Sein Werk umfasst ein imponierendes Spektrum an Bereichen und Themen, und er hat ganze Generationen kritischer GesellschaftswissenschaftlerInnen geprägt. Wolfgang Fritz Haug, der eben gerade seinen achtzigsten Geburtstag gefeiert hat, ist einer der wichtigsten zeitgenössischen Theoretiker.
Im Aufsatz «Ist es einfach, im Marxismus Philosoph zu sein?» hat er 2013 die eigene intellektuelle und politische Entwicklung rekapituliert, und sie steht im Zeichen argumentativer Strenge und Aufrichtigkeit. «Das Argument»: So hiess auch die Flugblattserie, die der 23-jährige Wolf Haug als Philosophiestudent im Mai 1959 in Westberlin gestartet hatte: Aufrufe und Begründungen gegen die Atombombe und die deutsche Wiederaufrüstung, unterstützt von Persönlichkeiten wie Helmut Gollwitzer, Margherita von Brentano oder Günther Anders. Bald erschienen die Flugblätter, ausgebaut, als regelmässige Broschüre. Hier wurden die Themen behandelt, die in den Aktionen der Studentenbewegung später wieder spektakulärer auftauchten: Der französische Kolonialkrieg in Algerien, die Analyse des Antisemitismus, der Faschismus in Portugal, der hilflose Antifaschismus, das Verhältnis von Herrschaft und Sexualität, später die Kritik der bürgerlichen Wissenschaften und Erziehung.
Warenästhetik und Kapitalkurs
1971 veröffentlichte Haug in der edition suhrkamp den schmalen Band «Kritik der Warenästhetik», der zum Bestseller wurde. Werbung und Public Relations wurden darin nicht einfach abqualifiziert, sondern aus den ökonomischen Bedingungen entwickelt. Haug zeigte mit vielem Alltagsmaterial, wie sich aus dem Warentausch ästhetische Techniken und Verfahren herausbilden und wie die wiederum Verkäufer und Käufer als Subjekte prägen; und er entwickelte daraus eine Theorie zur Formierung der Sinnlichkeit sowie zum Beitrag, den die Warenästhetik zur Scheinlösung von gesellschaftlichen Widersprüchen leistet. Manches, was seither als Alltagskritik abgeliefert wird, fällt in der Genauigkeit weit hinter dieses Pionierwerk zurück.
An der Berliner Freien Universität begann Haug 1972 mit Vorlesungen zur Einführung ins «Kapital», und sie wurden sogleich zum Renner als Durchlauferhitzer einer Post-68er-Politisierung. Es war eine rigorose Schule. Haug führte dozierend durchs «Kapital», spannend, aber anstrengend, danach wurde in Arbeitsgruppen diskutiert, die sich ein- oder zweimal die Woche trafen. Politische Ökonomie wurde nicht auf handliche Parolen eingedämpft, es ging um den eigenständigen Nachvollzug der Marx’schen Argumentation. Tausende von StudentInnen absolvierten diese Schule in den folgenden drei Jahrzehnten, darunter auch etliche SchweizerInnen wie ich.
Haug ist ein Intellektueller wie aus dem Lehrbuch: scharf und brillant im Schreiben, ein eindringlicher Redner, dem man beim Verfertigen der Gedanken während des Analysierens zuhören kann. Sein Name mag nicht den gleichen Klang wie der einer Reihe jüngerer Marktschreier haben. Nach der «Kritik der Warenästhetik» gab es kein zweites Buch, mit dem er sich Aufsehen erregend im Feuilleton festgesetzt hätte. Dabei produzierte er kontinuierlich, vornehmlich für das «Argument»; diese Arbeiten sind in rund fünfundzwanzig Studien und Sammelbänden festgehalten. Mittlerweile liegen 313 «Argument»-Hefte vor; und die haben über die beschränkte Auflage und Reichweite hinaus auch immer (Selbst-)Qualifizierungscharakter, weil darin viele jüngere Mitarbeitende sich ein erstes Rüstzeug theoretischer Auseinandersetzung erarbeitet haben.
Kollektive Anstrengungen
Denn Wolfgang Fritz Haug ist einer, der mit seinem Wissen jederzeit in kollektive Anstrengungen eingebunden ist. Neben dem «Argument» und den Kapitalkursen waren das etwa das «Projekt Ideologie-Theorie», mit theoretischen Grundlagenanalysen ebenso wie Materialstudien (siehe dazu Stefan Howald zu den Theorien über Ideologie), die deutsche zehnbändige Ausgabe von Gramscis «Gefängnisheften» (1991–2002), neunzehn Jahre lang die Berliner Volksuni, und ab 1994 das «Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus» (HKWM), eine imposante internationale Koproduktion mit 800 Mitarbeitenden auf allen Kontinenten. Auf fünfzehn Bände angelegt, ist das Wörterbuch mittlerweile bei Band 8/II und dem selbstreflexiven Stichwort «Marxismus» angelangt (siehe Peter Jehle, «Pluraler Marxismus als Projekt»). In diesem Band hat es auf dreissig eng bedruckten Seiten auch eine Selbstverständigung von Haug unter dem Stichwort «Marxistsein/Marxistinsein», die uns alle angeht, die wir uns enger oder loser an die Marx’sche Theorie gebunden fühlen. Hinter dem Wörterbuch steht heute das lose mit anderen Stiftungen verbundene, unabhängige «Institut für kritische Theorie» mit jährlichen internationalen Konferenzen und einer eigenen Buchreihe.
Die Vergangenheit aufarbeitend, sind die Gransci-Ausgabe und das HKWM Werke für die Gegenwart, aber auch für die Zukunft.
Haugs eigene Arbeiten schrieb er zuweilen im direkten Handgemenge mit der Gegenwart, etwa im «Perestroika-Journal» (1990) oder in «Determinanten der postkommunistischen Situation» (1993), dann wieder als Grundlagenwerke wie «Philosophieren mit Brecht und Gramsci» (1996) und «Einführung in marxistisches Philosophieren» (2006). Am gewichtigsten unter den jüngeren Werken ist wohl der Band «High-Tech-Kapitalismus in der grossen Krise» (2012), in dem er das Verhältnis von Wirtschaft, Staat und Zivilgesellschaft ebenso grossräumig wie präzis bedenkt, vom neu-alten Finanzkapital und der Krise der Demokratie über die Frage nach der gegenwärtigen Form der Hegemonie bis zum Verhältnis von China und den USA.
Jahrhundertwende
Zum achtzigsten Geburtstag am 23. März ist soeben ein neues Buch ausgeliefert worden, Notizen aus den Jahren zwischen 1900 bis 2000, das der Verlag erhellend vorstellt:
«Einsetzend im Juni 1990 im Anschluss an sein ‹Perestrojka-Journal› zeigen Haugs Aufzeichnungen seine tägliche Auseinandersetzung mit den grossen Umbrüchen der bislang wenig aufgearbeiteten Dekade 1990 bis 2000: vom schrittweisen Zerreissen der Sowjetunion und der Abwicklung der DDR sowie der Zerstörung Jugoslawiens und weltweiten Börsenkrisen bis zu lateinamerikanischen Gegenpolitikversuchen. Es ist die Epoche der neoliberalen Konterreformen und des sich beschleunigenden Übergangs zum transnationalen Hightech-Kapitalismus, gestützt auf die weltweite Auskristallisierung des Internets und seiner ‹New Economy›.
In der Analyse zahlloser Einzelerscheinungen tritt der ungeheure, Mensch und Natur durch Raubbau, Konsumismus und Krieg verschleissende Welteroberungsschub des Kapitalismus ins Bild – zugleich mit der technischen und auch politisch-kulturellen Freisetzung ungeahnter Handlungsmöglichkeiten.
Um ihren Erklärungswert und ihre Tauglichkeit zum verändernden Eingriff auf die Probe zu stellen, zieht Haug die unterschiedlichsten Mittel der Erkenntnis und Kritik heran: Material-Analysen wechseln zu philosophischer Überlegung, Abklopfen künstlerischer Produktionsweisen aus Musik, Poesie, Theater steht neben Sondierung politischer Aktion. Immer wieder geht der Blick vom konkreten Einzelnen zu den Zusammenhängen.
Haugs Werk-Tagebuch beleuchtet und ruft in Erinnerung, wie die Weichen gestellt wurden für die Welt des beginnenden 21. Jahrhunderts. ‹Flüchtlingskrise›, ‹Asylanten-Verfolgung›, Wirtschaftskrisen, Kriege im Schatten des Geschichtsbruchs von 1989 und der deutschen Wiedervereinigung. Zugleich dokumentiert es Versuche Einzelner, sich in einer Welt der schwindelerregenden Umbrüche zu positionieren – gedanklich, politisch, existenziell, oft schmerzlich ohne Perspektive.
Für den Autor waren es die Jahre, in denen ihn die Übersetzung und kritische Ausgabe der Gefängnishefte Antonio Gramscis sowie die Herausgabe der ersten vier Bände des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus in Atem hielten und er sein ‹philosophisches Bekenntnis› ‹Philosophieren mit Brecht und Gramsci› veröffentlichte, dazwischen arbeitete er immer wieder an der materialanalytischen Gewinnung von Mosaiksteinchen für seine Theorie des Hightech-Kapitalismus.
Blitzartige Einsichten gibt es viele, doch fertige Gewissheiten bleiben in der Minderheit. Die Lektüre ist fesselnd und lösend zugleich, beim Lesen geht man durch eigene Zweifel, um wie der Autor teilzuhaben an den Versuchen, in der Perspektive einer solidarischen Gesellschaft ‹die eigene Weltauffassung bewusst und kritisch auszuarbeiten und folglich, im Zusammenhang mit dieser Anstrengung des eigenen Gehirns, die eigene Tätigkeitssphäre zu wählen, an der Hervorbringung der Weltgeschichte aktiv teilzunehmen› (Gramsci).»
Wolfgang Fritz Haug: «Jahrhundertwende. Werkstatt-Journal 1990 bis 2000». Argument-Verlag, Hamburg 2016. Gebunden. 880 Seiten. 38 Euro / Fr. 46.90.