1990 erschien in den USA das Buch «Gender Trouble» von Judith Butler. Schon ein Jahr später wurde es unter dem Titel «Das Unbehagen der Geschlechter» auf Deutsch veröffentlicht. Das Buch von Butler hat in der Folge eine Generation von feministischen Theoretiker_innen und Geschlechterforscher_innen in den USA und in Europa geprägt. Für mich war das Buch von Butler immer ein zentraler Beitrag für eine linke Machtkritik, weil es aufgezeigt hat, wie radikal, umfassend und verborgen Heterosexualität als psychische und gesellschaftliche Norm wirkt und unsere aktuelle Geschlechterordnung bestimmt. Butlers Buch wirkte (nicht nur für mich) als Augenöffner, weil es das Feld der Machtkritik erweitert und das Verständnis von Ungerechtigkeit und Ungleichheit verändert hat. Dieser neue, kritische Blick auf die Gesellschaft wurde in den Begriffen der «Zwangsheterosexualität» und der «Heteronormativität» auf einen prägnanten Nenner gebracht.
Wenn ich Butlers Analyse eine linke Kritik nenne, dann ist dies nicht selbstverständlich und wird von einigen Linken bestritten. Vor allem in den 1990er-Jahren gab es einige Stimmen von marxistischen Theoretiker_innen, die Butlers Denken vorwarfen, Teil der neoliberalen Kultur und Ökonomie der Flexibilisierung und des Individualismus zu sein. Und manche Feminist_innen meinten, dass Butlers «Dekonstruktion» der Geschlechterdifferenz und das damit verbundene Plädoyer für eine Vervielfältigung von Geschlechtsidentitäten oberflächlich seien und die feministische Solidarität unter Frauen unterwandere.
Für mich ist nicht entscheidend, ob «Das Unbehagen der Geschlechter» ein Buch ist, das sich nahtlos in eine linke Denktradition einfügt und marxistische Perspektiven orthodox weiterführt. Wichtig finde ich vielmehr, dass das Buch die linke Macht- und Ungleichheitskritik radikal erweitert hat. Zwei seiner Thesen finde ich besonders produktiv:
Erstens erweitert «Gender Trouble» unser Verständnis von Sexismus. Sexismus bezieht sich auf die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität, wobei die geschlechtliche Identität in unserer Gesellschaft nicht unabhängig vom Geschlechtskörper und sexuellen Begehren definiert werden kann. Sexistische Diskriminierung findet also immer dann statt, wenn Menschen ausgegrenzt und missachtet werden, sei es, weil ihre Geschlechtskörper und ihre Begehrensformen nicht der Norm entsprechen, weil Körper und Geschlechtsidentität nicht «zusammenpassen» und «undenkbar» sind und/oder weil bestimmte Formen geschlechtlicher Identität im Zusammenspiel mit sozialem Status, Kultur, Religion, Alter oder Fähigkeiten als minderwertig gelten. Dieser Sexismus ist bis heute eine Gewalt, die die gesellschaftlichen Organisationsformen von Familie, Ökonomie und Staat durchdringt. Butlers «Gender Trouble» hat ermöglicht, diesen komplexen Sexismus im Dreieck von Körper, Begehren und subjektiver Identität zu erkennen.
Zweitens legt «Gender Trouble» nahe, dass politische Solidarität in sozialen Bewegungen neu zu organisieren ist und nicht als Identitätspolitik verstanden werden kann. Linke solidarische Bewegungen, so Butlers These, sollten sich demnach nicht auf eine gemeinsame Identität der Entrechteten und Missachteten berufen, da dies zu neuen Ausgrenzungen führt. Sie plädiert in «Gender Trouble» vielmehr dafür, Solidarität als Allianz von Personen und Gruppen zu verstehen, die nicht frei von inneren Konflikten und Streitpunkten ist, diese aber selbstkritisch offenlegen und benennen kann. Dieses Konzept der solidarischen Allianzen scheint mir heute besonders wichtig, um zwei Forderungen linker Politik entsprechen zu können: erstens, um die Macht- und Ungleichheitsverhältnisse zu erkennen, die innerhalb politischer Gruppierungen und Bewegungen im Spiel sind, und zweitens, um die Zusammenhänge zu erfassen, die Sexismus, Rassismus und Ausbeutung in unserer Gesellschaft strukturell miteinander verbinden, ohne dass sie aufeinander reduzierbar sind.
Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991.