Mit dem Erscheinen von Thomas Pikettys stark diskutiertem Buch «Das Kapital im 21. Jahrhundert» ging ein gestiegenes Interesse an der Betrachtung größerer historischer Epochen und Zusammenhänge für das Verständnis der kapitalistischen Produktionsweise einher. Wenn man dieses grundsätzliche Interesse an der longue durée (Fernand Braudel) von geschichtlichen und ökonomischen Abläufen teilt und dabei Themen und konkrete Ereignisse ins Blickfeld nehmen will, die in der klassischen Geschichtswissenschaft oder Ökonomie nicht vorkommen, lohnt sich ein Blick in Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantik von Peter Linebaugh und Marcus Rediker. Die Histographie ist bereits 2000 unter dem Titel The Many-Headed Hydra: Sailors, Slaves, Commoners, and the Hidden History of the Revolutionary Atlantic erschienen, wurde 2008 exzellent von Sabine Bartel übersetzt und liegt seit 2008 bei Assoziation A vor.
Den Anfang des Buchs bildet der altgriechische Mythos der Hydra, der neunköpfigen Schlange, die Herakles töten muss. Als er einen Kopf der Hydra abschlägt, wachsen ihr jeweils zwei neue hinzu. Schließlich schafft es Herakles, die Hälse der Hydra auszubrennen und sie so zu besiegen. Für Linebaugh und Rediker dient das Bild der Hydra als Ausgangspunkt für ihr gesamtes Buch, da in ihm ein bestimmtes Kräfteverhältnis und eine Ordnungsvorstellung zum Ausdruck kommt, die sie in dem Zeitraum von 1600 bis 1835 wiederfinden. Dabei steht Herakles für die Herrschenden. Sie zeichnen sich durch den Glauben an Fortschritt und Entwicklung aus und werden durch das rationale Europa repräsentiert. Die Hydra auf der anderen Seite besteht aus einen «buntscheckigen Haufen» (230), der aus so unterschiedlichen und widerständigen Akteuren wie Seeleuten, Sklav_innen, Piraten, Prostituierten und Landstreicher_innen besteht. Die Hydra setzt sich somit aus verschiedenen Akteur_innen zusammen und zeigt sich in Streiks, Aufständen und Revolten auf beiden Seiten des Atlantiks. Diese «verlorene Geschichte einer multiethnischen Klasse» (14) beschäftigt die «Geschichte von unten» (Edward P. Thompson), wie Linebaugh und Rediker sie erzählen wollen. Wie kommen sie nun aber zu der Annahme, in dieser diversen Masse den Startpunkt für die «Formierung eines atlantischen Proletariats» (48) zu sehen? Was verbindet die Mitglieder dieser Masse zur Klasse?
Den Autoren geht es darum, die «Verbindungen und Zusammenhänge» (15) zwischen den englischen Revolutionen Mitte des 17. Jahrhunderts, den Rebellionen der Plantagenarbeiter_innen in Virginia 1663 bis 1676, dem Aufstand des New Yorker Proletariats von 1741, dem Sklavenaufstand in Haiti von 1791 bis 1804 sowie weiteren widerständigen Akten im besprochenen Zeitraum aufzuzeigen. Diese fanden alle in einer Zeit großer historischer Umbrüche statt: Im 17. Jahrhundert beginnt die systematische britische Kolonisation Nordamerikas sowie der sogenannte Dreieckshandel zwischen Großbritannien, Westafrika und den Amerikas. Damit entstehe, so Linebaugh und Rediker, notwendigerweise eine multiethnische Klasse, die sich auf Solidarität, Gemeinschaft und Widerstand stützt. Dass es diese Klasse überhaupt gibt, ist eine der zentralen Thesen des Buchs. Die Geschichte dieser «verborgenen Klasse» wird nun anhand von vier Phasen rekonstruiert.
Proteste im frühen Kolonialismus – eine Geschichte in vier Phasen
Linebaugh und Rediker beginnen ihre großartige Erzählung im Zeitraum von 1600 bis 1640 mit der Beschreibung dessen, was Marx als ursprüngliche Akkumulation bezeichnet hat. Es geht um die Vertreibung und Enteignung der Produzent_innen, die bisher vom Gemeineigentum, der Allmende, gelebt haben und nun Lohnarbeit nachgehen und als «Holzhauer und Wasserträger» ihre Existenz fristen müssen. Als einfache, austauschbare Arbeiter_innen sind sie die notwendige Bedingung für die Entstehung des Kapitalismus. Durch ihre Schwerstarbeit, das Bauen von Häfen und Schiffen, ihre Arbeit als Seeleute oder als Proletarier_innen stellen sie die «Infrastruktur» (52) für Wirtschaftswachstum, Kolonisation und Ausbeutung her. Mit der Zerschlagung der Allmende ging eine Kriminalisierung der «gewohnten Einkommens- und Lebensformen» (298) einher. Ein Kopf der Hydra war abgeschlagen. Zahlreiche eigentums- und besitzlose Menschen fahren daraufhin in «verzweifelter Hoffnung» (29) in die Amerikas und bilden dadurch die Grundlage für ein widerständiges Proletariat.
Die Enteignung der alten und die Ausbeutung der neuen Welt wird in der zweiten Phase von 1640 bis 1680 intensiviert. Dort werden die englische Revolution und zahlreiche Sklavenaufstände niedergeschlagen. Das Kapital kann sich auf beiden Seiten des Atlantiks festigen. Jedoch gibt es auch hier widerständige Praktiken, die vor allem von der eben freigesetzten Menge von nun Landlosen organisiert werden, die aus unterschiedlichen Ländern zusammenkommen. In Nordamerika sind es ausgewanderte Engländer, abgeschobene Iren und Sklav_innen. In England treffen Anfang des 17. Jahrhunderts das erste Mal schwarze Menschen ein und verbinden sich dort mit Tagelöhner_innen und Hafenarbeiter_innen. Diese «multiethnischen Widerstandsgruppen» (139) schließen komplexe, demokratische und kommunistische Bündnisse, indem sie an die alte Idee des Gemeinbesitzes erinnern und sich diesen wieder erkämpfen wollen. Manifester Ausdruck dessen ist die Revolte von Neapel 1647, in der die städtische Bevölkerung der italienischen Stadt für zehn Tage eine «moralische Ökonomie» (124) organisiert. Diesen Widerstandsformen wird durch stärkeren staatlichen Terror begegnet. Gefängnisse, die Todesstrafe sowie Versklavung, Deportationen und Zwangsarbeit auf den Plantagen rund um den Atlantik sind Ausdruck dessen.
In der dritten Phase von 1680 bis 1740 werden die atlantischen Märkte vollständig erschlossen. Linebaugh und Rediker dient dementsprechend auch das Schiff als kapitalistisches Sinnbild. Als Mikrokosmos, der für die Seeleute und Verschleppten als Mischung aus Gefängnis und Fabrik erscheint, verbindet das Schiff die beiden Seiten des Atlantiks durch Handel. Die Ausbeutung der «imperialen Hydrarchie» (159) des britischen Seestaats betrifft sowohl Menschen als auch die Umwelt. Das Schiff als Ort des Kapitalismus ist zugleich auch ein Ort der Solidarität und des Widerstands. Der Organisation und dem Drill des Seestaats von oben setzen die Seeleute ihre Selbstorganisation, die «Hydrarchie von unten» (176), entgegen. Diese Geschichte wird als Geschichte der Kommunikation von revolutionären Erfahrungen durch Bilder oder Organisationsformen beschrieben. Die Autoren beschreiben die Möglichkeit der internationalen Kommunikation auf dem Schiff durch eine eigene Ausprägung der englischen Sprache, die auf den Sklavenschiffen gesprochen wurde und Einflüsse unterschiedlicher Sprachen verband. «Wenn das Schiff auch nicht direkt zu einer Brutstätte der Rebellion wurde, so wurde es doch zumindest zu einem Treffpunkt, an dem unterschiedliche Traditionen in einem Treibhaus des Internationalismus zusammengepfercht wurden» (165). Die krasseste Form dieser Selbstorganisation war die Piraterie. Hier heben Linebaugh und Rediker den multiethnischen, demokratischen und antihierarchischen Aspekt der Piratenboote hervor, auf denen Gemeinbesitz, Verfassungen und Gleichheit gegolten hätte. Leider sind hier im Gegensatz zum Rest des Buchs die Quellennachweise eher spärlich gesät und die Beschreibung der Piraterie wirkt leider stark romantisierend.
Die letzte Phase von 1760 bis 1835 beschreiben die Autoren als das Zeitalter der «atlantischen Revolutionen». Es kommt zu zahlreichen Aufständen und Rebellionen sowohl in Hafenstädten des Britischen Empires als auch in Nordamerika. Teilweise sind diese Aufstände durch konkrete Akteure miteinander verbunden, teilweise laufen sie parallel ab. Die Aufständischen schaffen es jedoch, den Kampf der Zivilbevölkerung gegen die Rekrutierung für den Krieg mit Kämpfen gegen die Sklaverei sowie frühkapitalistischen Arbeitskämpfen zusammenzudenken und zu einem Kampf zu verbinden. Linebaugh und Rediker beschreiben hier auch ausführlich Beispiele wie die «Tackys Rebellion» auf Jamaika 1760, den Liverpooler Streik von Seeleuten und Hafenarbeitern sowie bewaffnete Mobs in Bosten und Norfork, ebenso wie die Beteiligung von Afroamerikanern am Widerstand gegen die Presstrupps. Diese Streiks der Seeleute auf beiden Seiten des Atlantiks sowie Kämpfe der afroamerikanischen Sklav_innen eint die Idee der Menschenrechte, die universell für alle zu gelten haben – unabhängig von Geschlecht, Alter oder Hautfarbe.
Diese Geschichte von Widerständen im Kontext der frühen Kolonialisierung ist gespickt mit ausführlichen Beschreibungen von zentralen Figuren, die ihre Erfahrungen und Vorstellungen in die Kämpfe einbringen konnten. Dadurch schaffen es Linebaugh und Rediker, dass ihr Buch, das es immerhin auf 370 Seiten bringt, auch für Nicht-Historiker_innen spannend bleibt. Neben der Verständlichkeit der Sprache kommt den Autoren auch zugute – und das ist im deutschsprachigen akademischen Betrieb leider die Ausnahme –, dass das Buch einfach schön geschrieben ist.
Kritik: Anachronismen und revolutionäres Subjekt
Neben der schon erwähnten Romantisierung des Allmende- und Piratenlebens bleiben jedoch zwei Kritikpunkte bestehen: Zum einen sprechen die Autoren grundsätzlich in marxistischen Kategorien wie «dem Proletariat» und datieren damit Begriffe und gesellschaftliche Rahmenbedingungen vor, die es so zu der Zeit noch gar nicht gegeben hat. Nun soll hier kein antimarxistischer Beißreflex bedient werden, aber Linebaugh und Rediker verkennen durch ihre Benennung der verschiedenen Formen des Widerstands und der Kooperation als proletarisch beziehungsweise klassenkämpferisch die eigene Historizität der Marx’schen Bergriffe, die nicht beliebig auf alle historischen Phasen angewendet werden können. Hier schaden sie dem Marxismus eher, als dass sie ihm nützen.
Mit dieser Kritik hängt eine zweite zusammen: Durch das Bild der Hydra wird ein revolutionäres Subjekt präsentiert. Auch wenn die Verbindungen über die Kontinente und Zeiten nachvollziehbar dargelegt werden, handelt es sich doch immer nur um Einzelpersonen. Ob es die Klasse, von der die Autoren sprechen, als Einheit je so gegeben hat und wie sie sich aus all diesen Akteur_innen genau gebildet hat, bleibt auch nach der Lektüre unklar.
Was das Buch jedoch trotz alledem auszeichnet, ist die Verschiebung des Blickwinkels. Die Kontingenz des Entstehungsprozesses des Kapitalismus wird ebenso deutlich wie die Tatsache, dass es immer Widerstand gegeben hat. Für das Freilegen dieser untergründigen, kritischen Traditionslinien, die auch für heute anschlussfähig sind, gebührt den Autoren Dank. Allein um die verschiedenen Akteure und ihre Verbindungen sichtbar zu machen, ist dieses Buch ein Gewinn.
Peter Linebaugh, Marcus Rediker: Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks. Assoziation A, Berlin 2008.
Transnationales Proletariat – christopher wimmer
[…] Erschienen in Theoriekritik.ch […]