1991 ist für mich noch immer eine schillernde Jahreszahl: Sie hat einen Rhythmus und ist von sattem Olivgrün. Es war auch ein Jahr überbordender Erfahrungen: Offiziell feierte man den Mythos Schweiz. Gleichzeitig legten Frauen am Frauenstreiktag all ihre öffentlichen und privaten Arbeiten nieder und feierten eigen- und widerständig. Diese Politik, welche das alltägliche Leben mit politischem Bewusstsein und Engagement in der Welt verbindet, ist eine Erfindung der Frauen. Luisa Muraro nennt sie ‹Erste Politik›.
Ein heisser Sommer
Mein eigener Sommer 1991 war geprägt vom Lernen auf die Lizentiatsprüfung. Ich setzte mich ausführlich mit Friederich Nietzsches Ethik, mit Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung und mit Hans-Georg Gadamers Hermeneutik auseinander. Ich hatte einen klar strukturierten Lernplan und verbrachte lange Tage hinter den Büchern. Vorsorglich verschloss ich meine Fensterläden, Sonne und Sommeralltag wurden radikal ausgesperrt. Am 14. Juni riskierte ich einen Blick über die Bücher hinaus und wagte mich auf die Strassen: Überall auf den Plätzen Berns sah ich farbig gekleidete, redenschwingende Frauen. Eine ausgelassene, fröhliche Stimmung war Grundtenor, Ungeduld und politische Wut schwangen in den Reden mit. Alle Frauen schienen fasziniert von der Wirkung ihres Streikes. Ich liess mich für einen kurzen Moment anstecken von der Fröhlichkeit, mitziehen von dieser Zuversicht. Ich liess mich treiben in dieser politischen, farbigen, entspannten Atmosphäre von Frauenwelten. Der Rückzug ins Lernen fiel mir schwer. Der Frauenstreiktag hatte mich durcheinander gebracht: Dieser gelebte Feminismus störte mich unmittelbar. Der Feminismus störte? Der Frauenstreiktag war ein wunderbares, farbiges Happening, verdeutlichte eindrücklich, was Frauen leisten und was an Selbstverständlichkeiten wegbricht, wenn sie sich zu arbeiten weigern. Der Streik machte Frauen in ihrer Vielfalt sichtbar und thematisierte avant la lettre die weibliche Zivilgesellschaft. Der Frauenstreik forderte in der Tradition der Gleichstellung endlich die juristisch verbrieften Rechte ein: Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit, gleicher Zugang zu Bildung und Ämtern, Teilzeitstellen auch in höheren Positionen oder Tagesschulen.
Unbehagen an der Einheitlichkeit
Der Frauenstreik war also ein kulturell erfolgreiches Statement. Erst nachträglich wurde für mich deutlich, dass er jedoch politisch der klassischen Emanzipationslogik folgte: Der Streik sollte die Frauen aus herrschenden patriarchalen Abhängigkeiten und von stereotypen Rollenvorstellungen befreien, gleichzeitig sollten sich die Frauen in das bestehende politische und ökonomische System einfügen. Frauen sollten sich fortan selbstbewusst und juristisch gleichberechtigt auf Augenhöhe mit den Männern befinden. Das bedeutete auch eine Angleichung an das Konzept ‹Mann›.
Zudem störte mich die angebliche Einheitlichkeit in der Vielfalt: Alle Frauen sollten sich in den Gleichstellungsforderungen verbinden. Alle Frauen? Gab und gibt es keine deutlichen Unterschiede unter den Frauen? Unterschiede beispielsweise der Ökonomie, der Hautfarbe, der sexuellen Orientierung, des Alters, der Bildung, der politischen Ausrichtungen? Das gemeinsame politische Interesse der Frauen, nämlich die Gleichstellung von Frau und Mann, erzwang den Verzicht auf Differenzen. In dieser Bündelung der verschiedensten Interessensgruppen zu einer politischen Aktion bestand die Stärke des Feminismus im Singular. Kehrseite davon war, dass dieses ‹Wir Frauen› eine Art moralische Vereinnahmung unter dem Aspekt der Solidarität bedeutete. Wollte man kritisch diskutieren, galt man als unsolidarisch mit den Geschlechtsgenossinnen. Erst nachträglich wurde mir bewusst, dass mir das Reden und Diskutieren neuer Ideen auf der Strasse fehlte.
Der Feminismus. Wer definiert diesen Feminismus im Singular? Und warum ist Gleichstellung so zentral darin?
Dekonstruieren lernen
In den letzten Monaten meiner Zeit an der Universität Bern bot Stefanie Brander ein Seminar zur Postmoderne an. Sie eröffnete mir in spannenden Diskussionen ungeheure Einsichten und neue Denkräume. Für mich war das Seminar eine Initialzündung für neue Fragen 615-544-8043 , andere Ideen und eigenständiges Denken (im Gegensatz zum Nach-Denken vorgegebener Konzepte). Endlich ein gemeinsames Denken, endlich der Versuch, die Zeit und die zeitgenössische Welt von 1991 zu fassen, endlich die Möglichkeit, einen vagen Gedanken laut voranzutreiben, das denkende Denken zu üben.
Es ging uns um eine radikale Kritik am Projekt der Moderne und um ein hartnäckiges, kritisches Befragen herkömmlicher philosophischer Ideen. Wie denkt man sich den (abstrakten) Menschen? Wer ist die (verallgemeinerte)Frau? Was beschreibt das Subjekt? Was grenzt die Identität aus? Was versteht man unter der Freiheit? Wie denkt man sich die Vernunft? Was will man mit derAufklärung verkünden? Wie lässt sich die Gerechtigkeit verstehen? Wie lässt sich die Autonomie um die Erfahrung von Frauen, Schwarzen, nicht-heterosexuell lebenden Personen erweitern? Warum wird die Dialektik nicht weitergetrieben in ein Denken der Grenzen des Denkens?
Es war für mich wie ein Spiel: Wir bedienten uns der klassischen philosophischen Begriffe der Ideengeschichte und versuchten, diese aus ihrem jeweiligen historischen Kontext heraus zu verstehen. Wir analysierten, zerlegten, befragten und setzen sie anschliessend neu zusammen. Kurz: Wir destruierten und konstruierten, wir dekonstruierten.
Kritik der patriarchalen Vernunft
Wir nahmen beispielsweise den Begriff ‹Aufklärung› und zerlegten diesen unbekümmert. Wir entdeckten, dass sowohl die herkömmliche Aufklärung im Kant’schen Sinne als auch deren Weiterführung durch Horkheimer/Adorno auf einer spezifischen Vorstellung von Vernunft basierte – einer geschlechtslosen Vernunft. Diese ‹integrative Einheit› der Vernunft entlarvten wir als Selbsttäuschung: Wir begriffen, dass diese geschlechtslose Vernunft eine männliche Äusserungsform von Vernunft darstellt und damit den Ausschluss von einer weiblichen Vernunft impliziert. In der Dialektik der Aufklärung wurde also zwar die Selbstreflexion der Vernunft eingefordert, diese Vernunft selbst jedoch nicht als ‹halbierte› Vernunft hinterfragt.
So ergab sich uns eine neue Fragestellung: Wie sähe eine Aufklärung der Aufklärung aus weiblicher Perspektive aus, die weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch auf wissenschaftliche Objektivität hat? Wir kamen zur Einsicht, dass diese Aufklärung der Aufklärung als Aufgabe der Frauen polyvalent ist: Erkenntnistheoretisch will sie bewusst machen, dass die herrschende Ordnung der Vernunft und die Darstellung der Welt als objektiv, vernunftgeleitet und geschlechtsneutral eindimensional, gar falsch ist, gerade weil sie andere Zugänge ausblendet. Ethisch will sie die Ordnung der Vernunft als herrschende Ordnung, die andere Vorstellungen von Vernunft, Leben oder Zivilisation unterdrückt, markieren. Empirisch will sie der Dominanz des abstrakten Konzeptes ‹Vernunft› die Relevanz konkreter Erfahrungen entgegenhalten.
Pluralisierung des Feminismus
Ich erlebte damals ein Feuerwerk von Ideen, Konzepten und Diskussionen unter Frauen. Dies bezeugten auch die vielfältigen feministischen Publikationsmöglichkeiten in dieser Zeit. Es gab eine Verschiebung weg von der Strasse, den Flyern und Demoplakaten hin zu den feministischen Verlagen und den Redaktionszimmern. Damals gab es die FraZ (1976–2009) und die Emanzipation (1975–1996), Die Philosophin (1990–2009), die Olympe, feministische Arbeitshefte zur Politik (1994–2012), Die feministischen Studien, Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis (1978–2008), die Fama und natürlich auch die Rosa. Diese Vielfalt war ein Aufbruch von uns Denkerinnen und bezeugte den Wunsch, die Welt selber zu analysieren und zu interpretieren. Zugleich brach die Tradition des politisch aktiven Feminismus auf der Strasse ein. Der 8. März lockte kaum mehr Frauen zum Marsch und der Streik am 14. Juni 1991 blieb, wie sich herausstellte, einmalig – politisch nur diffus nachhaltig. Der Feminismus verlagerte sich, so meine Beobachtung, von der Strasse in die diversen Häuser: Im Bundeshaus und in den kantonalen Parlamenten nahm der Frauenanteil langsam aber stetig zu, die linken Frauen setzten sich weiterhin mit dem Gleichstellungsanspruch auseinander, endlich wurde auch die erste linke Bundesrätin – nach mächtigem Aufmarsch der Frauen vor dem Bundeshaus – gewählt. Die Frauenhäuser wurden als Notwendigkeit in der patriarchalen Gesellschaft anerkannt und vom Staat finanziell unterstützt. In den privaten Häusern konnte der Mann nicht mehr ganz so selbstverständlich seine Ansprüche bezüglich Haushaltsbudget, Wohnort und Lebensumstände seiner Frau und Kinder durchsetzen. In den Schulhäusern übernahmen vermehrt Lehrerinnen die Vermittlung der Kulturtechniken an die nächste Generation. Auch in den Universitäten wurde nicht mehr nur der klassische Bildungskanon vermittelt, sondern neue Ideen – gerade unter Frauen – diskutiert. Die Pluralisierung des Feminismus zeigte sich mir auch in der Pluralisierung der Lebensentwürfe: Wir verliessen die Häuser, um beruflich und privat mit unserer Autonomie und unserem Subjektsein als Frauen zu experimentieren.
Das Durcheinander im Alltag
Im Berufsalltag war es dezidiert anders als erwartet. Im Rückblick bin ich mit dem Berufseinstieg ein weiteres Mal zur Welt gekommen. Was mich an der Universität als Ort des Lernens und des Austausches fasziniert hatte, konnte ich nicht unmittelbar in meinen Berufsalltag einbringen. Was mir der Berufsalltag an neuen Möglichkeiten bot, musste ich mir erst aneignen. Ich hatte weder das Gefühl, im Beruf angekommen noch von der Uni losgelöst zu sein. Ich war weder hier noch dort, ich war ständig am Schwimmen. Ich war wieder Lernende, aber selbst das Lernen war mir in der Praxis fremd geworden. Ich wurde zur Praktikantin. Was ich jedoch klar vor Augen hatte: Ich wollte arbeiten, ich wollte mein Geld verdienen. Ich musste ja meine Studiendarlehen zurückbezahlen. Ich wollte (wem auch immer) beweisen, dass Philosophie nicht brotlos ist und ich damit meinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Meine Vorstellungen von Autonomie und Subjektsein als Frau zerschellten an der Praxis: In meinen ersten Anstellungen ging es darum, die eigenen Fragen und Zugänge zur Wirtschafts- und Sozialethik so einzubringen, dass es den Betrieben nützlich war. In meinem Privatleben ging es darum, die Zeit zwischen Beruf, Schreibtätigkeit, Abendkursen am Psychoanalytischen Seminar Zürich (PSZ), FreundInnen und Partner (und dann doch auch noch etwas Zeit für mich) ein- und aufzuteilen. Ich hatte das Gefühl, dass die Pluralisierung des Feminismus mitten durch mich hindurch ging: Ich fühlte mich mal euphorisch vielfältig und lebendig plural, mal niedergeschlagen fragmentiert und subjektiv unfähig, es auf die Reihe zu kriegen. Es war ein ständig wechselndes, kontinuierliches Durcheinander.
Meine eigene Praxis
In diesem bedrängenden Durcheinander entdeckte ich meine Leidenschaft: zu vermitteln. In meinen ersten beiden Berufen liebte ich es, kleinen Gruppen mein beschränktes Wissen zu Kapitalflucht und Wirtschaftsethik, später zu Sozialpolitik und Berufsethik zu vermitteln. Diese unmittelbaren Auseinandersetzungen mit Interessierten und der Austausch aufgrund von Erfahrungen – davon wollte ich mehr. Also liess ich mich erst zur Supervisorin, dann zur Psychotherapeutin ausbilden. Ich wurde vom Wunsch motiviert, zuzuhören und in Beziehungen eine gemeinsame Praxis zu entwickeln. Ich konnte meine Stärken ausleben, nämlich meine KlientInnen mit aktivem Zuhören und Humor zu entlasten und durch Ordnungschaffen zu erleichtern. Noch höre ich dieses: «Sie esch es ordeligs» als Vorwurf – und nun begann ich es subversiv umzuinterpretieren. In meiner psychoanalytischen Praxis bin ich in meiner eigenen Praxis angekommen, wo sich Neugier, die Ernsthaftigkeit von Erfahrungen, das lebendige Gespräch und der Wunsch nach Theoriebildung mischen. Was sich für mich heute als roter Faden zeigt, ist die Auseinandersetzung mit Unterschieden und mit meinen eigenen Erfahrungen in dieser komplexen Gegenwart.
Von der Differenz zur Freiheit
In dieser Fülle von Erfahrungen möchte ich drei Momente herausgreifen: Geschlechterdifferenz, das ‹Von sich selbst Ausgehen› und weibliche Freiheit. Unbestritten gibt es die Geschlechterdifferenz, umstritten ist deren Bedeutung. Die sexuelle Differenz besteht nicht zwischen Männern und Frauen, sondern sie ist in mir. Ich erlebe die sexuelle Differenz in meiner Existenz, ich verkörpere sie, ich kann von ihr nicht abstrahieren. Die Geschlechterdifferenz macht aus mir eine Frau, im Überfluss und im Mangel. Und sie auferlegt mir Erfahrungen, die ich zur Sprache bringen möchte, auch wenn ich die Worte dafür noch finden und erfinden muss. Die Geschlechterdifferenz ist unhintergehbar und prägt jeden politischen, ökonomischen und sozialen Alltag.
Von-sich-selbst-Ausgehen wird für mich damit zu einem politischen Prozess: Worte finden, um mein eigenes Fühlen und Wünschen und meine Vorstellungen von gutem Zusammenleben, Erster Politik und von Macht auszudrücken. Mir geht es darum, mich in diese Gegenwart einzumischen, also politisch und kulturell sichtbar zu werden und es zu bleiben. Von-sich-selbst-Ausgehen wird zu einem möglichen Weg, das Denken der Geschlechterdifferenz als politische Praxis zu verstehen, wie es Luisa Muraro anbietet. Indem ich von mir ausgehe, übe ich eine Erste Politik aus, in der die eigenen Erfahrungen sagbar werden. Und damit kann ich – endlich – ein standhaftes Gegenüber werden.
Ausgehend von meinen eigenen Erfahrungen als Frau und in der Verbindung und dem Austausch mit anderen Frauen entsteht weibliche Freiheit. Weibliche Freiheit lässt sich nicht an der Logik und den Errungenschaften der Freiheit der Männer messen. Der Massstab von Freiheit liegt im Subjekt und wenn Frauen den Wunsch nach Selbstbestimmung, den Wunsch nach Vertrauensbeziehungen, den Wunsch nach gutem Zusammenleben untereinander teilen und sich darüber austauschen, dann entsteht weibliche Freiheit. Eine Freiheit, die weniger bei den Gesetzen als vielmehr bei den konkreten Frauen ansetzt.
Brander, Stefanie: «Philosophinnen im Gespräch. Hannah Arendt, Simone de Beauvoir – eine fiktive Begegnung.» In: Die Philosophin. Forum für feministische Theorie und Philosophie. Tübingen 1990, S. 57–74.
Muraro, Luisa: «Von sich selbst ausgehen und sich nicht finden lassen.» In: Diotima (Hg.): Die Welt zur Welt bringen. Königstein/Taunus 1999, S. 18–38.
Muraro, Luisa: Nicht alles lässt sich lehren. Rüsselsheim 2015.
Schmuckli, Lisa: Differenzen und Dissonanzen. Zugänge zu feministische Erkenntnistheorien in der Postmoderne. Königstein/Taunus 1996.
Schmuckli, Lisa: Hautnah. Königstein/Taunus 2001.
Schmuckli, Lisa: «Stichwort Postmoderne.» In: Strahm, Doris u.a. (Hg): Wörterbuch der feministischen Theologie. Mainz 2002, S. 452–454.
Schmuckli, Lisa: Passion der Differenz. Ein Kaleidoskop von Frauenwelten. Königstein/Taunus 2007.
Weisshaupt, Brigitte: «Dissidenz als Aufklärung.» In: Andreas-Griesebach, Manon/Weisshaupt, Brigitte (Hg.): Was Philosophinnen denken II. Zürich 1986, S. 9–23.
Weisshaupt, Brigitte: «Schatten über der Vernunft.» In: Nagel-Docekal, Herta (Hg.): Feministische Philosophie. München/Wien 1990, S. 136–157.
* Dieser Text erschien erstmals in der Jubiläumsausgabe von RosaRot – Zeitschrift für feministische Anliegen und Geschlechterfragen, Nr. 50, Frühling 2016.