Mit Kommunismus nach 1989. Beiträge zu Klassentheorie, Realsozialismus, Osteuropa liegen essentielle Texte des ungarischen neo-marxistischen Philosophen Gáspár Miklós Tamás erstmals in deutscher Übersetzung vor.
Brexit im Westen, autoritäre Formierung der Gesellschaften im Osten und linke Bewegungen und Regierungen im Süden – Europa, weit über die Grenzen der EU hinaus, ist nach wie vor tief in die Krise verstrickt, auch abgesehen von den drohenden und ausgetragenen militärischen Konflikten an dessen Peripherie und den Flüchtlingsströmen aus den noch stärker verheerten Teilen der Welt. Während jedoch die Eliten der westlichen EU-Staaten weiterhin um partielle Lösungen ringen oder von populistischen Parteien und Kampagnen vor sich her getrieben werden – siehe Brexit –, kommt im ehemaligen Ostblock ein anderes vorgebliches Krisenlösungsprogramm zum Vorschein. In Ländern wie Ungarn und Polen werden wir ZeugInnen einer mehr und mehr autoritären Formierung der Gesellschaft, die sich ideologisch und regressiv gegen beides richtet: das realsozialistische Erbe sowie die Versprechungen und Verheißungen eines liberalen Kapitalismus.
In Ungarn etwa regiert Viktor Orbans Fidesz-Partei mit über 45 Prozent der Stimmen und Zweidrittelmehrheit im Parlament, und die rechtsextreme bis offen neonazistische Jobbik-Partei ist mit 20 Prozent der Stimmen drittstärkste Kraft. So etwas wie eine nennenswerte linke Opposition besteht im politischen System nicht; alle Parteien sind auf die eine oder andere Art auf den neoliberalen Konsens eingeschworen, auch wenn es sich bei Bedarf für das einheimische Publikum immer wieder mal gut ausnimmt, gegen Brüssel, Washington oder auch die „Wall Street“ zu opponieren. Teil dieser autoritären gesellschaftlichen Problematik ist, dass die nominell linken Parteien den Niedergang der Gesellschaften des Ostens nach dem Ende des Realsozialismus selbst herbeigeführt und orchestriert haben, während sie mit fliegenden Fahnen ins Lager des Neoliberalismus übergelaufen sind. Es gibt im heutigen Osteuropa schlichtweg keine linke Perspektive, die auf ein Jenseits des Kapitalismus weisen könnte – die eigene Vergangenheit linker Bewegungen wiegt da genauso schwer wie die Entwicklungen zu Beginn der 1990er-Jahre –, ja noch nicht einmal eine erwähnenswerte linksliberale Opposition.
Die ideologischen Wendemanöver der geläuterten SozialistInnen wurden allerdings durch die schroffen gesellschaftlichen Realitäten in den Ländern des ehemaligen Ostblocks mehr als konterkariert und diskreditiert. Verglichen mit der Zeit vor 1989 fiel der allgemeine Lebensstandard nach der politischen Wende enorm ab. Westliches Kapital auf Beutezug strömte in die frisch liberalisierten Länder, bediente sich bei den freigesetzten gesellschaftlichen Ressourcen und entließ ArbeiterInnen scharenweise – Schocktherapie nach neoliberalem Modell, ohne dass es nach den für notwendig erklärten „Strukturanpassungen“ zu den versprochenen realen Verbesserungen der Lebenslage breiter Schichten der Bevölkerung gekommen wäre. Der Arbeitsdruck für diejenigen, die noch beschäftigt waren, nahm dafür enorm zu, und als Treppenwitz der Geschichte waren in diesem schockliberalisierten Kapitalismus mehr Menschen auf die Hilfe des Staates angewiesen denn jemals zuvor, nur dass dieser selbst am Rande des Kollapses stand und seine Aufgaben nicht mehr erfüllen konnte (227).2
Nach diesen Erfahrungen erscheint es großen Teilen der Bevölkerungen dieser Länder darum als offensichtlich, dass die versprochenen blühenden Landschaften nicht nur nicht entstanden sind, sondern dass sie sich stattdessen langfristiger Perspektivlosigkeit und Tristesse gegenüber sehen. Und angesichts des geschichtlichen Erbes und der Entwicklungen der letzten Jahrzehnte lassen sich solche Befindlichkeiten umso leichter in autoritäre Bahnen lenken und rechts artikulieren. Denn die Ablehnung von Sozialismus und Kapitalismus, in den Augen neuer wie alter Rechter beides Formen von Kosmopolitismus und falscher Universalität, geht traditionellerweise einher mit der Anrufung eines als natürlich und rein imaginierten Kollektivs sowie einer offen betriebenen autoritären Umgestaltung der Gesellschaft – was unter den Bedingungen des globalisierten Kapitalismus des 21. Jahrhunderts in den Worten von Tamás aber nicht mehr klassischer Faschismus, sondern „postfaschistischer Ethnizismus“ bedeutet. Ein Panoptikum dieser hässlichen Entwicklungen liefert der vorliegende Band, insbesondere in den beiden Interviews mit Tamás, die an dessen Beginn wie Ende stehen. Doch auch wer nach den tiefergreifenden Ursachen dieser Misere fragt, wird darin fündig werden.
Dissidententum hüben wie drüben, vorher wie nachher
Gáspár Miklós Tamás ist sicherlich nicht der erste oder einzige, der festgestellt hat, dass es in Folge der Umbrüche im Ostblock nicht zu einem wirklichen Aufbruch in Richtung Westen und kapitalistischen Wohlstands gekommen ist, sondern zur Zerstörung einer gesamten Lebensform und zu lang anhaltender Krise und Depression. Er ist aber mit Sicherheit einer der ehrlichsten und intellektuell pointiertesten ProtagonistInnen und ChronistInnen dieser Zeit. Denn Tamás wurde Anfang der 1990er-Jahre in der ersten freien ungarischen Parlamentswahl auf liberalem Ticket ins Budapester Parlament gewählt, eine Zeit lang war er sogar Vorsitzender der ungarischen Liberalen (SZDSZ). Aufgewachsen ist der 1948 geborene Tamás in Cluj/Koloszvar, früher auch Klausenburg, im rumänischen Siebenbürgen als Sohn kommunistischer Eltern und als Teil der dortigen ungarischen Minderheit. Von dort emigrierte der studierte Philosoph, Ende der 1970er-Jahre mit Publikationsverbot belegt, nicht etwa gen Westen wie so viele andere Intellektuelle und LiteratInnen, sondern nach Ungarn, wo ihm nach einigen Jahren das gleiche Schicksal widerfuhr und er Mitte der 1980er-Jahre zu einem der intellektuellen WortführerInnen der DissidentInnenbewegung wurde. Wie Tamás in den Interviews des Bandes selbst erklärt (30-32), war er zu dieser Zeit ein standfester gesellschaftspolitischer Liberaler mit ererbter sozialer Ader. Aus den gesellschaftlichen Verheerungen der Umbruchszeit, die Tamás, wie er selbst sagt, zu schaffen mithalf,3 zog er jedoch Konsequenzen, die unterschiedlicher gar nicht sein könnten von den geläufigen nach rechts tendierenden Krisenverarbeitungsstrategien gerade auch unter Intellektuellen: In intellektuell dürftiger Zeit, die vom endgültigen Sieg des Kapitalismus und mancherorts von einem „Ende der Geschichte“ überzeugt war, wurde er vom Liberalen zum Marxisten. Nach einem halben Leben unter zwei verschiedenen realsozialistischen Diktaturen, gleichermassen aber auch vollends desillusioniert von der westlichen Spielart des Kapitalismus, die für den Osten nur weiteren Niedergang zu bieten hatte, blieb Tamás schlussendlich doch nur die Besinnung auf Marx. Aber eben eine, die auf der Höhe der Zeit die Erfahrungen der realsozialistischen Diktaturen verarbeitete und auf einen Marxismus unorthodoxer Prägung jenseits der Theorien des Arbeiterbewegungsmarxismus und des praktischen Weltanschauungsmarxismus der Einheitsparteien des Ostens hinauslief. Tamás selbst beschreibt seine eigene theoretische Entwicklung seit Mitte der 1990er-Jahre wie folgt:
„I was quite influenced by the early and middle work of Cornelius Castoriadis – I also knew him, an astonishing man – and Karl Korsch. (…) I am an avid reader of operaismo and of pre-Empire Negri, and also on the opposite end, the Wertkritik school, in my view the best heirs to Critical Theory (Hans-Georg Backhaus, Helmut Reichelt, Michael Heinrich, but also the unruly genius, Robert Kurz, and the ‚cult‘ periodicals of this tendency, Krisis, Streifzuege, Exit!) as well as authors like Robert Brenner, Ellen Meiksins Wood, David Harvey, Michael Leibowitz, and various Marxists working in England too numerous to mention. The greatest impact came, however, from Moishe Postone’s magnum opus.“ (Szeman/Tamás 2009: 29, Hervorhebung i. O.)4
Diese Biographie und Entwicklung machen Tamás zum theoretischen Solitär und gleichzeitig auch zum herausragenden Analysten der gesellschaftlichen Veränderungen Osteuropas, wie der vorliegende Band unter Beweis stellt. Nur sein Verbleib in Ungarn, vor wie nach dem Ende des Realsozialismus, und sein Fokus auf diese in Westeuropa selbst oft vernachlässigte und belächelte Region können erklären, warum Tamás – im Gegensatz etwa zu Slavoj Žižek, einem anderen großen Marxisten aus dem ehemaligen Osten, der sich nach 1989 zuerst ebenso liberalen Illusionen hingab – bisher nicht einmal in linken Kreisen größere Bekanntheit erlangt hat.
Klassentheorie, Realsozialismus, Osteuropa
Ein solches Interesse würde doppelt und dreifach vergolten, denn Tamás’ Oeuvre ist wahrlich in vielerlei Hinsicht innovativ und einzigartig. Wie der Untertitel des Bandes Kommunismus nach 1989. Beiträge zu Klassentheorie, Realsozialismus, Osteuropa schon ausdrückt, ist er nichts weniger als all das: ein Versuch der theoretischen Neubestimmung des Marxismus und der Rolle der Klasse in diesem, mit Bezug auf die schmerzlichen Erfahrungen des Zusammenbruchs der sozialistischen Regimes in Osteuropa.
Das Buch besteht aus vier theoretischen Texten, eingehegt von zwei längeren Interviews mit Tamás, die die Themen der einzelnen Texte nochmals lebensgeschichtlich situieren und erfahrungsbezogen konkretisieren. An den einzelnen Texten zeigt sich die beeindruckende Breite und Tiefenschärfe des Tamás’schen Denkens und wie dieses von seinen theoretischen Bezugnahmen und seinen Erfahrungen im Ostblock geprägt ist. Die ersten beiden der vier theoretischen Texte beschäftigen sich mit der autoritären Formierung Ungarns und anderer post-sozialistischer Länder, einmal aus generell theoretischer Perspektive („Ethnarchie und Ethnoanarchismus“ [44-97]) und einmal anhand des Kosovokonflikts in Hinblick auf die Hinterlassenschaften der nur halb gelungenen bürgerlichen Reformen in den Erblanden der Habsburger Donaumonarchie („Zweihundert Jahre Krieg – auf der Suche nach den Ursprüngen des Kosovokonflikts im achtzehnten Jahrhundert“ [97-126]), die im ehemaligen Jugoslawien mit zu Massenmord und ethnischen Säuberungen beitrugen. In diesen Texten, die im folgenden Abschnitt dieser Rezension noch genauer besprochen werden, sieht eins Tamás’ inniges Wissen frühbürgerlicher Philosophie und Geschichte (Robert Brenner, Perry Anderson und Ellen Meiksins Wood sind seine KronzeugInnen) wie auch heutiger Verhältnisse in Osteuropa am Werk. Durch die Kontrastierung von beidem gelangt er zu der Erkenntnis, dass es sich beim heutzutage in Osteuropa florierenden Ethnizismus weder um den althergebrachten, aufgeklärt-inklusivierenden Nationalismus der bürgerlichen Nationsbildung des 19. Jahrhunderts handelt, wie er etwa von der Wiener Staatsbürokratie der Donaumonarchie vorangetrieben worden ist, noch um rein faschistische, nach außen gerichtete Mobilmachungen, wie sie aus den 20er- und 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts bekannt sind.
Die anderen beiden theoretischer angelegten Texte („Wahrheit und Klasse – noch einmal betrachtet“ [126-199] sowie „Marx zu 1989“ [199-236]) versuchen eine „geläuterte“ marxistische Perspektive auf den Epochenbruch von 1989 und damit auch das Zeitalter der neoliberalen Globalisierung, dem wir uns seitdem gegenüber sehen, zu entwickeln. Mit Moishe Postone und Robert Kurz (Postone 2003, Kurz 2012) geht Tamás davon aus, dass mit dem Realsozialismus nicht nur eine pervertierte oder degenerierte Parteiendiktatur zugrunde gegangen ist, sondern das gesamte Paradigma des Arbeiterbewegungsmarxismus und in gewisser Weise die ArbeiterInnenklasse selbst, und zwar nicht nur als identifizierbare und identitätsstiftende soziale Schicht, was so manche traditionellere Marxismen durchaus eingestehen würden, sondern als basale Kategorie kapitalistischer Vergesellschaftung. Stattdessen sehen wir uns einem „Capitalism Pure and Simple“ – so der Titel eines weiteren Textes von Tamás (Tamás 2008) – jenseits aller Überreste ständischer Gesellschaften und identifizierbarer ArbeiterInnenkultur gegenüber. Der traditionelle Marxismus der ArbeiterInnenbewegung hat sich aber um die eigentlichen Formprinzipien solcher kapitalistischer Gesellschaften, Wert und abstrakte Arbeit, die mehr und mehr zur Kenntlichkeit gelangen, nie richtig gekümmert; sein historisch verständliches Pochen auf Gleichheit in noch ständisch geprägten Gesellschaften hat vielmehr zu einer Art „Rousseauschen Sozialismus“, einer Utopie oder Dystopie der Natürlichkeit, Vorzüglichkeit und einfachen Identität, geführt. So kam es zur Apotheose der ArbeiterInnenklasse anstelle einer Berufung auf den im Marxschen Spätwerk vorherrschenden negativen Impuls eines Programms der Abschaffungen, allen voran der ArbeiterInnenklasse selbst in ihrer kapitalismusinduzierten Entfremdung und Verdinglichung.
Erwähnenswert ist hier noch, dass der Herausgeber des Buches, Gerold Wallner, sich in der Vergangenheit bereits in der inzwischen eingestellten Wiener Zeitschrift grundrisse. Zeitschrift für linke Theorie und Debatte um die Übersetzung mehrerer im vorliegenden Band nicht enthaltener Texte Tamás’, die ebenfalls den eben skizzierten Problemkomplexen zugerechnet werden können, verdient gemacht hat.5 Dies und die eindeutige theoretische wie praktische Relevanz der nun vorliegenden Texte lassen auch verschmerzen, dass das Lektorat schlampig wirkt und die sonst sehr elegante Übersetzung an manchen Stellen etwas ungelenk.
„Nationen sind Stämme mit Flaggen, Republiken sind gangs mit Verfassungen“ (72)
In den Texten zum Aufkommen des Postfaschismus in Ungarn beschreibt Tamás im Detail, wie das Konzept der StaatsbürgerInnenschaft in den postsozialistischen Staaten immer weiter ausgehöhlt und von einem Verständnis von Ethnie ersetzt wird, das völlig nach innen gerichtet und exklusorisch ist. StaatsbürgerInnenschaft ist kein Status mehr, der durch Akzeptanz gewisser Normen, rechtliche Anerkennung und „kulturelle Assimilation“ erworben werden kann, sondern eine kulturell ausschließliche Identität, die den Zwangsmitgliedern der Gemeinschaft von Geburt an qua Kultur zukommt. So merken Roma, ungarische Jüdinnen und Juden und andere Minderheiten tagtäglich, dass sie, obwohl formell ungarische StaatsbürgerInnen, nicht dem imaginierten „Magyarentum“ angehören. Diese exklusive Identitätskonstruktion nennt Tamás „Ethnarchie“ (75). Sie steht noch zum krassesten bürgerlichen Nationalismus im Gegensatz, der immerhin von der theoretischen Möglichkeit der Assimilation auf den Stand der fortgeschrittensten Kultur, immer verkörpert vom eigenen Nationalwesen, durchzogen war (white man’s burden, mission civilicatrice, assimilado etc.). Tamás zeigt in einem Durchgang durch die frühbürgerliche Philosophie auch, dass der Nationalismus der damaligen Philosophen – wie er sich auch in der Politik der absolutistischen Staatsbürokratien niederschlug – bei allen Widersprüchen und persönlichen Auslassungen, die das Gegenteil bezeugen, ein Verbündeter des Liberalismus war, er die Bevölkerungen in Stadt und Land also von ständischen Beschränkungen aller Art freisetzen und zu vollen Staatsbürgern (weniger Staatsbürgerinnen) machen wollte. In dieser Hinsicht waren der aufklärerische Nationalismus des späten 18. Jahrhunderts und der nationenbildende Nationalismus des frühen 19. Jahrhunderts bei aller repressiver Unterdrückung politische Unternehmungen, die eine gemeinsame Identität schaffen und auf dieser Basis inklusorisch wirken sollten.
Historisch sieht Tamás die Fundamente der Konstellation, die zum heutigen Ethnizismus in der Region führte, in den Kräfteverhältnissen der Habsburgermonarchie des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts verortet, wo es aufgrund der Schwäche der Staatsbürokratie des Zentrums und der Zurückgebliebenheit so mancher Kronländer nie zur vollständigen Durchsetzung bürgerlicher Freiheiten kam. Die politischen Reformen mit dem kollektiven Ziel der Nationsbildung und dem individuellen Ziel der „Veredelung“ der Menschen oder Männer zu Staatsbürgern konnten im Habsburgerreich nie zur Gänze durchgesetzt werden und wurden den lokalen Bevölkerungen verschiedenster Couleur und Dienstbarkeit von der Obrigkeit aufgeherrscht. Genauso wie in Deutschland kam es in der Donaumonarchie zu keiner erfolgreichen bürgerlichen Revolution, zu stark waren die Kräfte der Reaktion, die lokale Aristokratie und der Kleinadel, die ihre standesgemäßen Privilegien nicht aufgeben wollten. Mit der Zeit verschwanden durch die Trennung von Politik und Kultur und eine kulturelle Definition von Ethnizität bürgerlicher Nationalismus, Assimilation auf den „Stand der Kultur und des Staatsbürgers“ und damit auch superethnische Definitionen von StaatsbürgerInnentum mehr und mehr von der Bildfläche. Die lokalen Eliten repräsentierten in diesem Sinne in einem mehr oder minder inkludierenden Bündnis mit ihren UntertanInnen einen oft sprachlich angetriebenen, regionalen Ethnizismus ohne jedwede politische Komponente, während Politik, oft mürbe und zahnlos, nur im Zentrum Bestand hatte und von dort aus auszustrahlen trachtete. Sobald das Zentrum jedoch erledigt war, blieb nur noch die sich präpolitisch imaginierende Ethnie übrig. Diese Gemengelage ist für Tamás zentral für das Verständnis der Nachfolgestaaten der Donaumonarchie bis hin zu Jugoslawienkrieg und Kosovo-Konflikt mit ihren Massakern und ethnischen Säuberungen ganzer Landstriche.6 Und mit dieser Problematik war die historische ArbeiterInnenbewegung der Habsburgermonarchie genauso beschäftigt wie die BolschewistInnen in Russland – siehe etwa die Debatten um die Nationalitätenfrage in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg (110-114).
Erst die kommunistischen Regimes des Ostens brachen die Macht der ständischen Aristokratien und ihrer ethnizistischen Ideologie und errichteten in der Form von „nachholender Modernisierung“, die sich in der Zeit des Stalinismus vornehmlich auf Zwangsarbeit und gesamtgesellschaftlichen Terror stützte, moderne Formen von Staatlichkeit und schließlich in der poststalinistischen Periode eine östliche Version des Wohlfahrtsstaats mit Fokus auf individuellem Konsum, billigem Wohnraum, gesellschaftlicher Motorisierung und Massenunterhaltung – wenn auch nicht auf dem Niveau der Staaten des Westens und ohne liberale Freiheiten, was Tamás keineswegs verschweigt (207). In den konservativen und puritanischen Staaten des Ostens, eins denke z. B. nur an die Behandlung von Homosexuellen, stand dennoch die ArbeiterInnenklasse ideologisch im Mittelpunkt, und Umverteilung des Reichtums hin zu den Schlechtergestellten geschah in nicht unbeträchtlichem Ausmaß. Die Partei war eine Art Transmissionsriemen, der es Jüngeren proletarischer Herkunft erlaubte, sozial aufzusteigen und Karriere zu machen, in Betrieben genauso wie als Apparatschiks in den Parteiapparaten. Mit anderen Worten, die Staaten des Ostblocks waren stark egalitär ausgerichtet, stark repressiv egalitär ohne Frage, und es war dieser Egalitarismus, der zu Beginn der 1990er-Jahre vollständig zerstört wurde.
Die Entwicklung des postfaschistischen Ethnizismus lässt sich nur vor dem Hintergrund der eben kurz skizzierten historischen Entwicklungen verstehen, eines aus der Donaumonarchie ererbten Ethnizismus ohne reale politische Komponente wie auch eines stark egalitär ausgerichteten Realsozialismus, dessen materielle Errungenschaften unter dem Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Wohlstand innerhalb von weniger als einem Jahrzehnt vollständig zunichte gemacht worden waren.
Der moderne osteuropäische Ethnizismus gibt sich in dieser Hinsicht und als Reaktion auf diese Entwicklungen betont apolitisch. Politik ist immer inauthentisch und als Form des Interessensausgleichs Betrug. Besessen von der Vorstellung einer „subpolitischen Baracke, befreit von Politik“ (75), ist der Ethnizismus seinem Wesen nach aber ein Teil des ökonomischen und politischen Krisenprozesses, der sich in den letzten Jahrzehnten auch in den westlichen Kernländern ausgebreitet hat und dort als Rechtspopulismus sein Unwesen treibt. Selbst bürgerliche Freiheiten gelten nicht mehr als unhintergehbar, und wir sehen uns einem politischen Programm gegenüber, das im Rahmen des Politischen auf die repressive Nivellierung aller Unterschiede drängt. StaatsbürgerInnenschaft wird so von einem Recht zu einem Privileg, das einigen – den weißen Bevölkerungsmehrheiten der einzelnen Staaten – von Natur aus zukommt oder vom Boden her quasi „zuwächst“, während andere für immer als Ausgeschlossene zu gelten haben:7 Das ist der von Tamás äußerst luzide beschriebe postfaschistische Zustand, der in Teilen Osteuropas schon Realität ist und den rechte Parteien im Westen mit aller Kraft herbeiführen wollen. Tamás fasst diese ideologische Problematik in einem rezenten Interview für den Jacobin (Ryder/Tamás 2015) folgendermaßen zusammen:
„Ethnic groups try to found new polities away from universalist, conceptual arrangements, want to find a non-political, racial and cultural togetherness which might bring forth a genuine political community grounded in something pre-political, non-artificial, where divisive class politics and abstract cultural hegemony of the strong (usually ethnic majorities and their ruling strata) will end. It is as romantic as old nationalism was, but without the Enlightenment elements of civic liberation.“
Mit Hilfe dieser Beschreibung lässt sich ex negativo auch leicht ersehen, wo der „Feind“ für die ethnizistischen „Stammeskrieger“ zu finden ist. Der bürgerliche Liberalismus und der moderne Kapitalismus, das lehrt die Entwicklung nach dem Zusammenbruch, werden ebenso verachtet wie der Marxismus, der zur Gänze mit den repressiven Regimes des Ostens gleichgesetzt wird. Jüdinnen und Juden, Roma, Intellektuelle sowie sexuelle und andere Randgruppen gemahnen jedoch weiterhin in der einen oder anderen Form an Verschiedenheit, Universalität, Muße; an Realität im Allgemeinen als Resultat komplexer Vermittlungen, an das Nichtaufgehen in einfacher Identität wie auch an die praktische Unerfüllbarkeit des Versprechens einer vorpolitischen, absoluten Gemeinschaft. Und dafür werden sie gehasst, wenn sie nicht sogar, wie das vom Staat im Falle der Roma oft zumindest toleriert wird, für vogelfrei erklärt werden.
Eine der großen Stärken der vorliegenden Texte von Tamás ist es, dass sie in ihrem wohlgeformten Essayismus beinah bruchlos zwischen verschiedenen Ebenen der Darstellung hin und her wechseln. Die Analyse des modernen Postfaschismus osteuropäischer Prägung ist etwa unterfüttert von einer konzisen Diskussion rechter Ideologien, die den aufklärerischen Nationalismus bis hin zum logischen Endpunkt des Schmittschen „umgekehrten Anarchismus“ (68) durchgehend flankiert haben.8 Daraus ergibt sich ein umfassendes Gesamtbild philosophischen wie alltäglichen rechten Denkens. Philosophisch gesprochen wird in diesem das Denken selbst unter Generalverdacht gestellt, jede Form des Transzendenten oder Universalen soll aus diesem getilgt werden – ohne dass das reell in irgendeiner Form möglich wäre. Wissen wird durch reinen Willen ersetzt, durch ein „Tasten nach einem Geflecht menschlicher Beziehungen, die ohne Worte gefühlt werden“ (85) sollen und die sich als solche im sich der Definition eigentlich entziehenden Gemeinsamen der absolut gedachten Ethnie wiederfinden lassen. Politische Konflikte werden dadurch zu solchen des „Lebens mit der Sterilität, der Vitalität mit dem Kranken (…), einem Kranken, das sich als Vernunft und Mitleid maskiert“ (106), wie Tamás Ernest Gellner zustimmend zitiert.9
In dieser gleichermassen postfaschistischen wie postsozialistischen Wirklichkeit kommt es jedoch nicht zur aktiven „Umwertung aller Werte“ (Nietzsche), die noch immer als vorwärtsgerichtetes Projekt verstanden werden könnte, sondern zu Nihilismus und einer Politik des Argwohns, die in jeglichen Werten, Zielen und Idealen immer schon nichts anderes sieht als partikulare Interessen und Machenschaften. Wie Tamás zeigt, wird in einem solchen Diskurs, einer postfaschistischen Konterrevolution gegen die Konterrevolution von 1989 (Tamas 2007b), die sich ebenso aus den historischen Kontinuitäten der nicht vollständigen Durchsetzung bürgerlicher Verhältnisse in der Habsburgermonarchie speist, Freiheit mit Chaos und Armut, das Streben nach Glück mit Untertänigkeit und fortwährenden Demütigungen assoziiert.10 Und so kommt es in diesem Postfaschismus vordergründig auch nicht zu einer faschistischen Mobilmachung im Stil der 1920er-Jahre gegen einen äußeren Feind, der für die reale Widersprüchlichkeit und Nicht-Identität der Welt zu büßen hätte. Denn unter den Vorzeichen der Globalisierung, die zwar bekämpft und verdammt wird, aber nicht per Federstrich oder Verschwörungstheorie aus der Welt geschafft werden kann, kommt es zu keinem faschistischen Projekt, das auch imperial ausgerichtet wäre – „[d]er Ethno-Anarchismus des späten zwanzigsten Jahrhunderts zerstört Staaten, schlägt sie in Stücke und ersetzt sie durch nichts” (85-86, Hervorhebung i. O.). –; „Stämme mit Flaggen“ kämpfen vielmehr auf eingeschränktem Staatsgebiet gegen imaginierte „gangs mit Verfassungen“.
Hier stellt sich natürlich die Frage, wie weit sich diese postfaschistischen Zustände unter verschärften Krisenbedingungen zu imperial-faschistischen Mobilisierungen wandeln könnten, etwa in militärisch wie wirtschaftlich potenten Staaten des Zentrums. Diese Frage liegt indes jenseits der Texte des vorliegenden Bandes, die allesamt auf Osteuropa fokussieren und vor den Zuspitzungen der (politischen) Krisenerscheinungen gerade auch im Westen Europas verfasst worden sind (ganz frisch: Brexit, aber natürlich auch das Phänomen Donald Trump in den USA und der Aufstieg anderer rechtspopulistischer Bewegungen in vielen Ländern Westeuropas, Paradebeispiel: Marine Le-Pens Front National). Was der Band jedoch über die Analyse der Entstehung des Ethnizismus hinaus liefert, sind Lehren zur theoretischen Reformulierung des Marxismus als Befreiungsprojekt, die vor dem Hintergrund der Gefahr der Entstehung allseitig postfaschistischer Zustände aus dem Epochenbruch von 1989 zu ziehen wären. Das alleine ist schon eine theoretische Großtat.
„Der Rückzug von Sozialismus zu Egalitarismus, von Marx zu Rousseau“ (151)
Theoretisch besteht die Fehleistung des ArbeiterInnenbewegungsmarxismus hüben wie drüben für Tamás elementar in einem Rousseauschen – und damit nicht-Marxschen – Verständnis von Volk und Gesellschaft, welches historisch dadurch zu erklären ist, dass die entstehende ArbeiterInnenbewegung des 19. Jahrhunderts sich in Mittel- und Osteuropa oft noch halbfeudal und stark ständisch strukturierten Gesellschaften gegenüber sah. Rousseau hat das Volk als „epistemisches Objekt“ philosophischen Denkens im Sinne von Gaston Bachelard quasi erschaffen (127), und zentral für seine gesamte politische Philosophie ist, wie weithin bekannt, die Idee der vorsintflutlichen Gleichheit aller Menschen in einem imaginierten Naturzustand („Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten“). Gleichheit wird hier als differenzlose Einheitlichkeit gedacht, nicht nur als „Gegenteil von Hierarchie, sondern ebenso von Verschiedenheit und Vielfalt“ (136). Ein sich als natürlich legitimierendes System, die feudale Ständegesellschaft, wird angegriffen durch eine Philosophie, die sich nicht minder natürlich gibt, aber auf der Seite der als prinzipiell gut und einheitlich gedachten Geknechteten steht und sich durch einen egalitären Impuls auszeichnet, der die Ideale der Einfachheit, Frugalität und der natürlichen Lebensweise ohne Vermittlungen mit allen ideologischen Begleiterscheinungen vertritt (Absage an das „Überflüssige“, Luxus, Genuss hoher Kunst). Die Rousseausche Idee von Emanzipation richtet sich deshalb nicht in einem negativen Impuls gegen die knechtenden Verhältnisse und damit auch gegen die eigene negative Identität der Beherrschten in diesen, im Sinne der Überwindung des Kapitalismus als Selbstabschaffung des Proletariats im Marxschen Denken, sondern als Positivsetzung und Bestärkung des guten Volks gegen jegliche Form von Standesgesellschaft, gegen Adel und Klerus mit ihren nun als unnatürlich empfundenen Privilegien. Tamás betont, dass sich beide Ansätze theoretisch und in ihren Vorstellungen von Emanzipation diametral gegenüberstehen, auch wenn viele MarxistInnen sich dessen nicht bewusst waren. Im Werk des reifen Marx sind es nicht die Vorzüglichkeit und Tugend des Volkes, die es zum Subjekt der Emanzipation machen, sondern die Entfremdung und Verdinglichung des Proletariats, sein Mangel und seine negative Daseinsform durch die eigene Konstitution als Teil der historisch spezifischen Gesellschaftsform des Kapitals.11 In Tamás Worten:
„Marx glaubt nicht an die Selbstschöpfung oder Selbsterfindung der Arbeiterklasse, parallel zum Kapitalismus oder neben ihm, durch die Errichtung einer unabhängigen Reihe sozialer Werte, Gewohnheiten und Praktiken des Widerstands. Die Arbeiterklasse ist das Ergebnis von Destruktion (wie übrigens auch die Bourgeoisie)“ (138).
Viele traditionelle SozialistInnen jedoch, Tamás diskutiert Karl Polanyi, Marcel Mauss, Georges Bataille12 und als Paradebeispiel Edward P. Thompson, gaben sich dennoch einer „engelhaften Sicht auf die Ausgebeuteten“ (138, Hervorhebung i. O.) hin. Historisch gesehen ist diese (implizite) Hinwendung zu Rousseau durchaus verständlich und womöglich auch notwendig, wie Tamás an den Beispielen der ArbeiterInnenbewegung der letzten Jahrzehnte der Habsburgermonarchie und den Zuständen in den nach dem Ersten Weltkrieg von ihr unabhängig gewordenen östlichen Staaten zeigt. Die ArbeiterInnenbewegung sah sich der Aufgabe ihrer Selbstlegitimierung in Gesellschaften gegenüber, die von fundamentaler vorbürgerlicher Ungleichheit und Unfreiheit gekennzeichnet waren.Ständische Gesellschaften basieren grundlegend auf theologisch legitimierter Knechtschaft und Stasis, auf unmittelbarer Herrschaft und gewaltförmiger Abpressung des Mehrprodukts innerhalb einer als universell vorgestellten „sozio-theologischen Hierarchie“ (163). Verschiedene Stände – Adel, Klerus auf der einen Seite, Handwerker und (leibeigene) Bauern auf der anderen – nennen fundamental verschiedene Ausstattungen, physisch wie geistig, Aufgaben, Werte und Privilegien ihr eigen: „Was für einen Stand Tugend ist, ist es für den anderen nicht. Stolz ist gut bei einem, Unterwürfigkeit bei einem anderen“ (164). Wenn proletarische Bewegungen oder Parteien irgendwo triumphierten, dann zumeist in ideologischer Anlehnung an die halbfeudalen gesellschaftlichen Verhältnisse und Schichten, die es zu beseitigen galt, auch wenn sie ihrem Selbstverständnis nach dadurch (erste) Schritte dahin taten, den Sozialismus Realität werden zu lassen.
Dieser lässt sich aber – und hier stützt Tamás sich auf die Kapitalinterpretationen von Postone und Kurz – nicht als „Sozialismus des Adjektivs“ (Kurz), als sozialistisches Geld, sozialistischer Markt etc., und vom „Standpunkt der Arbeit“ (Postone) und damit von einem auf die Zirkulation fixierten fundamentalen Gleichheitspostulat aus verwirklichen. Theoretisch blieben auch die Ostblockstaaten dem von Rousseau ererbten Paradigma verhaftet, auch wenn sie propagandistisch ganz anderes von sich behaupteten. Tamás geht davon aus, dass eine echte Überwindung des Kapitalismus in den Staaten des Ostblocks, gedacht als radikales Programm der Abschaffung kapitalistischer Realkategorien, allen voran von abstrakter Arbeit, Warenform und Geld, niemals wirklich auf der Agenda stand; stattdessen hatten wir es im Osten mit einem „bureaucratic state capitalism (and not ‚socialism‘) which came after semi-feudalism, fascism, war, the Holocaust, and Stalinism“ (Ryder/Tamás 2015) zu tun. Das immer weitere Auseinanderdriften von Ideal und Wirklichkeit führte zu einer Art Metaphysik der Partei, die, entgegen der schalen Realität und der Entwicklung hin zu einem repressiven und biederen Wohlfahrtstaat (siehe den vorhergehenden Abschnitt), weiterhin für das Ideal des Sozialismus einstehen musste.13
All das ist nun aber, können wir Tamás Glauben schenken, Vergangenheitsmusik, denn durch die formell sozialistischen Regimes des Ostens wurden, in Europa zumindest, die Überreste ständischer Gesellschaften und mit diesen Staaten selbst schlussendlich jede Form von separater ArbeiterInnenbewegungskultur, welche ihrerseits noch ständisch geprägt war, vernichtet. Was wir heute vielmehr sehen, ist der von Marx in den Grundrissen als dem Kapital innewohnende Tendenz beschriebene globalisierte Weltmarkt. Das Kapital ist nun nicht mehr an eine soziologisch definierbare Klasse gebunden, die traditionelle Bourgeoisie, die es genausowenig mehr gibt wie das traditionelle Industrieproletariat, und mit dem Abgesang beider Klassen sind auch die politischen Auseinandersetzungen ihrer Sprengkraft verlustig gegangen (242-243). Damit ist der Kapitalismus formell zwar immer noch eine Klassengesellschaft, das gehört zu seinen strukturellen Merkmalen, die sich aus dem Fakt verallgemeinerter Warenproduktion ergeben, aber eine solche ohne ständisch geprägte Klassen und Klassengegensätze. Die Zeit für historische Synthesen und Klassenkompromisse kann damit als vergangen betrachtet werden. Was nun „mit nüchternen Augen“, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, zu betrachten wäre, ist, dass Emanzipation nur jenseits der kapitalistischen Formprinzipien zu haben ist und dass diese Aufgabe, for better or worse, bisher in ihrer Gesamtheit noch nie in Angriff genommen wurde – während sie heute umso dringlicher erscheint angesichts der Krisenhaftigkeit des globalisierten Kapitalismus, von Krieg und Verelendung in Teilen des Globus und von faschistischen Mobilisierungen, wie sie von Tamás für den Fall Osteuropa in den vorliegenden Texten so meisterlich analysiert werden.
Schlussbemerkung
Die in Kommunismus nach 1989 versammelten Essays stellen in der Breite ihrer Themen und mit der Scharfsinnigkeit der dargebotenen Analyse ohne Zweifel unter Beweis, dass Tamás einer der führenden marxistischen DenkerInnen unserer Zeit ist und es bleibt zu hoffen, dass der Band zur weiteren Verbreitung seines Werkes im deutschsprachigen Raum beitragen kann. Selbst wer Tamás’Kapital-Interpretation nicht zustimmt, findet in diesen Texten erhellende politische Analysen Ungarns und der historischen Kontinuitäten in Mittel- und Osteuropa, die zu so viel Konflikt geführt haben, sowie theoretische Analysen traditioneller rechter Ideologie und deren moderner Ausformungen in Gestalt des ethnizistischen Postfaschismus, eine nicht weniger aufschlussreiche, narrativer angelegte Darstellung der Lebensrealität in den Ostblockstaaten sowie innovative Interpretationen frühbürgerlicher Philosophie. Einzelne Details sind Fragen weiterer Debatten, Tamás zeigt jedoch beispielhaft, wie eine Erneuerung des Marxismus auf der Höhe der Zeit auszusehen hat und wie dieser, nach dem Epochenbruch von 1989 und nach dessen wiederholter Totsagung, als solcher ungebrochen von Relevanz ist für die Analyse der Widersprüche des modernen Kapitalismus und die Möglichkeit von dessen Überwindung.
Gáspár Miklós Tamás: Kommunismus nach 1989. Beiträge zu Klassentheorie, Realsozialismus, Osteuropa. mandelbaum, Wien 2015.
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Postone, M. (2003): Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx. Freiburg i. Br.: ça-ira Verlag.
Ryder A./Tamás, G. M. (2015): „Socialism and Freedom“. Online: https://www.jacobinmag.com/2015/05/tamas-fascism-socialism-east-europe-hungary/ (29.06.2016).
Szeman, I./Tamás, G. M. (2009): „The Left in Eastern Europe. An Interview with Gáspár Miklós Tamás“. In: Mediations 24.2, pp. 12-35.
Tamás, G. M. (2007a): „Ein ganz normaler Kapitalismus“. In: grundrisse. Zeitschrift für linke Theorie und Debatte 22/2007. Online: http://www.grundrisse.net/grundrisse22/Gaspar_Miklos_Tamas.htm (29.06.2016).
Tamás, G. M. (2007b): „Konterrevolution gegen eine Konterrevolution“. In: grundrisse. Zeitschrift für linke Theorie und Debatte 23/2007. Online: http://www.grundrisse.net/grundrisse23/tamas_gaspar.htm (29.06.2016).
Tamás, G. M. (2008): „A Capitalism Pure and Simple“. In: Left Curve 32/2008, pp. 66-75.
Tamás, G. M. (2013a): „Vorläufige Thesen zu einem System der Angst“. In: grundrisse. Zeitschrift für linke Theorie und Debatte 45/2013. Online: http://grundrisse.net/grundrisse45/system_der_angst.htm (29.06.2016).
Tamás, G. M. (2013b): „Über Postfaschismus“. In: grundrisse. Zeitschrift für linke Theorie und Debatte 45/2013. Online: http://grundrisse.net/grundrisse45/ueber_postfaschismus.htm (29.06.2016).
Tamás, G. M. (2015): Kommunismus nach 1989. Beiträge zu Klassentheorie, Realsozialismus, Osteuropa. Wien: mandelbaum.
1 Ich danke Martin Bartenberger für Kommentare zu einer früheren Version dieses Textes.
2 Einfache Seitenangaben beziehen sich auf den vorliegenden Band, Tamás 2015.
3 Siehe etwa die folgende Aussage aus einem Interview mit der Zeitschrift International Socialism: „What was important in hindsight was that in the first two years I spent in the highest chamber of my country as a lawmaker two million jobs were lost – and I don’t think I noticed. That is one of the greatest shames of my life. (…) Meanwhile we, the froth at the top of it, were celebrating the triumph of freedom and openness and plurality and fantasy and pleasure and all that. That was frivolous, and I am deeply ashamed of it“ (Harman 2009).
4 Gemeint hier mit Moishe Postones magnum opus ist sein Werk „Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx“ (Postone 2003), das 2003 erstmals in deutscher Übersetzung erschien und seither für viel Diskussionsstoff gesorgt hat.
5 Siehe etwa „Ein ganz normaler Kapitalismus“ (Tamás 2007a), die deutsche Übersetzung des schon erwähnten Textes „A Capitalism Pure and Simple“: http://www.grundrisse.net/grundrisse22/Gaspar_Miklos_Tamas.htm (28.06.2016); „Konterrevolution gegen eine Konterrevolution“ (Tamás 2007b) zum Aufkommen des Postfaschismus im ehemaligen Osten: http://www.grundrisse.net/grundrisse23/tamas_gaspar.htm (28.06.2016); sowie „Vorläufige Thesen zu einem System der Angst“ (Tamás 2013a): http://grundrisse.net/grundrisse45/system_der_angst.htm (28.06.2016) und „Über Postfaschismus“ (Tamás 2013b): http://grundrisse.net/grundrisse45/ueber_postfaschismus.htm (28.06.2016) zum selben Themenkomplex.
6 „Die anhaltende Trennung universalistischer Politik und allgemeinen Rechts von ethnischer Kultur, die Feindschaft zwischen gesamtmonarchischem Liberalismus und nationaler Demokratie und, noch bedrohlicher, zwischen internationalem und nationalem Sozialismus sind der Urquell unserer aktuellen Probleme – nicht die ausgemalten mittelalterlichen Konflikte“ (107-108). Mit „unseren aktuellen Problemen“ gemeint sind der Jugoslawienkrieg und der Kosovo-Konflikt.
7 Hier ließe sich mit Gewinn an Giorgio Agambens Theorien über den sog. Homo Sacer und Foucaultsche Überlegungen zum modernen Dispositiv der Biopolitik anschließen, die bei Tamás, der sich in seinen Texten auf frühbürgerliche Philosophie und rechtideologische Reaktionen auf diese in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konzentriert (siehe auch die folgende Fußnote), keine Erwähnung finden. Beide Denker streichen die fundamentale Ambiguität und den herrschaftlichen Charakter der modernen Subjektbildung hervor, die bei Tamás in seiner Emphase auf den Kontrast zwischen aufklärerischem Nationalismus und postfaschistischem Ethnizismus etwas zu kurz kommen. Zu den grundsätzlichen gesellschaftstheoretischen Defiziten von Agamben und Foucault, die als solche nicht einfach unbesehen von links appropriiert werden können, siehe Gangl 2012.
8 Tamás’ sehr pointierte Kritik an Carl Schmitt, die ins Verdikt des „umgekehrten Anarchismus“ mündet, ist es wert, hier im Detail aufgeführt zu werden: „Diese napoleonischen étatistes [das aufgeklärte Herrschaftspersonal absolutistischer Monarchien, Diplomaten, Kanzlisten, Juristen, Offiziere etc., Anm. G. G.] vom Schlag der idéologues Destutt de Tracys verehrten den Staat nicht im Geiste dezisionistischen Voluntarismus Carl Schmitts, der den politischen Inhalt von Regierung in Klammern setzt, als ob die souveräne Entscheidung über den Ausnahmezustand schon ausreichte, um Politik unabhängig davon, was gut und was böse ist, zu bestimmen, nicht im Geiste dieses stumpfsinnigen Kults reiner Macht an und für sich, dieses umgekehrten Anarchismus, der Husserls Neufassung von Kant nachahmt und parodiert“ (68, Hervorhebung i. O.). Und in einer längeren Fußnote (93-95, Fn. 8), die Tamás’ ganzes Ingenium aufblitzen lässt, beschreibt er das sexistisch-abspaltende Moment, die „keusche Maskulinität“ (95, Fn. 8), die dieser rechten Form von Souveränitätsdenken und „Gleichheit“ innewohnt: „Alles, was böse und revolutionär war (wie etwa die slawische Seele, von Moeller van der Bruck, dem berühmten Autor von ‚Das Dritte Reich‘, zweideutig gepriesen), wurde als weiblich empfunden. Der Wille, dachte Carl Schmitt, müsse von Reflexion und Zuneigung, alles weiblich und homosexuell, befreit werden. Die Herrschaft des Gesetzes wurde als eine Art Unzucht wider die Natur betrachtet. Und die gefährlichste fünfte Kolonne, jüdische Männer, die Frauen lieben, müsse eliminiert werden. Sonderbar genug, aber die Romantik, die die Liebe von Männern für Frauen feierte, wurde irgendwie als schwul angesehen, denn Frauen zu lieben, ist – für Faschisten – eine Schwäche. Gynäkokratie – um Bachofens terminus technicus zu verwenden – ist die Zukunft, wenn Juden und Romantiker nicht zu Tode gebracht werden“ (94-95, Fn. 8, Hervorhebung i. O.).
9 Dabei handelt es sich um Gellners posthum erschienenes Werk „Language and Solitude“ (Gellner 1998).
10 Vor kurzem beschrieb Tamás diesen Zusammenhang wie folgt: „So, ‚socialism‘ – traditionally always a thing of the radiant future – appears in this region as old and dead as Assyria and Babylon, and the satisfaction of needs (the hope for an end to misery and suffering) is linked to unfreedom in the popular imagination here. This would compromise both freedom and happiness, the first associated with chaos and poverty, the second with servility and humiliation. (…) [W]hat matters is that hope seems to be outlawed in these ex-Sowjet type societies – with the concomitant social and political pathologies“ (Ryder/Tamás 2015).
11 Zur Entwicklung des Marxschen Denkens hin zu seinem reifen Spätwerk siehe sehr instruktiv Lindner 2013.
12 Bataille und seine „Philosophie des Exzesses“ als sozialistisch zu bezeichnen, ist womöglich zu sehr ein stretch dieses Begriffs. Er ist im Herzen vielmehr ein ungeläuterter Nietzscheaner, was ihn für so unterschiedliche postmarxistische Projekte wie die von Gilles Deleuze und Roberto Esposito interessant macht. Siehe Gangl 2012, insbesondere 151-165.
13 Beginnend mit Georg Lukacs, den Tamás als „Metaphysiker der Partei“ (209) bezeichnet, und in dessen Schriften durchaus noch ambig. Tamás’ Analyse der kommunistischen Parteien des Ostens im Spannungsfeld zwischen realer nachholender Modernisierung im Rahmen eines mit dem Westen in Konkurrenz stehenden staatskapitalistischen Entwicklungsmodells und der Notwendigkeit andauernder sich sozialistisch gebender Selbstlegitimation gehört mit zu den besten des Bandes. „In einer nicht sozialistischen Gesellschaft – und die bolschewistische Elite wusste das sehr wohl von Anfang an, wie Lenins letzte Schrift und selbst Lukacs’ Leninbuch von 1924 zeigen – war es nur politische Macht, die revolutionäre, ‚postkapitalistische‘ Gesellschaften in Wirklichkeit von den anderen unterschied. (…) Die Gesellschaft im Ganzen mochte keine proletarische Mehrheit haben, aber die Partei schon. Die letzte Kontrolle behielt die Partei. Das ist das Prinzip der Nomenklatura: Die Nomenklatura war eine komplexe Auflistung von zugewiesenen Posten und Funktionen, deren Besetzung verschiedenen Parteikomitees anvertraut wurde. (…) Die Partei war hauptsächlich eine Einrichtung zur Indoktrinierung, zur Erwachsenenbildung und zu – wie auch immer ritualisierter – ideologischer Debatte. Für die große Masse der Parteimitglieder brachte das keine Privilegien oder materielle Vorteile mit sich. (…) Ein Zusammengehörigkeitsgefühl und ein gemeinsamer Glaube wurden bewusst gefördert. Eine kommunistische Moral von Puritanismus, Bescheidenheit, Disziplin, Selbstverbesserung und Selbsterziehung (die von der klassischen Arbeiterbewegung ererbt wurden) war eine unleugbare gesellschaftliche Realität innerhalb der Partei, die mit einem verborgenen Elitebewusstsein einherging (…)“ (216-217).