Der Sammelband von Sabine Hark und Paula-Irene Villa trifft den Nerv der Zeit! In dreizehn Artikeln wird beleuchtet, analysiert und reflektiert, weshalb und auf welche Weise nicht nur Erkenntnisse aus den Gender Studies, sondern auch Genderforschende selbst derart heftig angegriffen werden in jüngster Zeit. Spätestens seit Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht ist eine nicht-essentialistische Geschlechterdefinition auf dem Vormarsch. Eine im öffentlichen Diskurs immer stärker in Erscheinung tretende Anti-Gender-Allianz versucht gerade diesen Denkansatz der Gender Studies zu diffamieren. Woher rührt dieser Widerstand gegenüber der Geschlechterforschung? Und weshalb ist es beinahe unmöglich gegen die Argumentation der Gender-Gegner_innen anzukommen?
Vom Antifeminismus zum Anti-Genderismus
Hark und Villa machen in ihrem Artikel darauf aufmerksam, dass sich die Argumentation der Anti-Gender-Allianz von jener der Antifeminist_innen unterscheidet: Während sich Antifeminist_innen bereits am Gleichheitsgedanken stör(t)en, anerkennt die Anti-Gender-Allianz die politische Idee von Gleichheit. Allerdings sei die Gleichstellung inzwischen abgeschlossen und die Forderungen heutiger Feminist_innen beziehungsweise der heutigen Geschlechterpolitik seien verfehlt (vgl. Maihofer & Schutzbach). Die Anti-Gender-Allianz betont, dass Frauen und Männer an Rechten gleich seien, sich von Natur aus aber unterscheiden würden. „Statt gegen Feminismus […] wird daher heute gegen ein akademisches Konzept mobilisiert: Gender.“ (Hark & Villa, S. 26) Gender-Gegner_innen halten an der essentialistisch gedachten, bipolar organisierten, heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit als Argumentationsgrundlage fest. Sie beanstanden, dass die Gender Studies der Gesellschaft ihr natürliches Fundament, namentlich die Zweigeschlechtlichkeit und die Heterosexualität, entziehen würden. Die Gender Studies würden offensichtliche, objektive Tatsachen verkennen. In Anti-Gender-Kreisen werden sie deshalb als ‚Genderideologie‘, ‚pseudo-religiöse Dogmatik‘, ‚Gender-Unfug‘, als ‚Hokuspokus‘, ‚Weltanschauung‘ oder als ‚Religion‘ bezeichnet. Die ‚Genderfrauen‘ wären ‚Lehrstuhlbesetzer_innen‘, litten unter ‚Profilierungssucht‘ und in den Gender Studies ganz generell würde ‚Gehirnwäsche‘ betreiben. Ja, bei den Gender Studies handle sich um einen unwissenschaftlichen, nutzlosen, an den Universitäten überrepräsentierten Teil einer ‚feministischen Staatsräson‘.
Verunsicherndes Potential
Die Gender Studies haben gemäss Christine Wimbauer, Mona Motakef und Julia Teschlade mitbewirkt, dass das bisher dominante Modell der bürgerlichen, heterosexuellen Kleinfamilie aus Vater, Mutter und leiblichen Kindern an Gültigkeit verliert. Seit Frauen vermehrt berufstätig sind und auf ihre Selbstbestimmung pochen, werde das männliche Ernährermodell untergraben. Männer verlieren ihre ökonomischen Privilegien, das männliche Normalarbeitsverhältnis wird seltener. Diese Entwicklungen werden von der Anti-Gender-Allianz als Negativverdienst der Gender Studies sowie des Feminismus dargestellt. Dass insbesondere die neoliberale Wirtschafts- und Arbeitswelt nach qualifizierten Frauen in der Erwerbssphäre verlangt, wird verschwiegen. In der Tat käme es das System viel zu teuer, wenn diese Frauen ausschliesslich in der Reproduktionssphäre tätig wären. Zudem sei das neoliberale System auf Diversität ausgelegt. Es schreie förmlich nach hochqualifizierten Fachkräften – ungeachtet deren sexueller Orientierung, sozialer Herkunft, körperlicher Integrität oder Ethnie.
Prekarisierungsprozesse rufen sehr viel Verunsicherung hervor – insbesondere bei jenen, die ihre privilegierte Position zu verlieren fürchten. Aus dieser Verunsicherung heraus würden sich Allianzen gegen die Geschlechterforschung und Gleichstellungspolitik bilden und andere an Veränderungen beteiligte Akteur_innen ausser acht lassen.
Die Macht der Sprache
Im Verlauf des Sammelbandes wird immer wieder deutlich, wie sich Gender-Gegner_innen einer verkürzten, komplexitätsmindernden Argumentation bedienen. Die Besonderheiten der anti-genderistischen Argumentation untersucht Steffen K. Hermann. In seinem Artikel erläutert er, weshalb es der Anti-Gender-Allianz nicht möglich ist, Antagonismen anzuerkennen. Im Gegensatz zu den Gender Studies oder der Gleichstellungspolitik sei sich die Anti-Gender-Fraktion ihrer kontingenten politischen Grundlage nämlich nicht bewusst. In deren Augen hat ihre Politik einen letzten Grund als Fundament. Und diesen letzten Grund, darauf lassen die anderen Artikel im Sammelband schliessen, bildet die natürliche, essentialistisch gedachte Geschlechterordnung. Diese Haltung verunmöglicht eine Inklusion der Gegenposition – und deshalb kommt es gemäss Steffen immer wieder zum Einsatz von sprachlicher Gewalt. Wie Kathrin Ganz und Anna-Katharina Messmer ausführen, können verschiedene Formen von sprachlicher Gewalt (Trolling, Hate-Speech, Mansplaining, Diffamierung etc.) Interaktionen eingehen und so zu besonders wirksamen Sprachformen mutieren. Steffen konkretisiert, dass Akte der sprachlichen Gewalt Kränkungen und Demütigungen hervorrufen. Kränkungen resultieren dort, wo dem Gegenüber kein Wert mehr zugesprochen wird, Demütigungen dort, wo eine Person derart diffamiert wird, dass sie zumindest aus einer sozialen Gruppe ausgeschlossen wird. Im schlimmsten Fall gibt es für die betroffene Person „gar keine Möglichkeit, dass die Stimme Gehör findet oder [sie] erhält keinen Zugang zu den Orten, an denen die Stimme überhaupt erhoben werden kann“. Sprachliche Gewalt tendiert also dazu, das Gegenüber zum Schweigen zu bringen. Dennoch gibt es kreative Formen des Protests: Diffamierte Gruppen verkehren die ursprünglich abwertenden Fremdzuschreibungen zu stolzen Selbstbezeichnungen (‚Schlampenmarsch‘, ‚Krüppelbewegung‘, ‚Kanak Attack‘). In der Bemächtigung der Sprache der Gegner_innen sieht Steffen die vorerst einzige Lösung gegen die Sprachlosigkeit und Unsichtbarmachung.
Gender-Ideologie als Bedrohung für Gesellschaft und Nation
Die rigide Vorgehensweise von Gender-Gegner_innen sowie das Beharren auf der eigenen, einzig wahren Position können als Ausdruck realer Ängste und Verunsicherungen verstanden werden. Neu ist, dass sämtliche verunsichernden Entwicklungen unter der ‚Genderideologie‘ subsumiert werden. Neurechte Bewegungen, massentaugliche Homophobie, konservative Familienpolitik, evangelikale Gruppierungen, rassistische Verbünde, anti-europäische Tendenzen und Fremdenfeindlichkeit formieren sich und stellen „offenbar [ein] attraktives Identifikationsangebot im Zeitalter der neoliberalen Alternativlosigkeit“ dar (Ganz & Messmer, S. 73). „Auffällig ist, dass ‚Gender‘ in allen Fällen als Chiffre für eine fehlgeleitete, dem ‚Volkskörper‘ schadende Entwicklung und ein ‚von oben oktroyiertes‘ Programm steht.“ (Ganz & Messmer, S. 73) Mit der Vorstellung eines von oben oktroyierten Programms beziehen sich die Gender-Gegener_innen auf die Gleichstellungspolitik einerseits und auf die staatlich geförderten und universitär etablierten Gender Studies andererseits. Die Anti-Gender-Allianz sollte nicht nur wegen ihrer Angriffe auf Wissenschaftler_innen, deren wissenschaftliche Arbeiten und die akademischen Gender Studies als gefährlich betrachtet werden: Auf dem Spiel steht auch „Wissenschaft und Universität als Ort eines unbedingten Fragens und Verhandelns von Wirklichkeit, als Teil einer offenen, demokratischen und polyperspektivischen Gesellschaft.“ (Hark & Villa, S. 33)
Fazit
Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen untersucht soziale und politische Ereignisse der jüngsten Zeit und versucht aktuelle, rechtsgewandte gesellschaftliche Entwicklungen einzuordnen. Der Anti-Genderismus wird als gesellschaftliches Phänomen betrachtet, dessen Wurzeln in gesellschaftlichen Konflikten und ihrer diskursiven Bearbeitung liegen. Angesichts der politischen Rechtsrutsche im gesamten Europa, der fremdenfeindlichen und homophoben Abstimmungskampagnen in der Schweiz, der zunehmenden Bedeutung der Pegida und der AfD in Deutschland, die allesamt mit anti-genderistischen Argumenten um sich werfen, ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung in diesem Sammelband äusserst bedeutsam.
Sabine Hark, Paula-Irene Villa (Hg.): Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, Bielefeld: transcript, 2015.
Artikel:
„Anti-Genderismus“ – Warum dieses Buch?
Sabine Hark und Paula-Irene Villa | 7
„Eine Frage an und für unsere Zeit“
Verstörende Gender Studies und symptomatische Missverständnisse
Sabine Hark und Paula-Irene Villa | 15
Prekäre Selbstverständlichkeiten
Neun prekarisierungstheoretische Thesen zu Diskursen gegen Gleichstellungspolitik und Geschlechterforschung
Christine Wimbauer, Mona Motakef und Julia Teschlade | 41
Anti-Genderismus im Internet
Digitale Öffentlichkeiten als Labor eines neuen Kulturkampfes
Kathrin Ganz und Anna-Katharina Meßmer | 59
Politischer Antagonismus und sprachliche Gewalt
Steffen K. Herrmann | 79
Das Kind als Chiffre politischer Auseinandersetzung am Beispiel neuer konservativer Protestbewegungen in Frankreich und Deutschland
Imke Schmincke | 93
Eine ‚Büchse der Pandora‘?
Die Anrufung der Kategorie Pädophilie in aktuellen antifeministischen und antiqueeren Krisen-Diskursen
Katrin M. Kämpf | 109
Blessing the Crowds
Catholic Mobilisations against Gender in Europe
David Paternotte | 129
Gender Trouble evangelisch
Analyse und Standortbestimmung
Barbara Thiessen | 149
Familie und Vaterland in der Krise
Der extrem rechte Diskurs um Gender
Juliane Lang | 167
Der Osten Deutschlands als (negative) Avantgarde
Vom Kommunismus im Anti-Genderismus
Kathleen Heft | 183
Vom Antifeminismus zum ‚Anti-Genderismus‘
Eine zeitdiagnostische Betrachtung am Beispiel Schweiz
Andrea Maihofer und Franziska Schutzbach | 201
„Gender-Ideologie“ –
ein Schlüsselbegriff des polnischen Anti-Genderismus
Bożena Chołuj | 219
Paradoxien konservativen Protests
Das Beispiel der Bewegungen gegen Gleichstellung in der BRD
Jasmin Siri | 239