In seinem auf diesem Portal veröffentlichten Text «Warum die Zivilgesellschaft gesiegt hat und dies nicht so sein sollte» vertritt Otto B. Feige im Zusammenhang mit dem Abstimmungserfolg gegen die Entrechtungsinitiative (oder «Durchsetzungsinitiative») der SVP die These, dass die Zivilgesellschaft letztlich immer eine staatstragende Funktion einnimmt und eine revolutionäre Praxis daher auf ihre Zerstörung hinarbeiten muss. Feige suggeriert, Gramscis berühmte Formel «Staat = politische Gesellschaft und Zivilgesellschaft, das heisst Hegemonie, gepanzert mit Zwang» zu paraphrasieren, wenn er «Zivilgesellschaft» als «diejenigen Apparate» definiert, «die im ‹Alltagsverstand› über vielfältige institutionalisierte Vermittlungsprozesse eine Zustimmung zu den herrschenden Verhältnissen ermöglichen».1 Feige beschreibt zunächst die überschwänglichen Reaktionen liberaler Medien und von SP-Präsident Christian Levrat auf das Abstimmungsresultat und merkt an, dass der Begriff zurecht nur auf diese staatstragenden Kräfte angewendet werde. Im theoretischen Teil gelangt Feige neben seiner Auslegung von Gramsci vor allem über Louis Althussers Begriff der Ideologischen Staatsapparate zum Schluss, die Zivilgesellschaft sei «ein erweitertes Element der Reproduktionsfunktion des kapitalistischen Staates». Eine kurze Analyse der Rhetorik verschiedener Komitees gegen die Entrechtungsinitiative soll seine These auch empirisch stützen. Feige stellt dabei fest, dass der Rechtsstaat, der Wirtschaftsstandort und die persönliche Freiheit in der Argumentation von Gruppierungen wie dem «Dringenden Aufruf» oder der «Operation Libero» als prägende Merkmale einer nationalen Identität erscheinen. Feige stellt das Engagement dieser Komitees gegen die SVP-Initiative in eine Reihe von «Aufständen der Zivilgesellschaft», «die von der Vorstellung getragen» würden, «dass aufgeklärte Bürger die Zivilisation dorthin zurücktragen sollen, wo sie verloren geglaubt wird».
In seiner Kritik an der Vorstellung der Zivilgesellschaft als einer aufgeklärten Elite, auf die Verlass ist, wenn die Errungenschaften der Zivilisation bedroht werden, hat Feige natürlich völlig recht. Als Reaktion auf die überschwänglichen Reaktionen am Abstimmungssonntag hat auch die Historikerin Svenja Goltermann auf dem Portal «Geschichte der Gegenwart» argumentiert, dass die Zivilgesellschaft kein Garant für die Erhaltung der Demokratie sei. Auch die Pegida sei schliesslich eine zivilgesellschaftliche Kraft. Weil er die Gefahr selbstgenügsamer Selbsttäuschung berge, plädiert Goltermann dafür, den Begriff «Zivilgesellschaft» gleich ganz fallen zu lassen: «Wenn man der rechtspopulistischen SVP in ihrem Versuch, Rechtsstaat und Demokratie auszuhöhlen, Einhalt gebieten will, ist es ratsam, sich vom Begriff der ‹Zivilgesellschaft› zu verabschieden, die SVP medial nicht weiter zu verklären und stattdessen aktiv für die Idee einer demokratischen und offenen Gesellschaft zu streiten …»
Die «revolutionäre» Pointe
Feige will jedoch nicht den Begriff der Zivilgesellschaft beseitigen, sondern das, was er bezeichnet. In einem knapp gehaltenen letzten Absatz setzt er seinem Argument eine «revolutionäre» Pointe auf: In der Demo gegen rassistische Politik, die an jenem Abstimmungssonntag stattfand, hätten sich «andere Formen des politischen Widerstands» gezeigt, da sich diese Demo «nicht zuletzt aus denjenigen Elementen zusammensetzte, welche sich bewusst nicht an der Zivilgesellschaft beteiligen wollen und dadurch überhaupt erst auf einen gesellschaftlichen Wandel hinarbeiten». Die Zivilgesellschaft gehöre «zerstört und nicht gestärkt, und genau dieser zerstörerische Prozess wäre gleichzeitig Ausdruck eines progressiven Aufbauprozesses».
Mit dieser anmassenden Behauptung schliesst der Text, ein Argument bleibt Feige schuldig. Statt zu sagen, wie diese «anderen Formen des politischen Widerstands» aussehen, bleiben sie nur das abstrakte Negativum dessen, was zuvor verworfen wurde. Doch darin ist sein Argument widersprüchlich.
Zuerst einmal tut Feige so, als sei es selbsterklärend, dass die genannte Demo gegen Rassismus nicht auch als Teil der Zivilgesellschaft agiert. Das kann er natürlich nur darum tun, weil er «Zivilgesellschaft» zuvor als ein Ensemble systemerhaltender Apparate definiert hat. Wer gegen das System ist, fällt demnach aus der Zivilgesellschaft raus. Doch auch wenn wir diese Definition akzeptieren, ist noch lange nicht klar, dass eine Bewegung, die für sich beansprucht, revolutionär zu sein, diesem Anspruch auch gerecht wird. Es ist sogar ziemlich leicht, sich eine «scheinrevolutionäre» Bewegung vorzustellen, die systemerhaltend wirkt. Indem sie «revolutionäres Begehren» sublimiert, würde eine solche Bewegung in Feiges Worten dann «im ‹Alltagsverstand› über vielfältige institutionalisierte Vermittlungsprozesse eine Zustimmung zu den herrschenden Verhältnissen ermöglichen». Stattdessen sollte man den Begriff der Zivilgesellschaft jedoch so bestimmten, dass auch eine revolutionäre Bewegung darin Platz findet. Doch dazu mehr am Schluss.
Weiter schreibt Feige, nicht der Widerstand gegen die SVP-Initiative sei falsch, sondern «die Hoffnung, dass dieser von der Zivilgesellschaft angeführt werden könnte». Doch um die Angriffe der SVP abzuwehren, sind auch Abstimmungskämpfe wie derjenige gegen die Entrechtungsinitiative und die Gewinnung von Stimmen liberaler WählerInnen nötig. Denn damit werden nicht nur der Wirtschaftsstandort und eine kulturelle Identität verteidigt, sondern – und das ist entscheidend – auch die Grundlage für radikalere, potentiell revolutionäre Kämpfe. Vielleicht wollen zum Beispiel auch einige der zwei Millionen Secondos, die durch die Initiative entrechtet worden wären, an der einen oder anderen Demo teilnehmen. Wenn ihnen dabei ständig der Landesverweis droht, überlegen sie sich vielleicht zweimal, sich der Staatsgewalt gegenüberzustellen. Bei der Verteidigung des von Feige derart abgeschmetterten Rechtsstaates geht es also auch darum, den vorhandenen Schutz von AktivistInnen vor dem Staat zu verteidigen. Unter einem Staat, der diesen Schutz in viel geringerem Mass garantiert, wäre es möglicherweise gar nicht erst möglich, eine antirassistische Demo durchzuführen oder einen Blog wie denjenigen zu betreiben, auf dem dieser Text erscheint. Diesen Unterschied nicht anzuerkennen, wäre zynisch. Einen Rechtsstaat zu verteidigen, der die Bedingung der Überwindung des Systems ist, dem er entspringt – so viel Dialektik müssen wir aushalten.
PazifistInnen und Radikale
Mit dem «Unsichtbaren Komitee» könnte man sagen, dass Feige in seinem Text die falsche Spaltung der Linken in PazifistInnen und Radikale vornimmt. Die rein negative Abgrenzung der politischen Praxis, die ihm vorschwebt, von der Zivilgesellschaft, deckt sich mit der Bestimmung des Radikalen als «die Figur, die in allem und jedem das Gegenteil des Bürgers tut».2 Die Trennung zwischen Radikalen und PazifistInnen wird anhand der Frage der politischen Gewalt vorgenommen: «Wo sich der Pazifist vom Laufe der Welt freisprechen und gut bleiben möchte, indem er nichts Böses tut, spricht sich der Radikale durch kleine illegale Aktionen, verziert mit unversöhnlichen ‹Stellungnahmen›, von jeder Beteiligung am ‹Bestehenden› los. Beide sehnen sich nach Reinheit: der eine durch gewalttätige Aktion, der andere, indem er sich dieser versagt.»3 Für diese Abgrenzung der Radikalen von den PazifistInnen hat das «Unsichtbare Komitee» eine treffende Beschreibung: Privatisierung der Revolution. Die Revolution «ist zur Möglichkeit geworden, sich persönlich aufzuwerten, und das Bewertungskriterium ist die Radikalität».4 Genau das ist Feiges argumentativer Gestus: Er grenzt eine Praxis, die er nicht näher bestimmt, gegen einen antirevolutionären Strohmann ab, den er Zivilgesellschaft nennt. Übrig bleibt nur die nackte Selbstbeschreibung als Revolutionär. Es geht nicht um die Praxis, sondern um die Personen, die sie ausführen. Was dabei herauskommt, ist ein Wettlauf um eine sich selbst genügende Radikalität statt einer wirklich revolutionären Kraft.
Ohne der Hoffnung auf die wesentlich progressive Wirkung zivilgesellschaftlichen Engagements zu verfallen, die Feige zu Recht kritisiert, sollte das Potential des Begriffs bei der Theoretisierung revolutionärer Praxis anerkannt werden. Entgegen Feiges Verständnis tut dies laut dem italienischen Philosophen Norberto Bobbio auch Gramsci, der zur Gewinnung seines Begriffs der Zivilgesellschaft als erster marxistischer Philosoph nicht nur auf Marx und Engels, sondern auch auf Hegel und damit auf die Ursprünge der modernen Verwendung des Begriffs referiert.5
Vor Hegel nehmen vertragstheoretische Denker von Hobbes bis Kant noch keine Trennung zwischen Staat und Zivilgesellschaft vor, stattdessen operieren sie mit der Dichotomie Naturzustand-Zivilisation, wobei die Begriffe der Zivilgesellschaft und der politischen Gesellschaft zusammenfallen. Hegels Innovation besteht darin, diese Begriffe einander gegenüberzustellen: Die Zivilgesellschaft – Hegel spricht von «bürgerlicher Gesellschaft»6 – war für ihn gerade der prä-politische Teil der Gesellschaft. Damit vollzog er zum ersten Mal eine klare Trennung von politischen und ökonomischen Beziehungen, auf der Marx’ Basis-Überbau-Modell aufbaut. In der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie anerkennt Marx diese Trennung als das Kennzeichen der Moderne. Während der Staat für Hegel jedoch die objektive Verwirklichung des Geistes ist, in dem sich die Konflikte der Zivilgesellschaft auflösen, hat er für Marx die Funktion, ökonomische Ausbeutung zu legalisieren und damit zu bewahren. Unter dem Begriff der Hegemonie zählt Gramsci die Zivilgesellschaft im Gegensatz zu Marx zum Überbau und sieht sie als ein Feld, auf dem potentiell auch die Linke siegreich sein kann.
Die Zivilgesellschaft jenseits des Staates
Gemäss Bobbio hat Gramsci sich die Zivilgesellschaft sogar als dasjenige vorgestellt, was übrig bleibt, wenn der Staat, also die politische Gesellschaft, einmal nicht mehr ist: «The society without a state, which Gramsci calls ‹regulated society› comes from the enlarging of civil society and, therefore, of the moment of hegemony, until it eliminates all the space which is occupied by political society. The states which have existed until now are a dialectical unity of civil society and political society, of hegemony and domination. The social class, which will succeed in making its own hegemony so universal that the moment of coercion will become superfluous, will have achieved the conditions for the transition to a regulated society.»7
Für den britischen Philosophen und libertären Sozialisten Darrow Schecter ist die Zivilgesellschaft der Raum, in dem sich eine postkapitalistische Politik entwickeln kann. Er argumentiert, dass eine positive Vorstellung einer solchen Politik bei Marx und Engels fehlt, da sie die Überwindung des Kapitalismus nur negativ gedacht haben. Für Marx und Engels bedeutet das Ende der materiellen Bedingungen in der Zivilgesellschaft,8 die den Staat erst hervorgebracht haben, auch das Ende der Politik. «The crucial flaw in this vision and its implicit understanding of civil society is that there is no theory of the public sphere, community, or recognition to bind humans in a form of association beyond the need to produce in common. Since the end of private property would mark the end of the need for the state and politics, emancipation would be realised as the emancipation of civil society from politics in its hitherto existing form (i.e., from politics conceived and practised in a naive Kantian or specious Hegelian way).»9 Schecter argumentiert, dass es – im Gegensatz zur ökonomischen Ausbeutung – kein Entkommen vor der Politik gebe, wenn es ein Zusammenleben ohne Autoritarismus geben soll. Das Potential zu einer postkapitalistischen Politik sieht er mitunter in aktuellen zivilgesellschaftlichen Bewegungen angelegt. Dass sich dieses Potential nicht entfalten könne, liege prinzipiell nicht an diesen Bewegungen, sondern an den existierenden politischen und ökonomischen Institutionen: «Not only is there a latent political dimension to various aspects of political action in contemporary civil societies that seeks articulation but is frustrated by existing political and economic institutions; the latter are structurally beset with authoritarian tendencies wich strongly suggest that they should be changed if we want the word ‹democracy› to have more than an ideological significance.»10
Damit sind wir bei einem Begriff der Zivilgesellschaft angelangt, der deutlich weiter gefasst ist als derjenige von Feige. Zwar spricht dieser von einem «positiven Aufbauprozess», sagt aber nicht, was damit gemeint ist. Damit bleibt die Überwindung des Kapitalismus als reine Zerstörung zurück. Dagegen gälte es, einen Begriff der Zivilgesellschaft zu formulieren, der nach den Spuren einer postkapitalistischen Politik im Bestehenden sucht.
1 Ich werde hier nicht darauf eingehen, inwiefern Feige Gramscis Verständnis von Zivilgesellschaft hier korrekt wiedergibt. Die vorliegende Kritik verfährt also zuerst einmal immanent. Zum Schluss werde ich jedoch andeuten, dass der Begriff der Zivilgesellschaft sehr wohl Teil einer Konzeption von revolutionären Praktiken sein sollte.
2 Unsichtbares Komitee. An unsere Freunde. Hamburg: Edition Nautilus, 2014. 110.
3 Ebd., 110.
4 Ebd., 110.
5 Bobbio, Norberto. «Gramsci and the conception of civil society.» In Gramsci and Marxist Theory, herg. v. Chantal Mouffe, 26. London: Routledge, 1997.
6 So übersetzte Hegel den Begriff «civil society» aus den Schriften des britischen Soziologen Adam Ferguson, auf den die neuzeitliche Verwendung des Begriffs zurückgeht.
7 Ebd., 41.
8 In Anschluss an Hegel sprachen Marx und Engels von «bürgerlicher Gesellschaft».
9 Schecter, Darrow. Sovereign states or political communities? Civil society and contemporary politics. Manchester: Manchester University Press, 2011. 46-47.
10 Ebd., 22.
Auf den vorliegenden Text reagiert Stefan Howald mit dem Beitrag «Eidgenossen auf dem Eis. Und anderes zur Zivilgesellschaft» auf theoriekritik.ch.