dieser Punkt ist unter dem Begriff der Nachhaltigkeit bereits als kritisches Korrektiv in die industrielle Nahrungsmittelproduktion eingegangen, dort aber als quasi säkularisierter, das heisst seiner Bindung ans Unbekannte und Unwägbare entkleideter Begriff, zur rein technischen Abstraktion und also kraftlos geworden als Widerstandsbegriff gegen die Macht der Gentechfirmen, deren Ziel es ist, Saatgut ohne Fortpflanzungskraft zu verkaufen, um die Bauern „nachhaltig“ als Kunden an sich zu binden.
[23] Und so gibt es, im Einzugsgebiet der Strickmetapher, nicht Freundschaft oder Solidarität, die, wenn die Gegensätze sie zerreissen, immer auch in Feindschaft und Verlassenheit umschlagen können, sondern folgerichtig nur noch Seilschaften (oder Bootsgesellschaften), als Schicksalsgemeinschaften, die entweder den Schein von Harmonie aufrechterhalten oder zusammen untergehen.
[24] John Berger, Arbeit, 12.
[25] Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt am Main 1993, 88.
[26] Dass es darin um mehr geht als die ebenso berüchtigte wie faszinierende Kauzigkeit des alten Bauern zeigt der berühmte Spielfilm aus den 70ern von Alain Tanner: „Jonas, der im Jahr Zweitausend 25 Jahre alt sein wird“, zu dem John Berger das Drehbuch verfasst hat. In diesem Film funktioniert der Bauernhof als Basis für die Rettung des Eigensinns der jungen, städtisch geprägten Leute aus den unterschiedlichsten Berufen.
[27] John Berger, Arbeit, 26.
[28] Ansehen heisst existent machen: „Das Sichtbare existiert, weil es bereits gesehen worden ist.“ (John Berger, Und unsere Gesichter, 59.)
[29] Gerade van Gogh ist, wie Berger zeigt, das Wagnis, so zu sehen, um den Preis seiner Verspottung eingegangen. Die enthusiastische Liebe zu seinen Bildern heute kommt hingegen aus dem Schmerz über den Verlust jener Welt, die van Gogh in der ganzen Intensität ihrer bedrohten Existenz gesehen und gemalt hat.
[30] John Berger, Die Spiele, Leipzig 1991, 50.
[31] Aus der Frage der urbanen Moderne: „Was fangen wir mit den Bauern an?“ wird die revolutionäre Praxis: „Wir fangen mit den Bauern an.“
[32] Die von der bürgerlichen Presse immer als Sozialromantiker verhöhnten Freiwilligen, die beispielsweise zu Tausenden in den 80er Jahren nach Nicaragua gegangen sind, mögen dies auch teilweise aus regressiven Motiven getan haben, aber gerade sie, weil sie von aussen kamen, ohne Zwang und mit dem Zauber enthusiastischer Erwartung, haben den Bauern Bedeutung und Anschluss an die Geschichte gebracht. Sie haben die Bauern „angesehen“, das vergessen sie ihnen nicht. Und diese haben es ihnen ihrerseits mit hohem Ansehen vergolten. Ganz ähnliche Überlegungen zum Ansehen, das derjenige geniesst, der freiwillig mit den Bauern lebt, ohne im Denken und Reden sich ihnen gleich zu machen, finden wir in Bergers Erzählung „Geschichte eines Landarztes“ (München 1998, 92ff).
[33] Paul Tillich, Die sozialistische Entscheidung, in: Christentum und soziale Gestaltung (GW 11), Stuttgart 1962, 282.
[34] Martin Heidegger, Überwindung der Metaphysik, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, 73.
[35] John Berger, Die Spiele, 168.