Drei Bände, über 900 Seiten – ein Romanessay, der das Fiktionale als Methode im wörtlichen Sinne (nämlich Umweg, zu griechisch meta = hinter und hodos = Weg) nimmt, um das Faktuale zu aktualisieren, um aus der Realität Wirklichkeit zu machen, um mithin die »wirkliche Bewegung« – wie Marx und Engels den Kommunismus bezeichnet haben – als Geschichte des Scheiterns zu erzählen, vom Fluchtpunkt September 1937 aus bis zu den Tempelbauten von Angkor Wat zurück, um dem Unvergangenen und Nicht-vergehen-Wollenden der Vergangenheit die lebendige Erfahrung derer abzugewinnen, die bisher in noch keinem Geschichtsbuch Erwähnung gefunden haben, geschweige denn ihre Stimme, ihr Wort erheben konnten; ein Theorieroman schließlich, der in dieser Konstellation aus Theorie und Roman zugleich Antiroman ist, wie auch konsequenter Gegenentwurf einer in politischer Praxis und bürokratischer Verhärtung verlorengegangenen Theorie. Wieso und wie Theorie verloren ist, hatte Weiss mit Trotzki im Exil 1970 gezeigt; was ein Antiroman an historischer Aktualisierung bedeutet, hatte er davor mit Viet Nam Diskurs gezeigt. Das war beides Theater. Die Ästhetik des Widerstands dramatisiert nicht, gleichwohl sie ja von nichts anderem handelt als vom Drama, vom Handeln. Theorieroman: Theorie ist dem griechischen theoros entlehnt, das den Zuschauer bezeichnet, »jemand, der ein Schauspiel« sieht; ein Roman ist, vom französischen Wortursprung her, das, was in »romanischer Art« erzählt wird, und das meint: nicht in Latein, also nicht in Gelehrtensprache. Peter Weiss schaut zu, und er beschreibt in akribischer Präzision, was er sieht, schreibt als Autor die Geschichte, der er auf diese Weise ihr historisches, ja, revolutionäres Subjekt freilegt: den Menschen, dem bisher das Menschsein versagt blieb, der allein oft genug, zu oft ums nackte Überleben kämpfte.
Insofern: Geschrieben hat Weiss nicht für die – von selbstgefälligen Verrissen und dämlichem Missverstehen-Wollen begleitete – Rezeption in Feuilleton und Literaturwissenschaft, sondern für die, die in der Ästhetik des Widerstands ihre eigene Geschichte entdeckten. Lesekreise allerorten, Diskussionen in Kneipen, vielleicht sogar in manchen Betrieben. Das war in den Achtzigern noch möglich. Die Zeiten haben sich geändert. Wenn jetzt die Ästhetik des Widerstands zu Peter Weiss’ 100. Geburtstag gelesen wird, dann muss mit dem Format auch darauf reagiert werden: Diesen Theorieroman heute zu verstehen, heißt, möglichst viele Abstriche beim Theatralischen zu machen, heißt zuzuhören.
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung veranstaltete in diesem Sinn eine 3-tägige Lesung mit 100 Beteiligten zusammen mit dem Peter-Weiss-Haus in Rostock und ebenda: im ehemaligen Haus der Freundschaft, das seit 2009 unter dem Namen Peter-Weiss-Haus als politisch-kulturelles Veranstaltungszentrum firmiert, eine Bastion kluger Gedanken und netter Unterhaltung, ein Bollwerk gegen den Mörder beklatschenden Mob der deutschen Mitte von 1992, als Einheimische das bewohnte Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen unter Applaus und Gejohle mit Brandsätzen bewarfen; Gesichter hämischer Volksbegeisterung, deren physiognomische Verhärtungen jüngst auf den Wahlpartys der AfD wieder zu sehen waren, die wie überall in Mecklenburg-Vorpommern auch in Rostock mit über 20 Prozent der Wählerstimmen als zweitstärkste Partei ins Parlament eingezogen ist. Die Ästhetik des Widerstands ist antifaschistische Literatur wie literarischer Antifaschismus. Und beschämend aktuell. Nicht nur in Rostock.
Konterrevolution und Revolte
Peter Weiss – auch er: ein Geflüchteter. Seine Mutter: Schweizerin, Schauspielerin; sein Vater: ungarischer Textilkaufmann, Oberleutnant der k.u.k.-Armee. Die Familie lebt in der Nähe von Potsdam, wo Peter Weiss am 8. November 1916 geboren wird. Der Vater, staatsloyal und autoritär, ein von Hitler begeisterter Antikommunist, bemüht sich um die deutsche Staatsbürgerschaft, versucht, seine jüdische Herkunft zu verheimlichen. Mit dem arischen Reinheitsgebot und Rassenhass ist nicht zu spaßen, die Familie wird ins Exil gezwungen, geht 1936 nach London, dann nach Böhmen, schließlich 1938 nach Schweden. Sie leugnet, Deutschland aus politischen Gründen verlassen haben zu müssen. (Nachzulesen ist das alles in den beiden neuen, jede für sich fulminanten Peter-Weiss-Biografien von Birgit Lahann und Werner Schmidt oder in Weiss’ Erzählung Abschied von den Eltern.)
Peter Weiss beginnt zu schreiben, erste Manuskripte in London 1936, sucht 1937 den Kontakt zu Hermann Hesse, 1942 Studium an der Stockholmer Kunstakademie, als Ausländer ist er immer wieder gezwungen, sich mit Gelegenheitsarbeiten zu finanzieren. 1943 heiratet Weiss die schwedische Künstlerin Helga Henschen. 1947 erscheint in einem schwedischen Verlag ein Gedichtband: Från ö till ö. In Zeitungen kann er einige Berichte veröffentlichen.
Weiss ist Künstler, sucht noch sein Material, filmt, malt, schreibt. 1952 geht er als Lehrbeauftragter für Filmtheorie an die Stockholmer Hochschule. Es entstehen einige Experimental- und Reportagefilme (die auf DVD vorliegen, gerahmt von Interviewgesprächen, die Harun Farocki 1979 mit Weiss führte). Weiss’ erste Ästhetik des Widerstands entsteht, nämlich eine Studie über Avantgarde Film (1956, erste deutsche Ausgabe erst 1995). Als Maler hat Weiss zu dieser Zeit einige kleinere Erfolge. Er ist mit der schwedischen Bühnenbildnerin und Bildhauerin Gunilla Palmstierna zusammen, nach zwölf Jahren, Anfang 1964, heiraten sie. Weiss entdeckt das Theater, schreibt zahlreiche Stücke. Das Drama Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade wird Ende April 1964 in Berlin uraufgeführt. Es folgen Die Ermittlung, auf den ersten Auschwitz-Prozess reagierend, Viet Nam Diskurs, auf den Vietnam-Krieg reagierend, Trotzki im Exil, auf den Stalinismus der aktionistischen Linken reagierend. Also: Reagieren, um über den Umweg (hier wieder: Methode) Möglichkeiten zu erkunden, wie Praxis machbar wäre, die eine (selbst-)emanzipatorische Politik aus dem Zirkel von Konterrevolution und Revolte (so Marcuses Titel von 1972) herausführen müsste, die Provokation als organisierte Selbstfreigabe sein sollte (so Peter Brückners Essaytitel von 1970).
Anfang der Siebziger beginnt Weiss, an der Ästhetik des Widerstands zu schreiben; 1975 erscheint der erste Band, 1978 der zweite, 1981 schließlich der dritte. Am 10. Mai 1982 stirbt der Autor in Stockholm an den Folgen eines Herzinfarkts.
Noch im Frühjahr 1982 hatte Weiss für die Ästhetik des Widerstands den Bremer Literaturpreis bekommen. Wenige Tage vor seinem Tod erfuhr er, dass er mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt werden sollte. Indes hatte er keine Woche zuvor ihm sowohl von der Philipps-Universität Marburg als auch von der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock angetragene Ehrendoktortitel abgelehnt. Weiss’ Verhältnis zum Kulturbetrieb blieb ambivalent, obwohl dieser damals im Westen noch und im Osten wieder weitgehend vom linkssozialdemokratischen Klima bestimmt war. »Wen spreche ich eigentlich beim Schreiben an? Ein völlig imaginäres Publikum«, zitiert Biografin Birgit Lahann den Autor und fügt hinzu: »Und das Publikum im sozialistischen Deutschland, das ihn offenbar immer besser verstanden hat als das im Westen, hatte er für Jahre verloren, als die Funktionäre ihm die Tür zum Osten zugeschlagen hatten.« Es geht um Würde, um den Autor als Produzenten, um den »operativen Schriftsteller« (Walter Benjamin / Sergej Tretjakow) und um die Integrität seiner politischen Arbeit. Lahann weiter: »1978 bekam er nach so vielen Jahren den Thomas-Dehler-Preis für den ersten Band der Ästhetik. Doch der stürzt ihn in Gewissensnot. Was hatte der FDP-Justizminister 1951 über die kommunistische Zersetzungsarbeit der Ostzone gesagt? Der Kampfruf hieße ja nicht: Hannibal ante portas!, sondern das Trojanische Pferd ist in unserer Mitte, und wir müssen uns dagegen zur Wehr setzen. Nun lebte Dehler – der im Dritten Reich fest zu seiner jüdischen Frau stand, unter Druck gesetzt und für kurze Zeit festgenommen wurde – seit über zehn Jahren nicht mehr. Aber Weiss ist Sozialist. Und Sozialisten können damals in der Bundesrepublik noch immer kein staatliches Lehramt übernehmen. Das machte die Auszeichnung nicht gerade verführerisch.« Weiss nahm sie an, im Widerstreit mit sich selbst wie im Widerstreit mit der Zeit.
Die ästhetische Dimension
»Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein, zusammengedrängt zu Gruppen, ineinander verschlungen oder zu Fragmenten zersprengt, mit einem Torso, einem aufgestützten Arm, einer geborstnen Hüfte, einem verschorften Brocken ihre Gestalt andeutend, immer in den Gebärden des Kampfs, ausweichend, zurückschnellend, angreifend, sich deckend, hochgestreckt oder gekrümmt, hier und da ausgelöscht, doch noch mit einem freistehenden vorgestemmten Fuß, einem gedrehten Rücken, der Kontur einer Wade eingespannt in eine einzige gemeinsame Bewegung.« So beginnt die Ästhetik des Widerstands, im Berliner Pergamon-Museum. Weiss war selbst im Juli 1972 dort und notiert am 9. Juli 1972: »Begonnen mit dem Buch.« Vorgesehen ist zunächst ein Band. »Der Widerstand« soll er heißen, wie er mit dem Suhrkamp-Verlag vereinbart. Es geht um Antifaschismus. Berlin, 1937. Der Fries des Pergamon-Altars ist die Kulisse, das Museum ein offenes Versteck für drei junge Kommunisten, die sich hier konspirativ treffen – und beginnen, im historischen Rückgriff, die Schlachtendarstellung auf dem Fries auszudeuten: nicht kunstgeschichtlich, sondern sozialgeschichtlich. Es geht um antifaschistischen Widerstand, die Ästhetik ist zunächst nur Referenz dafür.
Jedoch, fragt Biograf Werner Schmidt: »Warum ändert Weiss den Gegenstand seines Romans vom ursprünglich geplanten antifaschistischen Widerstand zur Ästhetik eines allgemeiner gefassten Widerstands? Und woraus erwächst ihm die Bedeutung dieser Ästhetik?« Schmidts Antwort führt ins Zentrum ebender Konstruktion der Ästhetik des Widerstands als Theorieroman, und das wieder mit einem Umweg: zu Karl Marx, dessen Feuerbach-Thesen, über Antonio Gramsci, zurück zu Weiss’ Auseinandersetzung mit Gramscis Gefängnisheften.
Die Wendung zur Ästhetik des Widerstands – wobei der Genitiv den ästhetischen Widerstand ebenso wie die widerständige Ästhetik meinen kann – verdeutlicht die nachgerade geschichtsphilosophische Konstruktion des Romanprojekts: Keineswegs geht es um politischen Widerstand als allein taktische Organisationsfrage (das zeigt Weiss im Rückblick auf den Nationalsozialismus wie in der Kritik der Oppositionsbewegungen um ’68) – vielmehr gilt es nämlich, den Widerstand als geschichtliche Triebkraft für den Menschen selbst darzustellen: zwar immer bisher als in größter Not geborene Verzweiflungstat, aber dennoch als hoffnungsgeladene Waffe, mit der sich der reale Humanismus gegen die herrschende Inhumanität, auch wenn er scheitert, wenigstens zu verteidigen weiß.
Die Geschichte des Menschen ist Leidensgeschichte. Der Wirklichkeit – und damit auch des wirklichen Elends – entrückt, wird sie bestenfalls von Religion und Kunst festgehalten, zum Zeugnis der Kultur. Was Weiss in dieser Perspektive als ästhetische Dimension der Menschheitsgeschichte beleuchtet – von ältesten Tempelbauten bis zu Picassos »Guernica« –, hat Walter Benjamin bündig in seinen Geschichtsthesen zusammengefasst: »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den anderen gefallen ist. Der historische Materialist rückt daher nach Maßgabe des Möglichen von ihr ab. Er betrachtet es als seine Aufgabe, Geschichte gegen den Strich zu bürsten.«
Weiss wendet das mit der Ästhetik gegen die Ästhetik, und auch das meint Widerstand: Die Moderne hat das Leiden, das in der Kunst zum Ausdruck kommt, ästhetizistisch überhöht, zu einem Spektakel aufgebläht, das das Publikum mit Amüsement und Ehrfurcht akklamiert. Dagegen setzt Weiss eine Ästhetik des Widerstands, die vom Menschen spricht, ja, den Menschen sprechen lässt, dessen Leid die großen Werke der Kunstgeschichte aus- und entstellen. Ebendazu befragte der im letzten Jahr verstorbene Benjamin-Forscher Burkhardt Lindner den Autor: »Ästhetik des Widerstands bedeutet einerseits, dass die Ästhetik selber – oder die Kunst – Widerstand leisten kann, und andererseits, dass der Widerstand auch seine eigene Ästhetik hat. Beides ist zusammenzudenken?« Weiss’ Antwort: »Eben, das kristallisiert sich heraus. Es genügt ja nicht, einen politischen Feind anzugreifen und möglicherweise zu überwinden, sondern die ganze Lebenshaltung ist gemeint, alles, worin man verfilzt ist, worin man lebt.«
Widerstand ohne Ästhetik
Mit Gramsci und Marx hat das insofern etwas zu tun, als es hier um, wie Marx in der ersten These ad Feuerbach formuliert, »Praxis« als »sinnlich menschliche Tätigkeit« geht. Und das ist eine Ästhetik, die eben nicht kontemplativ, gar passiv vor der Kunst verharrt, sondern die befähigt, mit der Kunst sich Welt praktisch anzueignen wie auch Kunst immer als praktische Aneignung von Welt zu erkennen. Kunst ist ein soziales Verhältnis. Und das bezieht sich nicht nur auf die erstarrte Kunst, sondern auf ihre Produktion wie Reproduktion und vor allem auf das, was sie an menschlichem Sinn sedimentiert: Ihr Sinn also, den die bürgerliche Kunsttheorie zwar nach wie vor, über alle Moden der Moderne und Postmoderne hinweg, als den Eigensinn der Kunst deklariert, der aber doch kein anderer ist als der Sinn des Menschen, den freizusetzen ebendie sozialen Verhältnisse verhindern. Sich so Sinn und Welt anzueignen, ist Widerstand, der wiederum rückgekoppelt mit der Kunst, die so zum Ausdruck und zur Erinnerung wird, »den furchtbaren Druck, der auf ihnen lastete, endlich hinwegfegen« könnte, wie Peter Weiss die Ästhetik des Widerstands beschließt.
Angestoßen hatte Weiss in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern eine politische Reflexion über Ästhetik, die es bis dahin kritisch nur im akademischen Abseits gab (Peter Bürgers Theorie der Avantgarde, Heinz Paetzolds Neomarxistische Ästhetik, die Zeitschrift »Ästhetik & Kommunikation«, der Sammelband Das Unvermögen der Realität, wiederaufgelegte Texte von Lu Märten, Otto Karl Werckmeisters Ende der Ästhetik et cetera). Von einer ästhetischen Praxis der politischen Bewegung war das jedenfalls zu weit entfernt. Mit der Ästhetik des Widerstands ließen sich mithin Verbindungen herstellen, die jedoch nur die Bilder der politischen, antifaschistischen Kunst der zwanziger und dreißiger Jahre wiederholten.
Nicht kompatibel war das allerdings mit einer anderen Ästhetik des Widerstands, die gleichzeitig mit und gegen Pop zum Beispiel im späten Punk oder frühen HipHop ausprobiert wurde: Sie fegte über die letzten Versuche klassisch-moderner Linkspolitisierung der Kunst hinweg, verwandelte Adorno und Benjamin zu Stichwortgebern eines akademischen Schattenboxens zwischen Moderne und Postmoderne und verkleinerte Picassos »Guernica« aufs Spannbilderrahmenformat für die Wand überm Sofa, farblich passten die gediegenen Grautöne allemal. Weiss selbst polemisierte 1958 gegen Elvis Presley und den Film »Jailhouse Rock«: nachzulesen in dem kleinen Text »Die nackte Wirklichkeit des Gefängnisses wird verboten, aber dem König des Rock sei alles erlaubt«, der sowohl in einer Sammlung bisher nicht verfügbarer Weiss-Texte als auch in der Themenausgabe der »Horen« erschienen ist: Von »krass gegen das Publikum ausgespielten Koitus-Bewegungen« ist da die Rede.
Kunst wird Freizeit. Und im Zuge der Ausweitung des Pop gerät auch in der Linken jedes ästhetische Urteil zum kruden Geschmacksurteil, womit nicht nur der allgemeine Subjektivismus übernommen wurde (»Jeder findet etwas anderes schön«), sondern dieser sogleich um Bereiche extravaganter Kulturwarenproduktion erweitert. Da konnte zunächst noch Weiss’ Ästhetik des Widerstands dabei sein, faktisch dominierten aber die schicken Popproduktionen.
Sich aufs krude Geschmacksurteil zu versteifen, zumal wenn damit einem banalen Subjektivismus das Wort geredet wird, verbürgt noch keinen Geschmack. Die Linke hat ohnehin wenig davon, hatte keinen, als sie ihn nicht brauchte, und hatte auch keinen, wo sie schlechterdings auf die Geschmacksmuster der popkulturellen Konfektionsware zurückgreifen konnte. Heute braucht es ohnehin keinen mehr, die ästhetische Ideologie ist verwässert, Geschmack so funktionslos wie die Kunst, auf die er sich kapriziert.
Was Weiss noch auf das Klassenverhältnis gemünzt haben will und den Philistern zur Last legt, ist heute, wo alle Bedeutungen von Ästhetik und Widerstand nivelliert sind, zur allgemeinen, ja, beinahe Binsenweisheit geronnen. Als »Zitat Nummer 3« findet sich auf der Internetseite zur Stafettenlesung (peterweiss100.de): »Desinteresse für soziale, politische, wissenschaftliche und ästhetische Fragen der Zeit, matte Untätigkeit, geistige Verarmung, nichtssagende Meinungen waren häufiger bei Philistern und auch bei Angehörigen des Bürgertums zu finden als bei den Massen derer, die von den Kulturinstitutionen abgeschnitten und durch schwere und einförmige Arbeit zermürbt wurden.«
Christa Grimm / Christoph Hein / Jürgen Krätzer (Hg.): Der Wundbrand der Wachheit. Peter Weiss lesen. »Die Horen« 262, Wallstein, Göttingen 2016, 288 Seiten, 16,50 Euro.
Birgit Lahann: Peter Weiss: Der heimatlose Weltbürger. Dietz, Berlin 2016, 300 Seiten, 24,90 Euro.
Werner Schmidt: Peter Weiss. Biografie. Suhrkamp, Berlin 2016, 461 Seiten, 34 Euro.
Peter Weiss: Dem Unerreichbaren auf der Spur. Essays und Aufsätze. Hg. von Gustav Landgren. Verbrecher, Berlin 2016, 305 Seiten , 24 Euro.
»Peter Weiss: Filme«, vorgestellt von Harun Farocki. DVD, Absolut Medien/Filmedition Suhrkamp 2012.
Peter Weiss: »Hinter den gleichen Fassaden«, auf: »Die moderne Stadt«. Hg. von Ralph Eue, Florian Wüst. DVD, Absolut Medien 2015.
* Dieser Text erschien zuerst in konkret 11/2016.