Jean Ziegler ist einer der bekanntesten Schweizer. Vor allem aus der Sicht des Auslands, wo er durch seine Bücher, sein unermüdliches Engagement in Afrika und seine Funktionen in der UNO ein hohes Ansehen geniesst. In Locarno hatte dieses Jahr der Film «Jean Ziegler, l’optimisme de la volonté» Premiere. Anstatt ihm, der unzähligen Anliegen schon seine Stimme gegeben hat und unzähligen Stimmen eine Plattform, nun einfach mit einem Portrait eine weitere Plattform zu bieten, beschritt der Regisseur Nicolas Wadimoff einen anderen Weg. Wadimoff, der bereits in seinem mit dem Schweizer Filmpreis ausgezeichneten Spielfilm «Operation Libertad» einen intelligenten Umgang mit den Widersprüchen in Theorie und Praxis der Linken gezeigt hatte, reist mit Jean Ziegler und seiner Frau nach Cuba. Damit inszeniert er ein doppelbödiges Reality-Check-Spiel, das nicht nur die Zieglers, sondern auch das Publikum einer Prüfung unterzieht.
Anlass ist die intensive Beziehung Zieglers zu Cuba, die vor über 50 Jahren durch die persönliche Begegnung mit Che Guevara in der Schweiz ihren Anfang genommen hatte. Ziegler wollte damals mit Che in den Befreiungskampf ziehen, doch dieser empfahl ihm, den Kampf in der Schweiz, im «Zentrum des Kapitalismus», zu führen. Ein Rat, dem er bis heute treu geblieben ist. Und der ihm, wie er irgendwann einmal feststellt, wohl auch das Leben gerettet hat.
In Havanna sieht man Ziegler durch die Gassen schlendern. Eine Frau steht auf dem Balkon, er wünscht ihr einen guten Tag und ruft «Es lebe Cuba, es lebe die Revolution». Die Frau gibt zurück: «Dann komm doch hoch und sieh dir an, wie wir hier leben!» Ziegler geht weiter. Die Zuschauer im Saal lachen. Auf den ersten Blick ist klar, Ziegler wird hier vorgeführt als realitätsferner Ideologe. Eine klassische Szene: Philosoph trifft auf Alltag. So wie Thales einst, den Blick an die Sterne geheftet, in die Grube fiel und von der Waschfrau dafür ausgelacht wurde. Ziegler will nicht raufgehen und nachsehen, wie die Frau lebt. Vielleicht, weil er die miese Realität hinter seinen Illusionen nicht sehen will? So wahrscheinlich die Vermutung des lachenden Publikums. Aber die wütende Frau auf dem Balkon ist kein schwaches Opfer, zumindest keines wie sie Ziegler monatlich an den Elendsorten der modernen kapitalistischen Welt zu sehen bekommt. Ihr Selbstbewusstsein ist jedenfalls stark genug, um dem alten Schweizer in der Gasse Paroli zu bieten. Das bedeutet, was immer er oben sehen würde, es würde ihn nach dem Mass seiner Erfahrung so oder so nicht zu jenem Elendstouristen machen, der er aus der Perspektive der hiesigen Cubakritik auf dieser Reise eigentlich sein müsste.
Noch an zwei weiteren Stellen gibt es Gelächter im Premierenpublikum. An der einen stellt Ziegler nach seinem Auftritt im cubanischen Fernsehen fest, dass er frei reden konnte, und folgert daraus, dass in Cuba Pressefreiheit herrscht. Bei der Naivität, mit der er das vorbringt, besteht kaum ein Zweifel, dass er meint, was er sagt. Im Kontext der vorangegangenen Diskussion über die Pressefreiheit erhält Zieglers Aussage aber einen Hintersinn. Dort hatte er die Pressefreiheit der westlichen Welt unter kapitalistischen Bedingungen als Scheinfreiheit identifiziert, die für Cuba einfach heissen würde: Privat-TV aus Miami. Wenn er nun hier, obwohl er in dieser Diskussion die Zensur des cubanischen Staates keineswegs bestritten, sondern geradezu im Namen eines dialektischen Freiheitsbegriffs verteidigt hatte, Pressefreiheit feststellt, so tritt neben das Naive auch etwas Listiges. Die List, den westlichen Cubakritiker_innen, die sich bei jedem beobachteten Akt von staatlicher Zensur in ihrer Meinung über die totale Kontrolle bestätigt fühlen, dieses Vorgehen in umgekehrter Weise unter die Nase zu reiben, indem er aus seiner freien Redemöglichkeit die allgemeine Freiheit folgert.
Das dritte Gelächter im Publikum ist das stärkste und gewissermassen das innigste. Ziegler steht mit seiner Frau in der Gedenkstätte des Che und sichtlich bewegt bekreuzigt er sich vor seinem Bildnis. Die meisten im Publikum sind peinlich berührt von Zieglers Glauben. Aber ihr Lachen ist mehr als das nachsichtige Lächeln gegenüber einem vermeintlich unverbesserlichen Ewiggestrigen, es verrät ihren zutiefst schweizerischen und letztlich zynischen Wunsch, auf keiner Seite zu stehen und sich überall schadlos zu halten. Ziegler dagegen steht immer mitten drin und macht natürlich oft, was die Lacher unbedingt vermeiden wollen, nämlich das Falsche. Aber dass das Richtige (hier zum Beispiel die Treue zu den Ideen seiner Jugend) wohl auch nur mit dem Risiko des Falschen zu haben ist, ist das schwierige Beispiel, das Jean Ziegler gibt.
Wenn Jean-Martin Büttner im Tages-Anzeiger behauptet, «Ziegler demontiert sich selber», so gilt das in diesem hintersinnigen Film mindestens ebenso für uns, das Publikum.
«Jean Ziegler, l’optimisme de la volonté» läuft ab November in den Schweizer Kinos.
* Zuerst veröffentlicht in: Neue Wege 9/2106.