Links und rechts: Seit den Zeiten der Französischen Revolution werden so die politischen Kräfte charakterisiert. Die Linke steht für «Fortschritt», was auch immer das bedeuten mag, die Rechte für «Bewahrung», auch wenn darin etwas ganz anderes als das mit dem Begriff Gemeinte zum Ausdruck kommen kann. In den meisten westlichen Demokratien gab es bis vor kurzem zwei dominierende Volksparteien oder zwei Blöcke, die um die politische Macht kämpften und die sich in zumeist unregelmässigen Abständen in der Regierung abwechselten. Diese dokumentieren eine politische Spaltung in der Bevölkerung – die einen zählen sich eher zur Linken, die anderen eher zur Rechten.
Der alte Gegensatz zwischen links und rechts: Könnte das nicht auch eine Metapher auf die Opposition der Gatten in der traditionellen Familie sein? Mit dieser Frage hat der Berliner Politologe und Publizist Michael Jäger eine ganz neue Sicht auf das Parteiensystem in der Bundesrepublik Deutschland eröffnet und den Blick für das geweitet, was jenseits dieser Opposition möglich wäre.
Er nähert sich seiner Fragestellung sehr behutsam. Bereits in einem Aufsatz aus dem Jahr 1986 untersucht Jäger den Zusammenhang zwischen «Parteiensystem und Sexismus». Dieser und andere Aufsätze liegen nun gesammelt in seinem Buch Gender und Parteiensystem. Links-Rechts – das Problem der falschen Fronten vor. Jäger geht dem Wahlverhalten der Geschlechter in Deutschland seit 1919 nach, als dort mit der Weimarer Verfassung das Frauenstimmrecht eingeführt wurde. Als wesentliche Erkenntnis hält er fest, dass die Frauen bis 1972 überwiegend rechts gewählt hatten und dann einen radikalen Schwenk nach links vollzogen. Wie ist diese Wende im Wahlverhalten zu erklären? Jäger erklärt es mit der veränderten Rolle von Frauen in der patriarchalen Gesellschaft: Sie sehen sich vor allem für das Wohl der Familie verantwortlich. Die Verteidigung der patriarchalen Familie war denn auch ein zentraler Programmpunkt insbesondere der klerikalen Rechten (und ist es teilweise immer noch). Die antiklerikale Linke hingegen sprach sich für den staatlichen Eingriff in die Familie aus. Dies musste den eher konservativ gestimmten Frauen bedrohlich erscheinen, handelte es sich doch um eine Gefährdung ihrer eigenen Domäne.
Diese Beobachtung gilt auch für die Herrschaftszeit des Hitler-Faschismus. Jäger schreibt: «Die Unterstützung durch die Mehrheit der Frauen war den Nazis sicher, sobald sie glaubhaft gemacht hatten, dass es ihnen um die Zementierung der Frauenrolle in der Familie ging» (S. 70). Diese eherne Verbindung zwischen der Rechten und den Frauen zerbrach in Deutschland erst Anfang der 1970er-Jahre, zur Zeit der sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt. Was war geschehen? Zum einen hatte sich die deutsche Sozialdemokratie mit ihrem Godesberger Programm von 1959 vom Antiklerikalismus losgesagt, zum anderen veränderte sich das Bild der Familie. Mit der Entwicklung hin zur Kleinfamilie mit ein oder zwei Kindern wurde das patriarchale Familienmodell seines Sinns entleert. Bis dahin hatten die vielen Kindern das Leben der Hausfrauen bis an den Rand erfüllt. Was sollte jetzt daran noch verteidigt werden? Ausserdem zerbröckelte mit der zunehmenden Erwerbstätigkeit von Frauen auch das ökonomische Fundament dieses Familienmodells. Die Auseinandersetzungen mit den sich daraus ergebenden Widersprüchen waren zentral für das Erstarken der Frauenbewegung.
Und was hat das mit dem Parteiensystem zu tun? Jägers These lautet, wie bereits erwähnt, dass dieses System «eine Metapher auf die bürgerlich-patriarchalische Familie» ist (S. 85). Ein Hinweis auf den Zusammenhang der Rollen in der Institution Familie und der Institution Parlament soll dies verdeutlichen: «Die Linken im Parlament sind friedfertig, und die Frauen in der Familie sind friedfertig. Die parlamentarische Rechte ist der aggressivere Teil, der Familienpatriarch ist der weniger kompromissbereite Teil» (S. 84).
Das Bemerkenswerte an dieser Konstellation ist nun, dass sich das patriarchale System in Zersetzung befindet, während die parteipolitische Gegenüberstellung von rechts und links immer noch zu funktionieren scheint. Weshalb? Kurz gesagt: Die Konkurrenz zwischen linkem und rechtem Lager dient den Interessen des Kapitals – wie ihm auch der Fortbestand patriarchaler Verhältnisse lange Zeit gedient hat. Die moderne bürgerliche Demokratie kann nur existieren, wenn sie den Klassenantagonismus überwindet – sonst müsste sie daran zerbrechen. Antonio Gramsci, der Mitgründer der Kommunistischen Partei Italiens, auf dessen Analysen sich Jäger stützt, hat die «neue Politik» der herrschenden Klasse an der Wende zum 20. Jahrhundert unter die Lupe genommen und sie als «Politik der Klassenbündnisse, der politischen Blockbildung unter den Klassen» beschrieben (Zitat auf S. 122).
So steht im heutigen Parteiensystem «das Kapital immer auf beiden Seiten des parlamentarischen Frontsystems» und kann «daher von keiner Parlamentsseite aus angegriffen werden» (S. 123). Jäger fragt in einem anderen Aufsatz, worin dieses System wohl seinen Halt findet, denn es ist nicht ersichtlich, weshalb die dem System Unterworfenen sich mit diesem parlamentarischen Ringen zwischen links und rechts abfinden und ihre Sache nicht selbst in die Hand nehmen sollten. Seine ideologische Stütze erhält es durch die weiterhin wirksame Ideologie der bürgerlich-patriarchalen Familie, die auf der sozialen Spaltung zwischen Männern und Frauen beruht und zugleich deren Abhängigkeit voneinander betont. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass trotz hoher Scheidungsraten das Bild der streitenden, aber letztlich doch aufeinander angewiesenen Familie die Gesellschaft prägt. Durch solche Spaltungen und Wiederversöhnungen tritt nämlich ein anderer, ganz entscheidender Gegensatz, der zwischen Kapitaleignern und jenen, die kein ökonomisches Kapital besitzen (oder traditionell gesagt: der zwischen Bourgeoisie und Proletariat), ganz in den Hintergrund. Die bürgerlich-patriarchale Ideologie wird zu einem Mittel der «Entnennung» der real existierenden Widersprüche (S. 141).
Die Grünen waren einmal angetreten, um den Gegensatz von «links» und «rechts» aufzuheben. Ihre geschichtliche Aufgabe wäre es gewesen, die «falschen Fronten» des bestehenden parlamentarischen Systems zu überwinden, indem sie einen «dritten Block» bilden, der diesem Herrschaftsmechanismus entkommt. In diesem Sinne hatte der einstige DDR-Dissident Rudolf Bahro bereits Anfang der 1980er-Jahre für ein Bündnis zwischen Grün und Schwarz plädiert – dabei aber an etwas ganz anderes gedacht als der heutige grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, der erst kürzlich eine Koalition mit der CDU geschlossen hat. Bahro ging es darum, die wertkonservative Basis der Christdemokraten für eine Politik zu gewinnen, die «offen an die Wurzeln der ökologischen und zivilisatorischen Krise geht».[1] Davon sind die heutigen deutschen Grünen mehrheitlich allerdings weit entfernt.
In mehreren Fallstudien ist Michael Jäger auf die Politik der damals noch jungen grünen Partei eingegangen und hat dabei interessante Überlegungen herausgearbeitet, die auch noch einige Jahrzehnte später nicht nur von historischer Bedeutung sind. Dazu gehören seine Untersuchungen zu einer Politik wechselnder Mehrheiten. In jüngerer Vergangenheit gab es dazu einen kurzzeitigen Versuch im bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen, der dann aber nicht weiter verfolgt wurde.
Für schweizerische Augen und Ohren ist das keine neue Botschaft: Politik in einer direkten Demokratie beruht zu einem beachtlichen Teil auf solchen wechselnden Mehrheiten (auch wenn jetzt SVP, FDP und die führenden Kräfte in der CVP versuchen, wieder verstärkt Blockpolitik zu betreiben). In Deutschlands repräsentativer Konkurrenzdemokratie ist das aber noch immer ein gewagter Gedanke. Wer wäre beispielsweise auf die Idee gekommen, eine Fortsetzung der grün-roten Landesregierung in Baden-Württemberg zu propagieren, die sich ihre Mehrheiten fallweise bei der CDU oder der FDP suchen müsste? Deren Verweigerung wäre einer Stärkung der rechtspopulistischen «Alternative für Deutschland» gleichgekommen, die nun erstmals in den Stuttgarter Landtag eingezogen ist. Das hätten sich weder Christ- noch Freie Demokraten leisten können. Doch die Grünen haben sich anders entschieden.
Die Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen zwischen einem dem Kapitalismus innewohnenden Zwang zum Wachstum und der ökologischen Krise, zwischen dem Wohlstand der einen und der Armut der anderen, zwischen imperialer Politik einerseits und den Flüchtlingsströmen auf der anderen Seite sowie eine daraus folgende Neuformierung und Neuformulierung der Politik spielt heute bei grünen, geschweige denn sozialdemokratischen Parteien Mitteleuropas kaum noch eine Rolle. Angesichts wachsender Unsicherheiten überzeugt jedoch eine Politik des «Weiter so» immer weniger. Stattdessen suchen die Verunsicherten Halt bei Rechtspopulisten, die ihnen Sicherheit versprechen.
Wir stehen vor der Frage, wie sich die Kettung des politischen Systems an die Interessen des Kapitals auflösen lässt, wie eine alternative Politik formuliert werden kann, die über die Grenzen der linken und grünen Milieus hinaus Gehör findet. Zur notwendigen intellektuellen Auseinandersetzung mit dieser Frage leistet das Buch von Michael Jäger einen wichtigen Beitrag. Es zeigt, wie stark die Ideologie des Kapitals im Leben der Menschen, in ihren familiären Beziehungen verankert ist. Es zeigt aber auch die Schwachstellen der bürgerlich-patriarchalen Familienideologie auf und macht Mut, diese Auseinandersetzung nicht zu scheuen.
Gerade Michael Jäger tut dies seit Jahren in hervorragender Weise. Als freier Mitarbeiter der seit 1990 bestehenden deutschen Wochenzeitung der Freitag hat er in den vergangenen Jahren einen Blog geführt, der sich mit den Fragen nach einer «Anderen Gesellschaft» befasst. Seine Beiträge auf www.freitag.de/autoren/michael-jaeger sind höchst lesenswert! Wie überhaupt der Freitag ein sehr spannendes publizistisches Projekt ist, dem es über die gedruckte Zeitung hinaus immer wieder gelingt, die gesellschaftlichen und politischen Debatten in Deutschland mittels einer sehr lebendigen Internet-Community anzuregen. Dies alles macht der Spiegel-Erbe und Publizist Jakob Augstein möglich, der die Wochenzeitung vor einigen Jahren vor dem Aus retten konnte. Sein intellektuelles wie finanzielles Engagement hat sich gelohnt und es ist höchste Zeit, dass diese Wochenzeitung auch hierzulande mehr zur Kenntnis genommen wird (www.freitag.de).
Michael Jäger: Gender und Parteiensystem. Links-Rechts – das Problem der falschen Fronten. KANN-Verlag, Frankfurt/M. 2015, 336 Seiten.
[1] Rudolf Bahro: Pfeiler am anderen Ufer. Beiträge zur Politik der GRÜNEN von Hagen bis Karlsruhe. Zeitschrift BEFREIUNG, Berlin 1984, S. 65.