- Vielleicht erweist sich der Brexit als doch nicht so umwälzend wie befürchtet (oder erhofft). Vielleicht verzögert sich die Bildung einer neuen britischen Regierung, wird die Kündigung der Mitgliedschaft hinausgeschoben, werden in den Hinterzimmern der Macht irgendwelche Kompromisse ausgehandelt … (was allerdings wiederum die Entfremdung von der Politik steigern würde). Dennoch, der Brexit ist eine Katastrophe, weil er nationalistischen und xenophoben Kräften Auftrieb gibt und weil er die Krise jeder linken Europa-Politik offenlegt, und zwar einer Pro-EU- wie einer Anti-EU-Position.
- Die Brexit-Kampagne bestand aus xenophober Angstmacherei, englischer Selbstüberschätzung und schlichtwegs Lügen. Das ist eine banale Feststellung. Die krasseste Lüge: England zahle 350 Millionen Pfund pro Woche an die EU, und dieses Geld könne nach einem Austritt für den NHS, den staatlichen Gesundheitsdienst verwendet werden. (Richtig ist: Wenn man den automatischen Rückerstattungsrabatt berücksichtigt, den England bekommt, beträgt die wöchentliche Nettoüberweisung etwa 180 Millionen; und diejenigen, die diesen Slogan geprägt haben, haben sich noch nie für den NHS eingesetzt, und das Versprechen ist schon am Tag nach der Abstimmung aufgekündigt worden.) Es bleibt trotzdem erklärungsbedürftig, wie eine solche Lüge sich im popularen Verstand festsetzen konnte. Auch die – jäh gestoppte – Karriere von Boris Johnson ist ein Lehrstück in Populismus. Die Rolle der Medien sollte nicht unterschätzt werden. Die «Sun» ist immer noch die grösste Boulevardzeitung Englands; und Zeitungen wie die «Daily Mail» und der «Daily Telegraph» haben immer noch Deutungsmacht. Dabei geht es nicht so sehr um die handfesten Meinungsartikel, sondern um die Kontinuität, mit der Themen zu «Problemen» erklärt werden, und um die Deutungsmuster, in denen diese «Probleme» dargeboten werden.
- Die Gegen-Kampagne war schwach, beschränkte sich weitgehend auf ökonomische Aspekte, mögliche wirtschaftliche Einbussen. Entsprechende Voraussagen waren allerdings notwendig ambivalent. Grundsätzlich verachtet die Londoner City Brüssel, fürchtet aber auch um einen Teil ihrer Pfründe im Eurogeschäft. Migration wurde nur als Problem, nicht als Chance diskutiert. Grossbritannien ist ja wegen seiner Abschreckungspolitik nicht mal von der kontinentaleuropäischen «Flüchtlingskrise» betroffen, sondern nur von der «normalen» Migration. Die Zahlen dazu sind läppisch und haben nur zur Hälfte etwas mit der EU zu tun. Das Argument, man gewinne mit dem EU-Austritt die nationale Souveränität zurück, wurde dagegen nicht in seiner Hohlheit bekämpft. Unbestritten blieben die zahlreichen EU-Mythen über angebliche Eingriffe in die nationale Gesetzgebung. Und es gab keine positiven Vorstellungen einer europäischen Zusammenarbeit. Das liegt auch (wieder) an den Medien, selbst an der BBC, die im krampfhaften Bemühen, sich unparteiisch zu geben, die Rahmenbedingungen der Debatte um Ökonomie und Migration akzeptierte.
- Die Abstimmung ging nicht wegen der lauwarmen Labour-Unterstützung verloren, sondern wegen der freudigen Tory-Zustimmung. Zwei Drittel der Tory-WählerInnen stimmten für den Brexit, sie tragen die Hauptschuld. Für sie ist Migration kaum je ein reales Problem der Gefährdung des Arbeitsplatzes, sondern sie sind snobistisch xenophob. Dass sie der «politischen Elite» einen Denkzettel verpassen wollten, ist die Kehrseite eines demokratischen Reformstaus in der britischen Politik, die sich seit der «glorreichen Revolution» von 1689 auf das Parlament als einzigen Ausdruck einer – allmählich nur in der Reichweite der Stimmberechtigten erweiterten – Demokratie beschränkt hat.
- Allerdings stimmten auch beinahe vierzig Prozent der Labour-WählerInnen für den Brexit, insbesondere in den nord- und mittelenglischen de-industrialisierten Gebieten und in den Zechengebieten in Wales. Es gibt die linke These, Brexit sei (auch) ein Aufstand der Armen, der Globalisierungsverlierer. «Es geht nicht um Rassismus, sondern um Klassenkampf», zitiert die WOZ eine linke Aktivistin. Das ist (ein bisschen) richtig, und es ist falsch. Zumindest ist es ein vollkommen verdrehter Klassenkampf. Der «Guardian» zitiert in einem Artikel einen jungen Waliser, der für den Brexit gestimmt hat, weil die EU Wales nie etwas gebracht habe. Dabei steht er neben einem mit EU-Geldern errichteten Umschulungszentrum für die durch die englische Regierung und die chinesische Konkurrenz arbeitslos gewordenen Stahlarbeiter. Auf eine entsprechende Rückfrage zitiert er jene auf Bussen durch die Lande gekarrte Lüge des britischen Nettobeitrags. Dabei war Wales als strukturschwaches Gebiet ein Nettoprofiteur der EU. Solche verwirrten Denkmuster sollten nicht als «Aufstand» nobilitiert werden. Es hat groteske Identifikationsversuche linker Intellektueller mit dem armen Proletariat gegeben. Ja, man muss die gegenwärtige verquere populare Alltagsphilosophie zur Kenntnis nehmen. Aber man muss sie zugleich zurückweisen und bekämpfen.
- Das Referendum hat im britischen politischen System nicht bindenden Charakter. Die englische Linke sollte es aus demokratietheoretischen Gründen trotzdem anerkennen, auch weil sonst das Ressentiment gegen die «politische Elite» weiter wächst. Chancen und Grenzen direktdemokratischer Instrumente beschäftigen ja auch die Schweizer Linke. Es ist eine dringliche Aufgabe, das empfindliche Gleichgewicht «unterschiedlicher Modalitäten der Demokratie» zu rekalibrieren, wie es Étienne Balibar in seinem neusten Buch «Europa: Krise und Ende?» vorschlägt.
- Labour-Chef Jeremy Corbyn vertrat eine differenzierte, vernünftige Position: grundsätzlich für die Mitgliedschaft in der EU, aber zugleich deren (bedeutende) Schwächen benennen. Kritisiert worden ist, er hätte während der Referendumskampagne nicht die EU-Austeritätspolitik ins Spiel bringen dürfen, weil das die Ja-Botschaft verunklärt habe. Aber wie kann man die EU diskutieren, auch positiv diskutieren, ohne zugleich ihre Austeritätspolitik zu diskutieren? Bedeutet nicht gerade die Ausblendung der hoch problematischen EU-Seiten, dass man es patronisierend und hilflos aufgibt, sich kritisch und aufklärerisch mit dem instinktiven Anti-EU-Kurs auseinanderzusetzen? Die jetzige Rebellion gegen Corbyn ist eine in London angezettelte Kabale, die genau die Entfremdung bestärkt, die die Labour-WählerInnen von der Londoner «Elite» empfinden. Der Putsch ist zum Teil von ParlamentarierInnen initiiert worden, die einen Teil ihrer Wählerschaft verloren haben – nicht wegen Corbyn. Dass Corbyn daran schuld sein soll, zeigt eine bemerkenswert zentralistische Denkweise, die immer noch auf eine Politik von oben vertraut. Corbyn ist es bislang weder gelungen, die Parlamentsfraktion noch einen Teil der WählerInnenschaft in seine Politik von unten einzubinden. Was eine solche Politik nur umso dringlicher macht.
- Viele linke Reaktionen in England wirken gegenwärtig, verständlich, ein bisschen wie Pfeifen im dunklen Wald. Der globalisierungskritische Ökologe George Monbiot meint im «Guardian», der Brexit sei eine Katastrophe, aber man müsse aus den Ruinen jetzt etwas aufbauen. Seine Vorschläge dazu verbleiben in wolkigen Allgemeinheiten. Am konkretesten ist bislang der Ökonom Paul Mason geworden, der, ebenfalls im «Guardian», ein Massnahmenpaket entwirft: Akzeptanz des Resultats mit dem Ziel, eine linke Politik ausserhalb der EU zu betreiben; schnelle Parlamentswahlen, dabei Koalitionsvereinbarungen von Labour mit den schottischen und walisischen NationalistInnen sowie den Grünen, eventuell mit Einräumung des Proporzwahlrechts und womöglich perspektivisch schottischer Unabhängigkeit.
- Solche, weitgehend richtigen, Vorschläge bleiben auf der institutionellen Ebene. Doch zusätzlich braucht es Vorschläge für eine linke Investitionspolitik sowie eine linke Steuerpolitik. Leider bleibt die linke englische Debatte vorläufig, wie schon die Anti-Brexit-Kampagne, national beschränkt. Dabei könnte gerade eine linke Steuerpolitik den Anschluss an andere progressive Kräfte in der EU herstellen. Eine in der EU mehrheitsfähige Transaktionssteuer ist bislang von London aus blockiert worden. Jetzt könnte eine transnationale Bewegung solche Initiativen wieder aufgreifen. Womit auch aus dem engen Kreis der institutionellen Politik ausgebrochen werden könnte. Die von Yanis Varoufakis repräsentierte DiEM25 könnte da eine wichtige Rolle spielen (mit vielen anderen zusammen)!
- Das Brexit-Nein in Schottland und Nordirland wirft wichtige konstitutionelle Fragen auf, für Grossbritannien wie für die EU. In diesem Zusammenhang sei wiederum auf Étienne Balibar verwiesen, der Europa als «Borderland» bezeichnet, in dem sich Grenzen, Zugehörigkeiten, Zuständigkeiten und Kompetenzen vielfältig überlagern. Die Frage regionaler Unabhängigkeitsbewegungen hat auch Podemos schon in die Krise geführt. Wie versteht sich eine reduzierte (oder erweiterte) EU? Was hiessen Vereinigte Staaten von Europa, und wie könnten sie aussehen? Tatsächlich: Die Ruinen müssen neu arrangiert werden.