Die „Lage des Marxismus“ – Thema dieser Tagung – war noch nie so gut wie jetzt, könnte man erfreut ausrufen. Frankreichs konservativer Ex-Präsident Sarkozy ließ sich nach der Lehman-Pleite im September 2008 ostentativ bei der Lektüre von Marx’ „Kapital“ fotografieren. Ähnlich kokett fand der deutsche Finanzminister der Großen Koalition, Peer Steinbrück, beim Blick in den „Abgrund“ des Finanzdesasters 2008 auf einmal „gewisse Teile von Marx’ Denken gar nicht so schlecht“ (so zitiert ihn Rachman 2012: 14). Der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Bockenförde konstatiert nach einer grundlegenden Kritik am „inhumanen Charakter des Kapitalismus“ und nach einem Plädoyer für das Prinzip der Solidarität, dass man sich „der Aktualität der Prognose von Marx nicht entziehen“ kann (Süddeutsche Zeitung, 24. April 2009). Man hat sich also 1989 von Marx verabschiedet, aber zwanzig Jahre später kommt Marx wieder.
Dem akademischen Marxismus kommt erst recht entgegen, dass die UNESCO das „Kommunistische Manifest“ von Marx und Engels und den ersten Band des Kapital 2013 in die Liste des „Memory of the World“ aufgenommen hat. Die Nachdenklicheren unter den Herrschenden lesen also „das Kapital“ – zwar nicht, um sich mit dem „furchtbarsten missile“ auszurüsten, „das dem Bürger je an den Kopf geworfen“, wie Marx das „Kapital“ in einem Brief an Johann Philipp Becker vom 17. April 1867 (MEW 31: 541) bezeichnet, aber doch neugierig interessiert.
Die Laune wird auch nicht schlechter, wenn man die vielen zerknirschten Kommentare über die tiefste Weltwirtschaftskrise seit 1929, den Einsturz der neoliberalen Selbstgewissheiten und die bissigen und sarkastischen Bemerkungen über den Zustand der ökonomischen Theorie und das indignierte Kopfschütteln über die Vergabe der Wirtschaftsnobelpreise beobachtet. „Die Krise entwickelt sich zu einer Selbstbewusstseinskrise des politischen Konservatismus“, schreibt der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher am 15.8.2011. Keine Überraschung also, dass Kapitalismuskritik sogar beim Weltwirtschaftsforum von Davos angekommen ist. Dessen Geschäftsführer Klaus Schwab konstatierte vor etwa zwei Jahren ein wenig resigniert: „Das kapitalistische System passt nicht mehr in die Welt“ (Financial Times Deutschland, 26. Januar 2012). Die ganz unerwartete Begründung liefert der Papst Franziskus im November 2013 in seinem apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“: „… wir müssen heute ‚Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der Disparität der Einkommen‘ sagen. Diese Wirtschaft tötet. Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte an der Börse Schlagzeilen macht. Das ist Ausschließung.“ (Papst Franziskus, zit. in Junge Welt vom 28.11.2013.)
Kein Wunder, dass in dieser Lage Marx’ Analyse der kapitalistischen Krisen auf Interesse stößt. Zum Triumph gibt es dennoch keinen Anlass, linke Rechthaberei ist in der „Selbstbewusstseinskrise“ der Rechten nicht angebracht, das Gefühl der Selbstbestätigung wäre irreführend, auch wenn Schirrmacher schreibt, „… dass die gegenwärtige ‚bürgerliche‘ Politik (nicht nur – EA) falsch ist, sondern, viel erstaunlicher, dass die Annahmen ihrer größten Gegner richtig sind“ (ebenda). Denn die Probleme, die heute von einer modernen Kritik der Politischen Ökonomie theoretisch zu bewältigen sind, bleiben eine gewaltige Herausforderung.
Eine „Kritik der Politischen Ökonomie“ – so lautet ja der Untertitel des Marx’schen Hauptwerks, des „Kapital“ – verlangt ja auch heute erstens die intensive Beschäftigung mit dem Kritisierten, also die immanente Kritik, zweitens die ideologiekritische Auseinandersetzung durch Ein- und Zuordnung des Kritisierten zu Schulen, Strömungen, dem Zeitgeist, drittens die materialistische Kritik, die in theoretischen Ausführungen auch die materiellen Verhältnisse, die sie bedingen, offenlegt und so viertens der praktischen Kritik und kritischen Praxis zugänglich macht. Gerade in der systemischen Krise, die alle Aspekte der gesellschaftlichen Reproduktion berührt, ist die kritische Analyse in diesem umfänglichen Sinn gefordert, wie zu Marx’ und Engels’ Zeiten, so auch im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Denn der Papst hat erschütternd Recht: „Diese Wirtschaft tötet“. Wenn dies nicht zur kritischen Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen heute herausfordert!
Es dürfen also nicht nur die Krisen von Geld, Kapital und Arbeit thematisiert werden. Diese befanden sich zweifelsfrei im Zentrum der Marx’schen Kapitalismus-Analyse. Doch deren „Alleinstellungsmerkmal“ war niemals in erster Linie die Krisenanalyse. Seit dem Beginn des Industriezeitalters werden regelmäßig 7-10-jährige Krisenzyklen vermerkt. Diese sind von den zeitgenössischen kritischen Ökonomen analysiert worden, von David Ricardo, Saint-Simon und anderen. Marx hat sich darauf berufen und aus dem Fundus der Krisenanalysen seiner Zeit geschöpft, nachzulesen in den „Theorien über den Mehrwert“ (MEW 26). Anders als die zeitgenössischen Krisentheoretiker jedoch rückte Marx die Analyse der Akkumulationszyklen in eine historische Perspektive, in der auch die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise möglich erschien.
Und so erwarteten Marx und Engels in den Handelskrisen ihrer Zeit immer auch die Systemveränderung, das Ende der kapitalistischen Produktionsweise. Der dialektische Umschlag sollte nicht durch irgend einen sozialen oder ökonomischen Krisenmechanismus erfolgen, sondern durch die praktische Tat des Proletariats, des revolutionären Subjekts. Im Denken von Marx und Engels war die historische Dialektik also keine subjektlose Bewegung, sondern Resultat sozialer Auseinandersetzungen, von Klassenkämpfen also. Schon im kommunistischen Manifest hatten Marx und Engels hervorgehoben, dass im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft ihr „Totengräber“ heranwächst, der sie zu überwinden vermag. Also ist der dialektische Umschlag nicht Folge eines teleologischen Prinzips oder einer sturen historischen Dynamik sondern das Resultat gesellschaftlicher, revolutionärer Praxis.
Doch solange die bürgerliche Gesellschaft existiert, sind die Geldverhältnisse und die Teilung der Arbeit unter die Mitglieder der Gesellschaft Bedingung des Lebens der einzelnen, bestimmen sie die Herrschaftsverhältnisse zwischen den Geschlechtern, zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, zwischen Stadt und Land und vor allem zwischen Lohnarbeit und Kapital. Mit ihrer Arbeit formen die Menschen auch die Natur um, mit einer im Laufe der ökonomischen und technischen Entwicklung des modernen Kapitalismus immer ausgedehnteren, heute planetarischen Reichweite. Daher sind auch die Grenzen, die heute der Akkumulation des Kapitals, der Wirtschaft und ihrem Wachstum gesetzt sind, „planetary boundaries“ (Rockström u.a. 2009). Die sind inzwischen das Thema der Geosystemforschung, der Klimawissenschaft und der ökologischen Ökonomie und Politik, weil die Menschheit es geschafft hat, ein neues Erdzeitalter zu formen, und aus dem Holozän, aus der Warmzeit der vergangenen etwa 11.000 Jahre, heraus- und seit der industriell-fossilen Revolution in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in das vom Menschen gestaltete Anthropozän einzutreten. Das ist bereits die Vorbereitung auf das Atomzeitalter, das vor einem Dreivierteljahrhundert mit der Entdeckung der Kernspaltung begann und in den 1980er Jahren mit der Pershing- und Cruise missile-Nachrüstung den von E.P. Thompson so bezeichneten „Exterminismus“, die Selbstvernichtung der Menschheit, am Horizont des Möglichen erkennen ließ. Die Erde können die Menschen im Anthropozän umgestalten wie Geologen irritiert feststellen müssen. Sie sind sogar in der Lage, sich selbst auszulöschen. Die als Fortschritt gefeierte Entwicklung der Produktivkräfte hat auch die Destruktivkräfte beflügelt, bis zur möglichen Selbstvernichtung in der nuklearen Katastrophe.
Mit Marx und Engels – und mit Antonio Gramsci – wissen wir, dass die Menschen zu Veränderungen, die über individuelle Erlebnisse oder menschheitsgeschichtliche Großtaten hinausreichen, nur in der Lage sind, weil sie in ganz bestimmter sozialer Formation, in der kapitalistischen Gesellschaftsformation nämlich, handeln. Wie beherrschend diese Formation ist, hat sich zuletzt 1989 herausgestellt, als ihre Repräsentanten den Sieg im Kalten Krieg feierten und das Ende der Geschichte verkündeten. Das war Unfug, denn heute müssen wir nicht nur erschrocken mit Papst Franziskus zur Kenntnis nehmen, dass „diese Wirtschaft tötet“, sondern dass die kapitalistische Produktionsweise sogar Erdgeschichte macht, das von Geowissenschaftlern so bezeichnete Anthropozän sollte daher besser und richtig Kapitalozän heißen. Und dies ist ein mehr als triftiger Grund, sich der Kapitalismusanalyse zu widmen und dazu die Schriften von Marx und Engels und die Tradition des Marxismus kritisch zu studieren. Mit Marx also zur Kritik des Kapitalozän.
Krisenzyklen, Kipppunkte, Kollaps
Man kann auch vereinfacht sagen: Wir müssen eine Erklärung für die Krise von Geld, Arbeit, Natur finden, und dafür bietet die Theorie von Marx und Engels geeignete Ansätze. Mit ihnen lässt sich zeigen, dass die Ursachen und Folgen der Krisen der kapitalistischen Produktionsweise in doppelter Weise wirken: Im Verlauf des Akkumulationsprozesses von Kapital verändern sich erstens die Wertgrößen in zyklischem Prozess. Die Wertbildung schwankt, daher auch die Verwertung von Kapital. Die Profite sind „returns to capital“ und gemessen am Kapitalvorschuss bilden sie die Profitrate, die für die Entscheidungen der Kapitaleigner die wichtigste Orientierungsgröße darstellt. Das sind reversible Größen; der Kapitalwert muss zu sich selbst um den Profit gesteigert zurückkehren.
Nicht alle Größen im Wertbildungs- und Verwertungsprozess sind reversibel. Eine Seite der Akkumulation von Kapital ist dessen Konzentration und Zentralisation und damit auch die Konzentration von ökonomischer Macht, die auch ihre politischen Auswirkungen hat. Die Konzentration von Reichtum führt zur Polarisierung der Einkommens- und Vermögensverteilung, die in allen Gesellschaften weltweit beobachtet werden kann. Selbst die Verteilung zwischen den Nationen hat kumulative Wirkungen, die reversible Prozesse behindern. Das Theorem der komparativen Kostenvorteile der Freihandelstheorie verlangt Reversibilität, die aber in der Wirklichkeit des Welthandels, wie Marx schon in seiner Rede über den Freihandel 1848 (MEW 4) ausführte, nicht gegeben ist. Chang hat in seiner Kritik am Freihandelsdogma gezeigt, dass Reversibilität auch bewusst verhindert werden kann, indem die erfolgreichen Konkurrenten dafür sorgen, dass die Nachzügler nicht nachfolgen können; sie werfen die Leiter um, auf der ein Aufstieg möglich wäre.
Die Akkumulation von Kapital ist aber zweitens ein Prozess der irreversiblen Transformation von Stoffen und Energien zur Herstellung von Gebrauchswerten. Die Natur wird irreversibel im kapitalistischen Akkumulationsprozess verändert und zwar immer in die Richtung eines Anstiegs der Entropie der Geosysteme des Planeten Erde. Darauf verweist die thermodynamische Ökonomie von Nicolas Georgescu-Roegen (1971; 1986). Freie Energie zur Leistung von Arbeit wird verbraucht; die Reserven der nützlichen Rohstoffe werden aufgezehrt. Inzwischen macht sich der „Peak everything“ (Heinberg 2009) geltend: der Höhepunkt der Verfügbarkeit von Öl oder Eisen, von seltenen Erden für die mobile Kommunikation oder von Sand zum Bauen unserer Immobilien ist erreicht oder überschritten. Dafür reichern wir die Sphären des Planeten mit immer mehr Schadstoffen an, vor allem die Erdatmosphäre mit Treibhausgasen. Das sind die hoch-entropischen Folgen unseres Verbrauchs von niedrig-entropischer Arbeitsenergie.
Eine Kritik der politischen Ökonomie wäre überflüssig, wenn die kapitalistische Entwicklung erstens krisenfrei verlaufen würde und wenn die kumulativen Wirkungen der Stoff- und Energietransformation irrelevant wären, wenn es keine „Kipppunkte“ der planetarischen Systeme geben würde, an denen, wie Friedrch Engels in der „Dialektik der Natur“ (MEW 20: insbes. 348ff.) ausführt, quantitative Veränderungen in qualitative Transformationen von Systemen, auch von planetaren Systemen in neue Aggregatzustände umschlagen können. Die „Kipppunkte“ des Erdsystems beschäftigen heute Naturwissenschaftler (z.B. Rockström u.a.; Schellnhuber, Crutzen, das Umweltbundesamt), ohne diese Entwicklung in den größeren Zusammenhang der „Dialektik der Natur“ zu stellen oder den Zusammenhang zwischen Kipppunkten der Erdsysteme und von Gesellschaftssystemen und der Produktionsweise in Erwägung zu ziehen.
Krise und Kritik stehen in einem engen Verhältnis zueinander. Wer die Krise leugnet, braucht sich mit der Kritik nicht anzustrengen. Das ist die Linie der Ökonomen des „Mainstream“, gerade auch an den Universitäten. Die freien Marktkräfte finden ein ökonomisches Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage und daher gelten kapitalistische Marktwirtschaften grundsätzlich als stabil und krisenfrei – bis die Realität der Kapitalakkumulation das Gegenteil zeigt. Die historischen, manchmal desaströsen Krisen (die Weltwirtschaftskrise nach 1929, die Schuldenkrise der „Dritten Welt“ in den 1980er Jahren, die Finanzkrise der 1990er Jahre oder die Immobilien-, Finanz- und Staatschuldenkrise und Eurokrise heute) werden zwar nicht geleugnet. Aber sie werden auf vermeidbare wirtschaftspolitische Fehler, auf übermäßige Belastungen, unvorhersehbare externe Störungen und auf bloße Zufälle oder unglückliche Verkettungen von eigentlich unabhängigen Ereignissen zurückgeführt.
Marx hingegen fragt, warum und wie sich regelmäßig die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise bis zum krisenhaften Eklat zuspitzen, wie sich die Spannungen aus „dem Widerstreit aller Elemente des bürgerlichen Produktionsprozesses“ im „großen Weltmarktsungewitter“ einer Krise entladen (MEW 13: 156) und welche Klassenkonstellationen und wie sie so verändert werden, dass der Akkumulationszyklus einen neuen Aufschwung nehmen kann. „Die Krisen“, so schreibt Marx im dritten Band des „Kapital“ (MEW 25: 277), „sind immer nur momentane gewaltsame Lösungen der vorhandnen Widersprüche, gewaltsame Eruptionen, die das gestörte Gleichgewicht für den Augenblick wiederherstellen …“.
Ware und Geld können sich beispielsweise trennen, schreibt Marx zu Beginn des „Kapital“ und sie können über längere Zeiträume oder Wegstrecken getrennt marschieren. Dann kann sich der Wert der Ware nicht in Geld realisieren oder umgekehrt kann das Geld nicht in Ware rückverwandelt werden. Der Ausbruch der Krise wird möglich. Die Analyse der Wirklichkeit der Krise des Geldes heute erfordert allerdings mehr als diese schlichte Feststellung. In der Analyse der gegenwärtigen Finanzkrise sind die historischen Besonderheiten ebenso zu berücksichtigen, wie dies Marx und Engels in ihren Analysen im 19. Jahrhundert auch taten.
In der kapitalistischen Produktionsweise ist die Profitrate auf das vorgeschossene Kapital die zentrale Steuerungsgröße. Daher gerät die Akkumulation vor allem dann ins Stocken, wenn die Profitrate fällt, insbesondere wenn sie geringer wird als die Zinsen für Kredite und die Renditen auf Finanzanlagen. Das war zu Marx Zeiten weniger wichtig als heute im globalisierten, finanzgetriebenen Kapitalismus. Es geht also erstens um die Verteilung zwischen Arbeitseinkommen und Mehrwert, der aber zweitens zwischen den Beziehern von Profit und Zinsen (sowie Grundrente) umkämpft wird. Das darf man sich nicht als ein Nacheinander vorstellen, so als ob zunächst „der Kuchen“ des Sozialprodukts von den produktiven Arbeiterinnen und Arbeitern gebacken und danach verteilt würde. Die Verteilung ist ein Moment des Produktionsprozesses und sie beginnt schon bei der Verteilung der Produktionsmittel, die sich ganz im Eigentum der Kapitalistenklasse befinden. Um die Verteilung werden Klassenkämpfe geführt, und die Staaten sind mit ihrer Einkommens-, Steuer- und Fiskalpolitik mitten drin, zumeist als Parteigänger der Kapitalistenklasse und daher gegen die Arbeit.
Dabei wird Eigentum durch Arbeit gebildet. Das ist die Überzeugung der klassischen politischen Philosophie seit John Locke. Die Form der Arbeit ist allerdings im Verlauf der Krise einem vielfältigen Wandel unterworfen, den Marx zu seiner Zeit ausführlich beschreibt. Dazu lohnte sich auch heute noch, das 13. Kapitel des ersten Bandes des „Kapital“ über die große Industrie zu lesen. Vieles darin ist auch heute noch aktuell. Doch einige Entwicklungen konnte Marx nicht voraussehen. Heutzutage ist die Arbeitslosigkeit nicht nur konjunkturell sondern vor allem strukturell bedingt. Daher wird man sich nicht nur mit der von Marx analysierten zyklischen Reservearmee auseinandersetzen müssen, sondern auch mit der von David Ricardo so bezeichneten „redundant population“. Die global Überflüssigen, die Exkludierten lassen den Bereich der informellen und prekären Arbeit immer mehr im Vergleich zu dem prä-fordistischen 19. Jahrhundert wachsen.
Auch müssen wir heute berücksichtigen, dass Eigentum nicht „erarbeitet“ werden muss, sondern als fiktives Kapital auch „originiert“ werden kann. Es existiert in der Gestalt von durch die Rechtsordnung gesicherten Wertpapieren (securities), die eine Rendite einbringen. Solange dies der Fall ist, haben die Wertpapiere Wert und können auf liberalisierten Finanzmärkten weltweit verkauft werden. Stockt der Fluss der Rendite, müssen Wertpapiere abgeschrieben werden, dann bricht die Krise aus, und zwar als Finanzkrise. Die Eigentümer von fiktivem Kapital, das Marx im 5. Abschnitt des 3. Bandes des „Kapital“ untersucht, wollen dies natürlich nicht wahrhaben und tun daher alles, um den Fluss der Renditen auf ihre dubiosen Wertpapiere in Gang zu halten. So lange dies gelingt, platzt die Blase nicht und der Knall, der das Ende der Fiktion verkündet, bleibt aus. Damit dies so ist, werden Wertbestandteile von der Arbeiterklasse zum Kapital und speziell zu den Finanzvermögen umverteilt. Das ist Akkumulation durch Enteignung („accumulation by dispossession“).
Heute ist die Austerity-Politik für die Enteignung und somit für die Fortsetzung des Illusionstheaters verantwortlich, in dem freilich die Kürzungen von Löhnen und Renten, die Einschnitte im Sozialsystem und die erhöhten Steuern auf Masseneinkommen, die Gebührensteigerungen etc. ganz real sind. So werden Mittel in den Strom der Renditezahlungen an Finanzvermögen, an Banken und Fonds gelenkt. Die Krise entsteht also, weil sich die Fiktion des mit der Rendite schwänzelnden fiktiven Kapitals als solche herausstellt und selbst die Akkumulation durch Enteignung die Lücken in den Transfers zu den Finanzvermögen nicht mehr stopfen kann. Die Krise von Geld und Finanzen kann nur durch staatliche Intervention bewältigt werden und zwar auf Kosten der Mehrheit der Menschen ohne Geldvermögen oder Kapitalbesitz, die dazu herangezogen werden, für die Krise der fiktiven Finanzen zu zahlen.
Die Erfahrung mit der Austerity machen gegenwärtig die europäischen Schuldnerländer unter dem Druck der Troika aus Europäischer Zentralbank, Europäischer Kommission und Internationalem Währungsfonds. Austerity ist autoritär, antidemokratisch, heute wie vor drei Jahrzehnten in der „Dritten Welt“, wie in den 1990er Jahren in Asien und wie in Mexico 1994 oder Argentinien 2001.
Aber die Politik der Austerity auf der Grundlage des „Konsens von Washington“ löst die Krise nicht. Denn es werden nicht nur die Kosten für das Kapital gesenkt, auch die kaufkräftige Nachfrage wird zusammengestrichen. Die zerstörerische Kraft der Krise wird prozyklisch verstärkt, das ist gegenwärtig die europäische Tragödie.
Die Krisen sind aber nicht nur zerstörerisch. Sie sind zugleich eine Art „Jungbrunnen“. Denn die Bedingungen eines neuen Aufschwungs der Akkumulation werden bereitet, die Voraussetzungen für den Anstieg der Profitrate werden geschaffen. Die Einkommensverteilung wird zu Ungunsten der Lohnabhängigen geändert und es werden Versuche gestartet, die politische Macht zu Gunsten des Kapitals umzuverteilen, auch durch technische und organisatorische Innovationen, die die Produktivität heben. Dies ist das große Thema Joseph A. Schumpeters. Ohne „schöpferische Zerstörung“ im Verlauf der Krise gäbe es keine Erneuerung des Kapitalismus. Er kollabiert nicht, sondern erneuert sich. Die Erneuerung ist aber nur möglich, wenn in Kauf genommen wird, dass die Ausbeutung von Menschen und Natur zunimmt. Die „schöpferische Zerstörung“ umschreibt daher nicht nur einen Prozess, in dessen Verlauf das Alte verschwindet und das Neue hervortritt, sondern einen grundlegenden Widerspruch zwischen Natur und Gesellschaft. Die ökonomische, die gesellschaftliche Krise wird überwunden, dadurch dass die Natur an den Rand des Kollaps gebracht wird.
Die zyklischen Krisen des Kapitals sind demzufolge alles andere als die Vorboten eines Zusammenbruchs. Auf diesen kann man so lange warten, bis die Erde in die Sonne fällt, sagte Rosa Luxemburg, ein Wort von Friedrich Engels aus der „Dialektik der Natur“ (MEW 20: 324) aufgreifend. Was für die zyklischen Krisen zutrifft, lässt sich für die kumulativen Krisen an den Kipppunkten systemischer Stabilität nicht sagen. Immer mehr Naturwissenschaftler halten den ökologischen und in dessen Gefolge den sozialen Kollaps von Gesellschaftssystemen für möglich (Diamond; Tainter; Ehrlich und Ehrlich etc.). Schumpeter hat auf fatale Weise Recht: Der Kapitalismus ist schöpferisch und kann sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf der zyklischen Krise ziehen. Doch gelingt das nur durch Zerstörung, durch Vernichtung gesellschaftlicher Strukturen, wenn sie der Akkumulation von Kapital hinderlich sind und vor allem durch Zerstörung der Natur des Planeten bis zu deren Kollaps.
Der Doppelcharakter allen Wirtschaftens
Die zyklische Krise des Kapitals wäre nicht so dramatisch, würde sie nicht durch die Auswirkungen der irreversiblen Stoff- und Energietransformationen in der Natur, also durch die Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnissen verstärkt. Wie müssen diese interpretiert werden? Die erste und verbreitete Weise ist die christliche; die Natur ist vom Schöpfer geschaffen. Der Mensch gehört als „Krone der Schöpfung“ dazu und kann sich nur in Demut in den göttlich vorgegebenen Rahmen einfügen und der biblischen Aufforderung Folge leisten, sich die Erde untertan zu machen. Die zweite Möglichkeit ist die Interpretation der Natur als einer von den Menschen selbst diskursiv geformten Natur, die außerhalb der menschlichen Diskurse nicht wirklich existent ist. Nur insofern wir die Natur wahrnehmen und ihr sprachlich Ausdruck verleihen, ist sie existent. In der dritten Sichtweise wird Natur wie andere Werte auch von Menschen „originiert“. Natur ist in dieser den Neoliberalen eigenen Vorstellung im wesentlichen „Naturkapital“, das als solches verwertet werden kann. Dies ist die Grundlage für die Originierung von Emissionsrechten für Treibhausgase innerhalb des Europäischen Emissionshandelssystems und für den Handel mit Verschmutungszertifikaten auf den globalen Finanzmärkten. Auch von der Weltbank und Emissären der Großbanken werden Konzepte der Originierung von Werten wie PES (Payments for Ecosystem Services) oder TEEB (The Economics of Ecosystems and Biodiversity) propagiert. Die Natur bekommt sozusagen eine zweite papierene Haut in der Gestalt eines handelbaren Wertpapiers.
Viertens wird davon ausgegangen, dass Natur produziert wird, sie wird von Menschen mit und in ihrer Arbeit gemacht. Dabei werden die Menschen erst, wie Friedrich Engels in der „Dialektik der Natur“ ausführt („Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“, MEW 20: 444ff.), zu Menschen als soziale Wesen mit einer inneren Natur. Die äußere Natur wird als „spatial and temporal fix“ (Harvey) von Menschen unter spezifischen gesellschaftlichen, heute kapitalistische Bedingungen produziert. Die von Menschen gemachte und beherrschte Natur wird mit dem Fortschritt der Akkumulation von Kapital immer weiter ausgedehnt und die „natürliche Natur“ weicht dementsprechend zurück.
Dieser Prozess wird durch die Steigerung der Produktivität der Arbeit befördert. „In demselben Maß, worin die Industrie vortritt, weicht (die) Naturschranke zurück“, resümiert Marx im „Kapital“ (MEW 23: 537), d.h. die Produktion von Überschuss in der gesellschaftlichen Form des Profits überschreitet die Grenzen, die biotische Energien und daher das natürliche Raum- und Zeitregime setzen.
Diese dehnen sich mit der steigenden Produktivität der Arbeit. Denn „dieselbe Arbeit ergibt … (zwar – EA) in denselben Zeiträumen stets dieselbe Wertgröße, wie immer die Produktivkraft wechsle. Aber sie liefert in demselben Zeitraum verschiedene Quanta Gebrauchswerte …“ (MEW 23: 61) und hat daher auch einen unterschiedlich großen Naturverbrauch, einen unterschiedlich großen „ökologischen Fußabdruck“. Steigt die Produktivität, sinkt mit der steigenden Warenmasse, die die Fabrikhallen verlassen, der Wert der einzelnen Ware. Immer mehr Computer, und jeder einzelne immer billiger.
Zunächst entsteht so ein in sich kohärentes System. Die Beschleunigung aller Prozesse in der Zeit hat die Steigerung der Produktivität der Arbeit zur Folge. Es kann in der gleichen Zeiteinheit immer mehr hergestellt werden, das Angebot steigt, der „wealth of nations“ auch. Das ist die Botschaft der kapitalistischen Produktionsweise, betonen emphatisch Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ von 1848 (MEW 4). Doch bewirkt die Akkumulationsdynamik nicht nur die für den Produktivitätsanstieg unabdingbare Beschleunigung in der Zeit. Eine andere und damit untrennbar verbundene Folge ist die Expansion der Wirtschaftsprozesse im Raum. So verändern sich im Fortgang der Akkumulation die räumlichen und zeitlichen Koordinaten des Kapitals. Der Markt kann sich ausdehnen. Das ist die Globalisierung, die es möglich macht, dass das steigende Angebot auf eine wachsende Nachfrage treffen kann. Das ist der Treibstoff des Wachstums des globalisierten Kapitalismus, über den daher zeitweise eine Erfolgsgeschichte geschrieben werden konnte. Das System erfüllte alle Bedingungen der Kohärenz, die ausführlich von der Regulationstheorie analysiert worden sind.
Alle Lebensmittel der Arbeiter können mit der steigenden Produktivität billiger werden. Sie benötigen eine kürzere Zeit für ihre eigene Reproduktion und vermögen zusätzliche Mehrarbeit für die Kapitalisten zu leisten. Das ist ein starker Antrieb zur Steigerung der Produktivität der Arbeit, der keine Rücksichtnahme kennt. Die kapitalistische Produktionsweise entwickelt daher „nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter“ (MEW 23: 530). Marx war also keineswegs der „Fetischist der Produktivkräfte“, als der er häufig hingestellt wird, auch von ökologischen Ökonomen (die nicht immer einen Blick ins Marx’sche Werk geworfen haben). Er hat die zerstörerische Wirkung der Produktivkräfte gesehen, also nicht nur die Vernichtung von Kapital, von Arbeitsplätzen und Einkommen im Verlauf des kapitalistischen Krisenzyklus, sondern auch die Naturzerstörung durch die ungebändigte Akkumulation von Kapital und den aus Gesellschaft und Natur „entbetteten“ Markt (Karl Polanyi 1978).
Die Zerstörung ist auch Produktion und verweist darauf, dass alle Produktion Kuppelproduktion ist. Wenn Schuhe hergestellt werden, wird viel Wasser verbraucht und verbrauchtes Wasser ist die Produktion von Abwasser. Die Ausdehnung des Marktes findet nicht nur in der Zirkulationssphäre statt, sondern in der Produktion und daher wegen deren Doppelcharakters in der Natur. Der Imperialismus war daher, wie Crosby (1991) betont, immer auch ökologischer Imperialismus, und dies gilt ebenfalls für die Globalisierung unserer Tage. Moore (2010) und Mahnkopf (2013) haben also Recht, auf die Heraufkunft des ökologischen Weltsystems zu verweisen.
So kommt jene „soziale Revolution“ zustande, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt und vorläufigen Abschluss finden sollte – mit dem „Untergang des Bauerntums“, der seit der neolithischen Revolution bestimmenden, wenn auch nicht herrschenden Klasse, wie der marxistische Historiker Eric Hobsbawm (1995) in seinem inzwischen klassischen Werk über das „Zeitalter der Extreme“ hervorhebt. Die industrielle Revolution triumphiert mit der Vernichtung jener Klasse, die seit der neolithischen Revolution vor etwa 6.000 Jahren geschichtsmächtig die nächsten Jahrtausende der Menschheitsgeschichte bis zur industriellen Revolution bestimmte, des sesshaften Bauerntums. „Die industrielle Revolution war … der Anfang einer Revolution, so extrem und radikal, wie sie nur je den Geist von Sektierern befeuerte“, formuliert Karl Polanyi pointiert, um den revolutionären und zugleich verrückten Charakter dieser sozialen Transformation zu unterstreichen, deren Zeit aber im Anthropo- bzw. Kapitalozän abgelaufen zu sein scheint.
In der kapitalistischen Ökonomie werden Räume ausgedehnt und Prozesse in der Zeit beschleunigt; in der Natur hingegen gibt es raum-zeitliche Grenzen, auf die bereits Immanuel Kant in seiner Schrift zum „ewigen Frieden“ mit seiner Bemerkung über die „begrenzte Kugelfläche des Planeten Erde“ hinweist. Für Kant folgt aus dieser Begrenztheit die Notwendigkeit der Erarbeitung von Regeln des friedlichen Umgangs miteinander in den gegebenen Grenzen; das ist der kategorische Imperativ. Auch in der marxistischen Debatte ist die Frage der Grenzen der Natur epistemologisch zentral, weil es dabei immer um den Widerspruch zwischen Reversibilität und Irreversibilität, zwischen unbegrenzter Steigerung und begrenzten Stoff- und Energietransformationen, um den Doppelcharakter des Wirtschaftens (vor allem der Arbeit) geht. Das ist ja der von Marx hervorgehobene „Springpunkt“ der politischen Ökonomie.
Alle Stoff- und Energietransformationen sind natürlich begrenzt. Die Dynamik der Verwertung und der Akkumulation von Kapital hingegen ist ökonomisch grenzenlos. Dieser Widerspruch kann nicht einfach aufgelöst werden. Die Debatten um das Bevölkerungsgesetz von Malthus und die marxistisch orientierte ökologische Kritik daran haben dies gezeigt (vgl. Benton 1989). Friedrich Engels schreibt in der „Dialektik der Natur“, dass der Mensch die äußere Natur zwar „beherrscht“. (MEW 20: 452), fügt aber mit Verweis auf die Grenzen hinzu: „Schmeicheln wir uns nicht zu sehr mit unseren menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andere, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben …. Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen … – sondern dass wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehen, und dass unsere ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze zu erkennen und richtig anwenden zu können“ (Engels in MEW 20: 452f.).
Der Mensch kann „nur verfahren, wie die Natur selbst, d.h. nur die Formen der Stoffe ändern. Noch mehr. In dieser Arbeit der Formung selbst wird er beständig unterstützt von Naturkräften. Arbeit ist also nicht die einzige Quelle des stofflichen Reichtums. Die Arbeit ist sein Vater, wie William Petty sagt, und die Erde seine Mutter“ (MEW 23: 57f). Wenn also von „Reichtum“ die Rede ist, müssen die Naturbedingungen berücksichtigt werden. Die „Naturblindheit“ der Ökonomie entsteht, weil die Produktion des Reichtums in der kapitalistischen Gesellschaft nur zählt, wenn auch Werte erzeugt werden, die auf dem Markt in Geld verwandelt werden können. In der kapitalistischen Gesellschaft wird die Natur in Wert gesetzt, Naturreichtum wird in ökonomischen Wohlstand transformiert, der von einzelnen angeeignet werden kann: durch Inwertsetzung von Naturstücken und deren Verwandlung in privates Eigentum.
Diese Transformation ist notgedrungen zerstörerisch, weil die Natur als ein integrales Ensemble in einzelne in Wert zu setzende mineralische, energetische und agrarische Ressourcen zerrissen werden muss. Die Natur wird also in eingegrenzte Parzellen von Privateigentum verwandelt, durch „enclosures“, die Marx als Landnahme in England in den Zeiten der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation (vgl. 24. Kapitel des ersten Bandes) beschreibt. Das ist auch heute ein Thema in den Debatten über den „neuen Imperialismus“ und die „Akkumulation durch Enteignung“ bzw. über die Strategien des Neo-Extraktivismus in Lateinamerika.
Während thermodynamisch orientierte ökonomische Theorien (Georgescu-Roegen 1971; 1986) die stofflichen und energetischen Prozesse analysieren, sich also auf die Gebrauchswertseite und die konkrete Arbeit im Arbeitsprozess konzentrieren, rücken sowohl die keynesianische als auch die neoliberale ökonomische Theorie die Werttransformationen bzw. deren oberflächlichen Ausdruck, die Preisbewegungen ins Zentrum. Sie sehen vor allem die Tauschwertseite, die abstrakte Arbeit im Verwertungsprozess. Der Marx’sche Ansatz ist daher insofern einzigartig, als er anders als Thermodynamik oder Keynesianismus und Neoklassik beide Seiten in ihrer Widersprüchlichkeit zu analysieren vermag: Die Wertseite ebenso wie die Gebrauchswertseite, das Geld ebenso wie Stoff und Energie. Es ist richtig, der Doppelcharakter ist der Springpunkt der Politischen Ökonomie. Hier liegt eine besondere Stärke der Marx’schen Theorie, gerade angesichts der ökologischen Herausforderungen heute.
Das Kapitalozän ist nicht das Ende der Geschichte
Heraus also aus dem industriegesellschaftlichen Kapitalozän einer aus Gesellschaft und Natur entbetteten Wirtschaft? Auf diese Frage wäre locker mit dem Hinweis zu antworten, dass die so bedrückend näher gekommenen Grenzen der Entwicklung ja auch wachsen können. Das wäre ja nichts Neues in der Menschheitsgeschichte, die „frontier“ ist zum Mythos geworden und immer in der Menschengeschichte vorwärts geschoben worden. Darum ranken sich Heldengeschichten und eine Filmgattung (der Western) ist entstanden. Zwar können die meisten Sphären der Erde nicht wachsen, auch wenn ihre Nutzung intensiviert werden könnte. Ihre Grenzen befinden sich jenseits der Einflussnahme durch den Menschen. Eine Ausnahme sind die Sphären des Wissens und des intelligenten Gestaltens, die Noosphäre und die Technosphäre, schreibt der Philosoph Peter Sloterdijk, und weist damit einen scheinbar pfiffigen Ausweg aus einem großen Menschheitsdilemma (Sloterdijk 2011: 93ff.). Denn in Verbindung mit der Bio- und Geosphäre könnte, so der Philosoph ganz praktisch, ein „Hybridplanet“ geschaffen werden.
Das würde in Fortsetzung der Jahrtausende geschehen, in denen Menschen die Erdkruste als Bergleute durchwühlt und umgewälzt haben (vgl. dazu Bardi 2013). Dabei sind die Ressourcen des Planeten irreversibel in feste, flüssige und gasförmige Emissionen verwandelt worden, die in den Sphären der Erde deponiert worden sind, auf dem Land, in den Gewässern, in der Atmosphäre. In letzterer bewirkt die stetig steigende CO2-Konzentration – im Mai 2013 wurde die 400 ppm-Marke überschritten – den Treibhauseffekt (den Anstieg der Erdmitteltemperatur), der wiederum Sekundär- und Tertiäreffekte auslöst, die das Leben auf Erden zumindest erschweren und – in ökonomischer Kalkulation – beträchtlich verteuern. Denn die nicht-konventionell gewonnenen mineralischen, agrarischen und energetischen Ressourcen sind teuer, weil sie nicht einfach zu gewinnen sind, und sie sind riskant, weil die Eingriffe in die Natur Zeit und Raum ihrer Beherrschbarkeit übersteigen.
Es ist vor allem aber fraglich, ob es eine Energiequelle mit einem ähnlich hohen „energy return on energy invested (ERoEI) gibt wie ihn die fossilen Energieträger aufweisen. Mit den Verweisen auf Energie- und Stoffeinsparungen hat sich Marx im 3. Band des „Kapital“ im fünften Kapitel über die „Ökonomie des konstanten Kapitals“ auseinandergesetzt (MEW 25: 87 – 114). Jeder Kapitalist hat das Interesse, den Kapitalvorschuss minimal zu halten, weil so die Profitrate gesteigert werden kann. Doch wirkt der „rebound effect“ der Energie- und Stoffeinsparung entgegen: Wenn billiger produziert werden kann, werden auch mehr Stoffe und Energien verbraucht (vgl. dazu Santarius 2013). Vielleicht muss die Art und Weise von Produktion und Reproduktion überwunden werden, um die notwendige Verringerung des Stoff- und Energieverbrauchs zu erreichen. Mit der ökologischen Frage wird daher die Systemfrage aufgeworfen. Der Diskurs über gesellschaftliche Transformationen ist von dem über die soziale Revolution nicht zu lösen.
Die Naturschranken, von denen Marx sagte, dass sie mit dem Produktivitätsfortschritt „zurückweichen“, zeigen sich als resistent und mit unerbittlicher Härte. Die fossilen Energieträger und andere mineralische und agrarische Rohstoffe sind endlich, sie gehen zur Neige. Auch die Belastbarkeit der Natur mit den „Exkrementen“ (MEW 23: 220) des Industriesystems, vor allem mit den Emissionen von Treibhausgasen in die Atmosphäre, ist begrenzt, wie heute allgemein bekannt ist.
Hier zeigt es sich, dass im Kapitalismus im Zuge der „reellen Subsumtion der Arbeit (und der Natur) unter das Kapital“ (MEW 23: Fünfter Abschnitt) tatsächlich eine Revolution stattgefunden hat: der Übergang von einem offenen Energieregime, in dem die Strahlung der äußeren und unendlichen Energiequelle Sonne genutzt wird, zu einem geschlossenen und isolierten Energieregime, das die Energiequelle in der Erdkruste in Gestalt der Kohlenwasserstoffe findet. Das Energieregime ist aber auch geschlossen, weil die Verbrennungsprodukte der fossilen Energieträger in der Atmosphäre konzentriert werden und die Abstrahlung der Wärmeenergie ins Weltall behindern. Heute wissen wir dies angesichts der drohenden Klimakatastrophe besser, als es Marx und Engels trotz ihres intensiven Studiums der Naturwissenschaften zu ihrer Zeit wissen konnten.
Eine Alternative steht nun zur Entscheidung: Die Welt wird im geschlossenen Energiesystem des Kapitalozän durch Geo-Engineering gemanagt, mit planetarisch ausgelegten Technostrukturen der Reduktion und Beseitigung der Treibhausgasemissionen (Carbon Dioxid Removal) oder mit Hilfe des „Strahlungsmanagements“ (Radiation Managements) durch Verspiegelung oder Verschattung der Sonne in den oberen Atmosphärenschichten. Dass es diese planetarischen Strukturen gibt und welche Probleme ihr Einsatz aufwirft, lässt sich anhand des planetarischen Datendiebstahls durch NSA und andere Geheimdienste nur erahnen. Der globale Datenklau ist bereits Geoengineering im Kapitalozän. Auch die Ausdehnung der Freihandelszonen auf planetarische Dimensionen im atlantischen und pazifischen Raum ist ein beunruhigender Beleg für die Stärke der wirtschaftlichen und politischen Kräfte, die in diese Richtung drängen. Wenn das Klima-Engineering diese Tendenzen noch ergänzt, bedeutet das tatsächlich das Ende der Erde wie wir sie kennen. Bürgerliche Freiheiten und demokratische Rechte, soziale Sicherheit und Respekt vor der Natur wären bedroht. Daher haben die mehr als 560 Schriftsteller Recht mit ihrem Protest gegen den Datenklau im Dezember 2013. Er wäre allerdings in den größeren Kontext des Geoengineering zum Management des Kapitalozän zu rücken.
An dieser Verzweigung der Erdgeschichte sollte man sich aber auch der Parallelgeschichte von Profit und Moral, auf die der Historiker E.P. Thompson verweist, erinnern. Neben der Logik von Profit und Kapitalakkumulation war immer auch die von Genossenschaften, von Kommunen, von Gewerkschaften, von Moral und Solidarität präsent. Darauf haben auch Marx und Engels Hoffnungen gesetzt, Karl Marx übrigens in seinen Briefen an die russische Volkstümlerin Vera Sassulitsch. Man muss den Kapitalismus transformieren, um aus dem Kapitalozän herauszufinden. Erst in einer nicht-kapitalistischen, kommunistischen Gesellschaft sieht Marx die Möglichkeit der „wahrhafte(n) Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen“ (MEW, Ergänzungsband, erster Teil: 536). Marx will also die ökologische (Mensch und Natur) und die soziale Frage (Mensch und Mensch) im Zusammenhang beantworten.
Das ist ein Programm, das in den Institutionen der Wissenschaft, in den Universitäten und in sozialen Bewegungen weiterentwickelt und umgesetzt werden muss. So kann an der langen Tradition marxistischer Debatten in Deutschland und anderswo in der Welt angeknüpft werden, problembeladen gerade angesichts der gegenwärtigen systemischen Krisen und der Herausforderungen an planetarischen Kipppunkten und problembewusst der Zukunft zugewandt, die wir gestalten müssen. Die Frage im Titel dieses Vortrags findet nun eine Antwort: Wir beschäftigen uns mit Marx und dem Marxismus, um die Widersprüche, Gegensätze und Konflikte von Kapital und Arbeit in der Krise des globalisierten, finanzgetriebenen Kapitalismus und die planetarischen Herausforderungen im Kapitalozän zu begreifen und politisch zu bewältigen.
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* Eröffnungsrede auf der AkG-Tagung „zur Lage des Marxismus“, Berlin, 13. Dezember 2013.
Dieser Vortrag wurde im Band zur Tagung: Alex Demirović, Sebastian Klauke, Etienne Schneider (Hrsg.): Was ist der „Stand des Marxismus“? Soziale und epistemologische Bedingungen der kritischen Theorie heute. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2015 (siehe Rezension auf theoriekritik.ch von Michael Rahlwes) nicht berücksichtigt.