Mit großer Spannung war sie erwartet worden: die historisch-kritische Ausgabe von Hitlers Buch Mein Kampf, die vom Münchner Institut für Zeitgeschichte erarbeitet worden ist. Schon Monate vorher war von einem großen Medienereignis die Rede und kein öffentliches Medium ließ es sich nehmen, mehr oder weniger umfassend Stellung zu beziehen. Eine gewaltige Aufmerksamkeit war und ist somit diesem Werk gewiss. Sie führte dazu, dass die erste Auflage mit 100.000 Exemplaren schon bald vergriffen war.
Einer, der im Team der Herausgeber mit dabei war, ist der Sozialpsychologe Prof. Dr. Klaus Weber. Eine völlig nachvollziehbare Wahl, wie ich meine, denn Weber ist seit Jahrzehnten ausgewiesener Faschismusexperte, der sich vor allem, wie er selber schreibt, mit der „Verflochtenheit von subjektiver Entwicklung und gesellschaftlichen Verhältnissen“ beschäftigt.
Aus den Erfahrungen der Arbeit in dieser Forschergruppe von Historikern und als Ergebnis eigener neuer Untersuchungen legt Weber jetzt ein Buch vor, dem ebenfalls größte Aufmerksamkeit zu wünschen ist. Denn es ist nichts weniger als eine kritische Analyse der Arbeit der Herausgeber des oben genannten Werkes als auch eine Untersuchung bislang erschienener namhafter Hitlerbiographien. Und außerdem, und das ist besonders zu betonen, werden Gründe dargelegt, warum die Beschäftigung mit dem Faschismus gerade heute brandaktuell ist und wie man dabei zu Werke gehen sollte.
Der der Kritischen Psychologie verpflichtete Autor ist einer, der sich nicht zufrieden gibt, der überall neue Fragen aufwirft und im Sinne von Ernst Bloch das Begreifen der Notwendigkeit des Werdens postuliert. Und man sieht sich an Bertolt Brechts großes Gedicht vom Zweifler gemahnt, in dem es heißt: „Seid ihr wirklich im Fluß des Geschehens? Einverstanden mit Allem, was wird? Werdet ihr noch? (…) Wem nützt es, was ihr sagt? (…)“
Weber stellt seinem Buch ein Vorwort voran, in dem er zunächst – leserfreundlich – seinen geplanten Gedankengang skizziert. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass niemand etwas mit Adolf Hitler zu tun haben wolle, jeder eine Selbstschutzwand aufgebaut habe, ja blockiert sei durch Adolf Hitler, obwohl doch dieser ein ganz normaler Mensch gewesen sei. Aber gerade einem anderen Menschen nach–zudenken, lehre nicht nur diesen zu verstehen, sondern auch sich selbst. Als „Meister der Selbstschutzmauer“ sieht Weber keinen anderen als den Historiker Christian Hartmann, den Hauptverantwortlichen für die kommentierte Ausgabe von Mein Kampf. Dieser und sein Team würden die Distanz zu Hitler suchen, nicht die Nähe, wie es notwendig sei. Hartmann und sein Team sähen in Hitler von Vornherein eine Unperson, die zu vernichten sei. Weber plädiert hingegen dafür, Hitlers Leben und Persönlichkeit ernst zu nehmen. Ihn zu widerlegen, wie es Hartmann versuche, sei nicht Aufgabe einer historisch-kritischen Ausgabe. „In Wahrheit hat Hartmann nichts verstanden von Adolf Hitler.“
Webers eigene Analyse auf der Grundlage der Kritischen Psychologie und anderer fundierter psychologischer Kritik beginnt folgerichtig mit einer Untersuchung der Arbeiten, die bereits zum Thema publiziert wurden. In den Fokus rücken dabei die tausendseitigen Biographien von mehreren renommierten Historikern, die über Hitler und sein Handeln geschrieben haben. Weber weist dabei nach, dass nirgendwo eine Analyse des Zusammenhangs von subjektiven Handlungsweisen Hitlers mit den objektiven historischen Verhältnissen vorliegt. Aber gerade die „Erforschung der inneren Gesetze der individuellen Vergesellschaftung“ (Holzkamp) wäre von besonderer Bedeutung.
Den Wert der ersten großen Biographie, der von Alan Bullock (1952), eines „wichtigen Buches“, sieht Weber darin, dass es zur „Entdämonisierung Hitlers“ beigetragen habe. Die Biographie von Joachim C. Fest (1973) erfährt von Weber hingegen heftige Kritik. Bei ihm handeln nicht die Menschen sowie die von Menschen gemachten Institutionen und gesellschaftliche Kräfteverhältnisse keine Rolle spielen. Sondern es agieren „Schicksale“ oder „andere übermenschliche, transzendente Entitäten“. Welche ökonomischen, politischen und sozialen Interessen den Faschismus ermöglichten und aus welchen Gründen wer mit wem zusammenarbeitete, bleibe bei Fest im Dunkeln.
Ein weiterer Biograph, Ian Kershaw (1998), sagt zu Hitlers Person und seiner vermeintlichen Größe nur sehr wenig, was er auch überzeugend zu begründen weiß. Auch hält dieser sich in Bezug auf psychologische Deutungen politischer Verhältnisse, Prozesse und Strukturen sehr zurück, was Weber ausdrücklich begrüßt. Dafür weise er auf eine zentrale Bedingung hin, um wesentliche Verhaltensweisen von Nazis zu erklären. Dazu habe er ein wichtiges Modell vorgelegt, um die Eskalation im Prozess der Vernichtung der Juden, der Sinti und Roma sowie der Homosexuellen zu erklären.
Volker Ulrich (2013) hingegen habe im Gegensatz zu Kershaw wieder die Person Hitlers stark in den Mittelpunkt gerückt. Er gehe als bürgerlicher Wissenschaftler davon aus, dass Menschen von Geburt an Eigenschaften hätten, die für ihr gesamtes Handeln verantwortlich seien. Gesellschaftlich bedingte Dispositionen bleiben außen vor.
Als Fazit hält Weber fest, dass keiner dieser Biographen in der Lage gewesen sei, wirklich zu verstehen, welche gesellschaftlichen Ordnungssysteme Hitlers Handeln bestimmt hätten. Wer Hitler und den deutschen Faschismus als Folge psychischer Dispositionen einer einzigen Person betrachte, was Kershaw zu Recht kritisiere, trage zu einer gewissen Bewunderung des Führers geradezu bei. Eine Biographie im Sinne der Kritischen Psychologie müsse nicht nur den Menschen im Blickwinkel haben, sondern die ganze Welt. Die „Mainstream-Psychologie“ habe – und darin sehe ich eine wesentliche Erkenntnis Webers – „in Bezug auf Biographieforschung, Person und Persönlichkeit absolut nichts anzubieten“. Wer den deutschen Faschismus begreifen wolle, der müsse immer Person und gesellschaftliche Verhältnisse zusammendenken.
In einem weiteren Kapitel befasst Weber sich genauer mit den Grundlagen der Kritischen Psychologie. Dabei bezieht er sich immer wieder auf Holzkamp, der „das Subjekt in seiner gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit“ sieht. Welche gesellschaftlichen Bedingtheiten bestimmen also Hitler und sein Verhalten? Weber denkt an die Rolle und Funktion der Kleinbürgerfamilie in Österreich-Ungarn, die Form der Beschulung, den Kirchgang, die Freunde usw. Außerdem wären zahlreiche sogenannte „Individualitätsgestalten“ im Umkreis Hitlers zu studieren unter dem Gesichtspunkt ihres Einflusses auf ihn. Das Individuum ist als vergesellschaftlichtes zu denken. Das, wie Marx es ausdrückt, „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ ist jeweils mit einzubeziehen.
Für Weber ist es wichtig, Hitler zu entmythologisieren. Nur so sei es möglich, demokratische Normalität nicht als absolutes Kontrastprogramm zum Faschismus zu sehen. Hitler sei zweifellos ein „strategischer und kluger Staatsmann“ gewesen, „der ein Konzept davon hatte, wie der Staat nach innen geführt und nach außen“ zu vertreten sei. Aber das wolle natürlich niemand hören. Man diskreditiere lieber einzelne Funktionsträger des Faschismus und gewährleiste damit gleichzeitig das Funktionieren der großen Maschine Kapitalismus. Weber schreibt: „Adolf Hitler war ein banaler, normaler Mann und Zeitgenosse.“ Viele würden das als Provokation empfinden, aber nur so gelinge ein realer Blick auf den Faschismus und Hitlers Rolle darin.
Ausführlich widmet sich der Autor in einem weiteren Kapitel der bereits angesprochenen Selbstschutzmauer. Jetzt geht es ihm aber darum, aufzuzeigen, dass Faschismus und Kapitalismus in einem engen Zusammenhang zueinander stehen (können). Unter der dünnen Zivilisationsschicht an der Oberfläche einer „demokratischen Gesellschaft“ würden sich völkische, rassistische und nationalistische Schichten verbergen.
In einem folgenden Kapitel unterstreicht Weber die Bedeutung der unter dem Titel Faschismus und Ideologie herausgegebene Aufsatzsammlung des Projekts Ideologie-Theorie (PIT), worauf keine Faschismusanalyse mehr verzichten kann. Hier werde am historischen Material gezeigt, wie die Nazis in die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse praktisch-ideologisch eingegriffen hätten, sodass sie für ihre Politik eine klassenübergreifende Zustimmung erhalten hätten.
Weber schließt seine Untersuchungen mit eigenen Erfahrungen zum virulenten Faschismus in seiner Heimatstadt Kolbermoor ab; diese sind außerordentlich beunruhigend.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Wer die kommentierte Ausgabe von Mein Kampf kritisch lesen, also auch erkennen will, wie bürgerliche Geschichtsschreibung überhaupt bei der Aufarbeitung des Faschismus funktioniert, und wer zudem daran interessiert ist, wie die Kritische Psychologie bei einer Biographie von Adolf Hitler zu Werke gehen würde, der wird diese Studie von Klaus Weber mit Gewinn lesen.
Klaus Weber: Adolf Hitler nach-gedacht. Psychologie, Person, Faschismus. Texte kritische psychologie 5. Argument Verlag, Hamburg 2016.
Udo Filthaut
Lieber Andreas Salomon
Ich kenne weder “Mein Kampf” des Institus für Zeitgeschichte (zu teuer) noch Klaus Webers Buch
“Adolf Hitler nach-gedacht” (noch gar nichts von gewusst), aber wenns so ist, wie Sie es beschreiben, dann könnte es ein superwichtiges Lehrbuch in den Auseinandersetzungen mit den heutigen – als populistisch zu kurz, wenn nicht sogar ganz falsch benannten – völkischen Neuauflagen sein.
Mir deucht, dass da K.W. sehr richtig liegt, wenn er meint das wir die Nähe suchen sollten. (und uns nicht in Distanzierungen – tja!- verirren, setz ich dazu) Ich erlaube mir mal, seine Erkenntnisse aufs HEUTE umzudenken, ohne dass ich das Buch kenne.
Vielleicht ist dieses Mauererrichten der Grund, warum die Linken überall in EU gegen diese Rechten so hilflos erscheinen.
Damit meine ich ganz gewiss nicht, dass wir auch nur einen Hauch von Verständniss für die haben – oder sogar etwas in Richtung Schulterschluss unternehmen sollten. Wie absurd wär dass denn?
Aber verstehen, was die diese babarischen Spiessbürger umtreibt, sollten wir wenigstens ein bisschen. Das Bekämpfen braucht auch dies als Grundlage. Auch mit antideutschen Schwurbelideologien können wir keinen Meter gewinnen.
udo filthaut
Franco Bellettini
Vielleicht verstehe ich das falsch , aber meiner Ansicht nach
war und ist der Faschismus immer die politische Alternative des
Kapitals in Krisenzeiten , und seine sadistische Dimension via
Psycholgie zu ” normalisieren ” , riecht mir zu sehr nach
postmodernem ” Humanismus ” . Das einem nichts menschliches fremd
sein sollte , sollte seit der Aufklärung ein Treppenwitz der
Geschichte sein . Wenn nicht , genügt ein Gespräch mit einem
beliebigen Passanten über Rassismus usw.
Es gibt Passagen die sich diametral wiedersprechen oder schlicht
Blödsinn sind : ” Hitler sei zweifelslos ein strategischer und
kluger Staatsmann gewesen , der ein Konzept davon hatte , wie der
Staat nach aussen und innen zu vertreten sei ” , und ” Adolf Hitler
war ein banaler , normaler Mann und Zeitgenosse “.
Zu Herrn Filhauts Kommentar : ” warum die Linken überall in
Europa gegen diese Rechten so hilflos erscheinen ” , müsste man
dazu bemerken , dass wenn sich herr Filhaut auf Sozialisten /
Sozialdemokraten bezieht , das Wort links ein Hohn ist , wenn nicht ,
dass er das bitte schön präzisiert. ( Das scheint eh das Problem von
Theorie.ch zu sein ) . Auch bei Herrn Filhaut scheint die Information
das in Südeuropa eine tatsächliche linke ( Spanien ) eine
mehr oder weniger ( Italien ) und eine immer
weniger ( Griechenland ) Politik sich langsam etabliert , die
Rechte doch zurückdrängt , noch nicht angekommen zu sein .