Die sogenannte «öffentliche Meinung» ist eng mit der politischen Hegemonie verknüpft. Sie ist der Berührungspunkt zwischen «Gesellschaft» und «Staat», zwischen Konsensus und Macht. Antonio Gramsci
Vor mehr als zwanzig Jahren befasste sich der «Widerspruch» das letzte Mal eingehend mit dem Thema Medien. Damals, 1994 in Heft 28, skizzierten unsere AutorInnen bereits die Konturen einer sich rasant entwickelnden digitalen Welt. So schrieb Roger Blum: «[D]ie in einer Demokratie zentrale Aufgabe der Massenmedien, nämlich Öffentlichkeit herzustellen, wird fast überflüssig, wenn es die mediale Öffentlichkeit gar nicht mehr gibt, wenn die Menschen über digitale Netze mit allen möglichen Stationen verbunden sind, aber nicht in Form von Massenkommunikation, sondern in Form von medialer Individualkommunikation.» (S. 30) Auch wenn zwanzig Jahre später deutlich geworden ist, dass die meinungsmachenden Massenmedien weiterhin wichtig und mächtig bleiben: Der Wandel der medial vermittelten Wirklichkeit geht effektiv weit über das hinaus, was Jürgen Habermas in den 1960er-Jahren als «Strukturwandel der Öffentlichkeit» bezeichnete. Ein «neuer Strukturwandel» ist im Gange (Kurt Imhof). Das Internet hat eine Vielzahl von medialen Öffentlichkeiten geschaffen. Die Öffentlichkeit hat sich aufgegliedert in plurale Öffentlichkeiten, in fragmentierte Diskurse und direkt vernetzte Individuen. Doch die in den 1990er-Jahren gepriesenen demokratischen Potenziale des Internets müssen heute weit kritischer betrachtet werden. Klaus Pickshaus hat in Heft 28 bereits gewarnt: Es «bildet sich in den neuen Formationen der Multimedia-Unternehmen eine Kombination von ökonomischer und publizistischer Macht heraus, die erst in Ansätzen erkannt wird» (S. 74). Aus diesen Ansätzen kristallisierten sich ökonomische Strukturen und Machtverhältnisse heraus, deren Haupttreiber heute «Multimedia-Unternehmen» wie Google und Facebook sind.
Eine vor zwanzig Jahren noch unerkennbare Entwicklung haben hingegen mobile und soziale Medien angestossen: Das Web 2.0 hat die Möglichkeiten digitaler Kommunikation und so auch die Spielräume für soziale Bewegungen und politische Kampagnen erweitert. Doch damit tauchen zwei neue, in den Beiträgen dieses Hefts wiederholt diskutierte Problemfelder auf: Erstens werden unsere persönlichen, unentgeltlich produzierten Profile und NutzerInnendaten zu Grundlagen der Geschäftsstrategien der Internetkonzerne. Dies zeigt die Dringlichkeit kritischer Analysen zu neuen Verwertungs- und Ausbeutungsformen des Internets. Zweitens liegt vielen Artikeln ein Unbehagen über neue Formen der Überwachung unserer Privatsphäre zugrunde. Spätestens die Enthüllungen von Edward Snowden haben deutlich gemacht, dass gerade unsere digitalen Profile jederzeit von Geheimdiensten wie der NSA «abgehört» werden (können). Soziale Medien tragen die medialen Machtverhältnisse so direkt in unser intimes Alltagsleben.
Angesichts dieser Omnipräsenz von Medien in unserem Leben erstaunt es, dass über Medien und Öffentlichkeit selten eingehend debattiert wird; wenn, dann meist punktuell anlässlich von Skandalen oder über einzelne umstrittene Medienberichte. Auch in der Schweiz ist erst seit kurzem eine hitzige medienpolitische Diskussion in Gang. Nach der äusserst knappen Annahme der Revision des Radio- und Fernsehgesetz (RTVG) im März 2015 starteten rechtsbürgerliche PolitikerInnen gemeinsam mit privaten Verlegern einen Fundamentalangriff auf den publizistischen Service public und die öffentliche Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG).
Demgegenüber müsste eine Grundsatzdiskussion über die demokratische Verfassung der heutigen Medienlandschaft geführt werden. Es bräuchte dazu auch eine weiterführende Diskussion über linke Medienpolitik und -praxis. Im Parlament fordert die Sozialdemokratische Partei (SP) etwa die direkte Förderung von Onlinemedien. Sie hat zudem ein Positionspapier zum Internet verabschiedet: Der durch das Internet ausgelöste Strukturwandel ist demnach nicht rückgängig zu machen. Vielmehr gehe es darum, ihn für eine linke Medienpolitik zu nutzen und mittels neuer Praktiken und progressiver Netzpolitik für demokratietaugliche Medien, im digitalen wie im analogen Raum, einzustehen. Denn grundlegende Fragen zur Architektur und Zugänglichkeit des Internets reichen weit über ihre technischen Auswirkungen hinaus. Sie handeln die öffentliche(n) Meinung(en) neu aus.
Die digitalisierte Welt stellt auch die privaten Verleger vor neue Herausforderungen. Wie einige AutorInnen des Hefts betonen, üben Google oder Facebook verstärkt Druck aus: Durch ihr Sammeln von NutzerInnendaten (Big Data) sind sie für Werbende besonders attraktiv geworden – Werbeeinnahmen wandern von den alten Medien ab. Dies führe zur viel benannten Krise der herkömmlichen Medien. Ein Befund, der allerdings einer genaueren Betrachtung bedarf. Insbesondere da auch bei den herkömmlichen Medien die Konzentration weiter zugenommen hat und die grossen Medienunternehmen dank neuer Geschäftsfelder und -strategien weiterhin Gewinne schreiben. Im Zuge der Finanzierungskrise der Medien haben die Verlage den ökonomischen Druck auf die Redaktionen erhöht. Auch die Medienproduktion wurde neoliberalisiert, wie einige AutorInnen dieser Nummer aufzeigen: Die Arbeitsbedingungen und das Ansehen des Berufs sind unter Druck geraten. Die journalistischen Prinzipien werden den Strategien kommerzieller Medienunternehmen untergeordnet: Aufmerksamkeit zu generieren, Wahrnehmungen zu strukturieren oder Ereignisse zu skandalisieren und schnell konsumierbar zu machen, haben die Ansprüche an Objektivität, Ausgewogenheit und Relevanz abgelöst.
Zu Recht kritisieren unsere AutorInnen den Qualitätsverlust, der auch durch die Resultate des im Dezember erschienenen Jahrbuch 2015 «Qualität der Medien» bestätigt wird. Die unabdingbare Funktion von Medien – eine informierte Öffentlichkeit zu schaffen, die Voraussetzung demokratischer Entscheidungsprozesse ist – gerät verstärkt in Bedrängnis. Dieses Medienheft versteht sich so im Geiste des verstorbenen Mediensoziologen Kurt Imhof und seines unermüdlichen Einsatzes für eine demokratische Medienöffentlichkeit.
Demgegenüber müssen die von rechtsbürgerlichen Milliardären finanzierten Zeitungen «Weltwoche» und «Basler Zeitung» als Teil eines rechtskonservativen Hegemonieprojekts verstanden werden. Obwohl ihre Auflagen sinken und sie betriebswirtschaftlich nicht rentieren, werden sie weiter von ihren Financiers getragen. Ausgerechnet die Sprachrohre des Neoliberalismus sind Medienprodukte, die nicht nach einer ökonomischen Logik funktionieren. Die Medienkritik sollte daher über das Messen der Medienöffentlichkeit an den Idealen der Aufklärung hinausführen: Medien dienen nicht nur der öffentlichen Diskussion, sie sind auch Machtinstrument. Sie unterstützen den Aufbau und die Verbreitung hegemonialer Werte und Deutungen. In Anbetracht dessen stellt sich umso dringender die Frage, welche Rolle Medien für den Aufbau linker (Gegen-)Öffentlichkeiten spielen – auch dafür liefern unsere AutorInnen Denkanstösse. Die Medienkritik verbindet sich mit Diskussionen über die Stärkung linker Medienprojekte und guter journalistischer Arbeit.
In diesem Themenfeld sehen wir nicht zuletzt auch die Aufgabe des «Widerspruchs» selbst. Unsere Arbeit zielt darauf, Analysen und Interventionen zu veröffentlichen, die zu herrschenden Deutungen in Widerspruch stehen und so Wissen produzieren, das einer kritischen Auseinandersetzung mit unserer Gesellschaft dient. Ebenso sieht die Redaktion den «Widerspruch» als eine Plattform für plurale linke Debatten, welche AutorInnen aus sozialen Bewegungen, Politik, Gewerkschaften, Wissenschaft und Journalismus die Möglichkeit gibt, ihre Positionen zu aktuellen Diskussionen darzustellen oder Debatten anzustossen. Dabei versuchen wir, durch unsere politische und organisationale Autonomie ein mediales Scharnier zwischen Theorie und Praxis, zwischen verschiedenen Organisationen und politischen Standpunkten zu sein, mit dem Ziel, den öffentlichen Austausch innerhalb eines breiten linken Spektrums anzuregen. In diesem Sinne sehen wir unser Projekt als Mosaikstein einer linken Gegenhegemonie – ein einzelner Mosaikstein, der nur im Zusammenhang mit anderen Medienprojekten, politischen Kräften und Aktionsebenen seine Wirkung entfalten kann. Insofern erscheint es uns als dringende Herausforderung, in einer fragmentierten kritischen Medien- und Politikwelt nach neuen Formen des Austausches und der Kooperation Ausschau zu halten.
Trotz der Beschleunigung des Internets und des Kurzfutterjournalismus von Gratiszeitungen ist die Nachfrage nach Qualitätsjournalismus nicht verloren gegangen. Wir denken, dass es deshalb weiterhin von zentraler Bedeutung ist, an unseren hohen Qualitätsansprüchen festzuhalten. Dies ist jedoch nur durch einen grossen Aufwand von Ressourcen und viel Freiwilligenarbeit – von der Redaktion wie den AutorInnen – leistbar: Der Widerspruch kann nur durch viel Idealismus und unbezahlte Arbeit aufrechterhalten werden. So manifestiert sich auch bei uns der laufende Strukturwandel, der sich besonders durch personelle und finanzielle Engpässe bemerkbar macht. Doch hinsichtlich der Schwierigkeiten, mit denen neue linke Medienprojekte bis heute zu kämpfen haben, scheint es uns wichtig, dass bereits institutionalisierte Infrastrukturen – wie der «Widerspruch» – erhalten bleiben.
Selbst wenn, so darf man selbstkritisch anmerken, unser Medium ein Format aus dem letzten Jahrhundert ist. Dies spiegelt sich nicht nur in seinem – von uns geschätzten – Retrolayout sondern auch in einem minimalen Webauftritt wider.
Auch wir stellen uns grundsätzliche Fragen über die Konsequenzen des Strukturwandels der Öffentlichkeit und besonders der Digitalisierung für unsere Arbeit. Doch die Frage lässt sich auch umkehren: Geht mit dem vom Internet bewirkten Wandel hin zu kürzeren, schnell produzierten Inhalten eine Debattenkultur und eine Form des intellektuellen Sinnierens verloren, die gerade für die theoretische Arbeit einer Linken eigentlich unersetzbar sind? Eine theoretische Arbeit, die von eminenter Bedeutung für eine Linke ist, die sich allzu oft in ihrer Orientierungslosigkeit in der neoliberal durchtränkten Welt nach Ankerplätzen umschaut. Wir sind deshalb überzeugt, dass es Theorie- und Debattenplattformen wie den «Widerspruch» gerade heute dringender denn je braucht, um solche theoretischen Ankerplätze zu politischen Themen zu erarbeiten.
* Beim vorliegenden Text handelt es sich um das Editorial der 67. Ausgabe der Zeitschrift WIDERSPRUCH.