Der Erfolg gegen die Durchsetzungsinitiative sei dem Erwachen der Zivilgesellschaft geschuldet. Dies mag richtig sein, zeugt aber gleichzeitig von einer falschen Hoffnung auf diejenigen Kräfte, die sich einer staatstragenden Argumentation bedienen. Um dies einordnen zu können, lohnt sich ein Blick auf den Begriff der Zivilgesellschaft, denn dieser wird zugleich falsch verstanden, wie er damit Richtiges blossstellt.
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Den „Durchmarsch der Zivilgesellschaft“[1] betitelt die NZZ ihren Artikel zur Abstimmungsniederlage der SVP am 28. Februar 2016, als „Sieg der Zivilgesellschaft“[2] lässt die Pendlerzeitung 20 Minuten den Abstimmungssonntag im Namen der SVP-Gegner Revue passieren und SP-Präsident und Ständerat Christian Levrat doppelt im gleichen Sinne frohlockend nach: „Die Zivilgesellschaft ist erwacht und hat klargemacht, dass sie Rechtsstaat, Minderheitenschutz und Menschlichkeit über Fremdenfeindlichkeit und den totalitären Machtanspruch einer einzelnen Partei stellt.“[3] Dass sich die Zivilgesellschaft der Verteidigung des Rechtsstaates verschrieben hat und dass der Präsident einer Regierungspartei als Vermittler und die frohe Botschaft verkündender Vertreter einer vermeintlichen Basisbewegung in Erscheinung tritt, ist bereits im Begriff der Zivilgesellschaft mit angelegt. Denn im Kontrast zu seinen positiven Konnotationen beinhaltet dieser – vor dem Hintergrund der normativen Kraft des Faktischen – stets ein staatstragendes Moment.
Um diese These zu erläutern, soll im Folgenden der Blick auf einige der marxistischen TheoretikerInnen der Zivilgesellschaft gelenkt werden. Dabei geht es nicht primär darum, dass aktuell der Begriff falsch verwendet würde – die Zivilgesellschaft hat von Hegel über Marx bis zu neoliberalen TheoretikerInnen so viele Gesichter, wie es einem Begriff nur möglich ist –,[4] sondern es geht um den Gedanken, dass im vermeintlich progressiven Bezug auf die Zivilgesellschaft – ob bewusst oder unbewusst sei dahingestellt – jene Elemente reproduziert werden, die bei den marxistischen TheoretikerInnen als staatstragend verstanden werden. Und selbstredend ist nicht der Widerstand gegen die SVP-Initiative falsch, sondern die Hoffnung, dass dieser von der Zivilgesellschaft angeführt werden könnte.
Zivilgesellschaft und ideologische Reproduktion bei Gramsci, Althusser und Poulantzas
Wer über die Zivilgesellschaft sprechen will, kommt nicht umhin, sich mit den fast schon als geflügelte Worte geltenden Bemerkungen von Antonio Gramsci über die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Veränderung politischer Ordnungen zu befassen:
„Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand; von Staat zu Staat mehr oder weniger, versteht sich, aber gerade dies verlangte eine genaue Erkundung nationaler Art.“[5]
Was Gramsci in diesen wenigen Zeilen zu beantworten versucht, ist die Frage, wieso sich in Russland die revolutionären Kräfte durchsetzen konnten, während sie andernorts scheiterten. Gramsci führt dies unter anderem darauf zurück, dass es in Russland keine Zivilgesellschaft gab, die den gesellschaftlichen Status quo ideologisch stützen konnte. Während die repressive Kraft, also der Staat in seinem Gewaltmonopol, nach den Ereignissen des Ersten Weltkrieges durchaus auch andernorts durchbrochen wurde (man vergleiche beispielsweise die Vorkommnisse in Deutschland, die von den Arbeiter- und Soldatenräten 1918 bis zum mitteldeutschen Aufstand 1921 reichten), konnte die ideologisch wirkende Zivilgesellschaft ausserhalb von Russland nicht umgestürzt werden. Statt wie im Zarenreich – wie dies der revolutionären Losung des Zusatzprotokolls aus der Konferenz von Zimmerwald entsprach – vom Stellungskrieg in einen revolutionären Bürgerkrieg überzugehen, mussten revolutionäre Kräfte in Zentraleuropa zurück in die Schützengräben, um von dort die „robuste Struktur“ der Zivilgesellschaft anzugreifen zu suchen.
Dieser Erkenntnis entspricht Gramscis bekannte Formel – „Staat = politische Gesellschaft und Zivilgesellschaft, das heisst Hegemonie, gepanzert mit Zwang“[6] –, worin die Zivilgesellschaft, also diejenigen Apparate, die im „Alltagsverstand“[7] über vielfältig institutionalisierte Vermittlungsprozesse eine Zustimmung zu den herrschenden Verhältnissen ermöglichen, und die repressive politische Kraft als die beiden staatstragenden Elemente ausgemacht werden. Aus solchen analytischen Bemerkungen vonseiten Gramscis leitet sich auch die von linken parlamentarischen Kräften gerne verwendete Argumentationslinie ab, wonach der Kampf in den Schützengräben als eben jene Schlacht um die Deutungshoheit der Zivilgesellschaft zu charakterisieren ist; wie die Faust aufs Auge passt da, dass zwei Tage nach der Abstimmung Neogramscianer Cédric Wermuth in einem offenen Brief an die Zivilgesellschaft wissen liess, wie komplex der Kampf um jene sei.[8]
Doch „nichts, aber rein gar nichts ist an der Zivilgesellschaft neutral oder ungewertet“.[9] Die Zivilgesellschaft ist nicht einfach eine leere Fläche, die es zu erobern gilt, sondern Teil der herrschenden Hegemonie, die die Festung der bürgerlichen Gesellschaft noch viel stärker zumauert. Zudem blendet der Versuch, Gramscis Begriff der Zivilgesellschaft im Sinne einer strategischen Eroberungsfläche zu verwenden, aus, dass dieser mit einer komplexen organischen Denkweise verbunden ist, nach welcher von einer Einheit der staatlichen und der zivilgesellschaftlichen Macht ausgegangen werden muss, bei der das Primat des Ökonomischen durchaus mitgedacht wurde. Andernorts wird das auf die Formel gebracht: „Im konkreten Leben sind politische Gesellschaft und bürgerliche Gesellschaft ein und dieselbe Sache“.[10] Die Gramsci-Expertin Sabine Kebir macht in diesem Kontext deutlich, dass Gramsci mit seinen Begriffen der Zivilgesellschaft und der Hegemonie ein methodisches Werkzeug überlieferte, nicht jedoch die Gebrauchsanleitung für die politische Übernahme eines bestimmten Bestandteils des sozialen Ganzen.
Wie stark dabei die Wirtschaft als Determinante auftritt, untersuchte Gramsci unter anderem anhand der fordistischen Produktionsordnung in den Vereinigten Staaten. So schreibt er beispielsweise über das Verhältnis von der Hegemonie zur Fabrik: „Die Hegemonie kommt aus der Fabrik und braucht nur eine minimale Menge von professionellen Vermittlern der Politik und der Ideologie.“[11] Damit wird deutlich, welche Rolle die Hegemonie innerhalb einer Gesellschaft einnimmt: Auch wenn es analog zum Schützengraben beständig Einschnitte und neue Frontverläufe gibt, gewährleistet die Hegemonie doch das Funktionieren des sozialen Ganzen unter sich verändernden Umständen. Um die daraus resultierende Einheit von ökonomischer und zivilgesellschaftlicher Macht denken zu können, entwickelte Louis Althusser später den auf Gramsci aufbauenden und diesen gleichzeitig in verschiedenen Punkten kritisierenden Begriff der „ideologischen Staatsapparate“, worin in Abgrenzung zu den „repressiven Staatsapparaten“ all jene sozialisierenden Institutionen und Verhältnisse mitgedacht werden, die beim Subjekt im Verlauf seines Lebens ein affirmatives falsches Bewusstsein herausbilden.[12] Will man dies theoretisch weiterdenken, bedeutet das nicht nur, dass die Funktion der Staatsapparate darin besteht, die ideologische Reproduktion und die Legitimation der herrschenden Normen zu gewährleisten, sondern darüber hinaus, dass es dabei um die Reproduktion der Produktionsbedingungen überhaupt geht, wie dies Nicos Poulantzas später in seiner Staatstheorie als kritische Anmerkung zu Althusser formulierte.[13] Versucht man das zu einer These zusammenzufassen, dann liesse sich sagen, dass die Zivilgesellschaft im Sinne einer ideologisch staatstragenden Kraft – obwohl dieser Bereich bei Poulantzas selbst vernachlässigt wurde –,[14] ein erweiterndes Element der Reproduktionsfunktion des kapitalistischen Staates ist.
Kampagnen gegen die Durchsetzungsinitiative und die Reproduktion von Ausgrenzung und Ausbeutung
Diese theoretischen Bemerkungen sind hier insofern von Interesse, als dass es die Bezüge zu Gramsci, Althusser und Poulantzas ermöglichen, den Abstimmungsverlauf der letzten Monate tatsächlich als Erstarken der Zivilgesellschaft zu erfassen – jedoch einer solchen, der entgegen dem Alltagsverständnis des Begriffs wenig Progressives anhaftet. So wurde von linker und liberaler Seite nicht nur mit dem Wirtschaftsstandort Schweiz und der Verteidigung des Rechtsstaates geworben, sondern ebenso mit einer vermeintlichen kulturellen Identität, die es gegen die Angriffe von Rechts zu schützen gälte. Mit dem Slogan „Sie schadet dem Rechtsstaat, sie schadet der Wirtschaft, sie schadet der Schweiz“ warb beispielsweise der „Dringende Aufruf“ in einem Inserat gegen die SVP-Initiative, eine namhafte Exponentin der Operation Libero wetterte gegen den mit der Durchsetzungsinitiative geforderten Rechts-Automatismus mit den Worten „so etwas gibt es sonst nur in der Scharia“, und das Komitee gegen die Durchsetzungsinitiative warnte mit seiner Abrissbirne davor, dass die „Grundwerte“ der Schweiz in Gefahr seien. Bei allen drei Beispielen geht es um die Abgrenzung des Eigenen zum falschen Fremden, wobei der Rechtsstaat, der Wirtschaftsstandort und die persönliche Sicherheit als prägende Merkmale der eigenen Identität erscheinen. Dabei soll die Zivilgesellschaft dasjenige schützen, was als Grundbedingung für das gegenwärtige gesellschaftliche Zusammenleben ausgemacht wird, oder eben das, was als erweiterte Reproduktionsbedingungen verstanden werden kann. Freilich vollziehen die verschiedenen Komitees nur begrenzt tatsächliche Wirtschaftsanalysen darüber, was denn nun Grundbedingung für die lokale Kapitalakkumulation ist, doch sie richten ihre politische Praxis eben danach, was gefühlsmässig als für den Wirtschaftsstandort notwendig wahrgenommen wird. So manifestiert sich das latent falsche Bewusstsein darüber, eine staatstragende Kraft zu sein (oder auch nur eine solche sein zu wollen), exemplarisch in der durchgehend formulierten Angst davor, dass mit der Durchsetzungsinitiative die schweizerische Wirtschaft gefährdet sei.
Die verschiedenen Kampagnen gegen die Durchsetzungsinitiative entpuppten sich damit als Ausdruck der Dialektik der Aufklärung, die in ihrem Drang, die Menschen in den zivilgesellschaftlichen Fortschritt einzugliedern, in jenen Prozess umschlägt, worin Ausgrenzung und Ausbeutung beständig reproduziert werden. Dabei geht es hier nicht einfach um den Vorwurf der reproduzierten Ausgrenzung gegenüber einer links-liberalen Zivilgesellschaft, die sich in ihrem aufklärerischen Gestus als Elite gebärdet, sondern um die Feststellung, dass sich darin im Kleinen jener Prozess abspielt, über den sich im sozialen Ganzen der kapitalistische Staat ständig von neuem reproduziert. Zuerst wollen die zentralen Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung der Produktionsbedingungen ausgemacht sein und dann werden in einem zweiten Schritt Forderungen aufgestellt, wie diese auch zukünftig zu gewährleisten sind. So erscheinen in den wirtschaftspolitischen Argumentarien der Operation Libero etwa vielsagende Sätze wie: „Ein offener Arbeitsmarkt ist Grundstein für unseren Wohlstand.“ Oder auch: „Unsere Wirtschaft ist so erfolgreich, weil sie die Chancen der Globalisierung zu nutzen weiss: In unseren Unternehmen und Universitäten zählt nicht Herkunft, sondern Leistung und der Wille zur Innovation.“[15] Dass das Leistungsprinzip zum Grundstein erhoben und damit eine offene Arbeitsmarktpolitik gefordert wird, zeigt nicht nur, wie stark die Operation Libero im Denken einer kapitalistischen Ratio verhaftet ist, sondern eben auch, wie im Kontext der Migrationspolitik die ideologischen Voraussetzungen der Kapitalakkumulation reproduziert werden.[16]
Vergleichbares liess das NGO-Komitee gegen die Durchsetzungsinitiative verlauten: „Dies schadet dem Ruf der Schweiz als Wirtschaftsstandort nachhaltig.“[17] Kein Wunder griff selbst die Economiesuisse dies auf und schrieb fast wortgleich: „Damit schadet die Initiative dem Ruf der Schweiz als Wirtschaftsstandort mit hoher Rechtssicherheit.“[18] Und will man dies noch ein wenig ausweiten, dann könnte man getrost auch die Kampagne gegen das Lohndumping im Kanton Zürich mit ihren ganzseitigen Inseraten unter der Überschrift „Polnische Löhne gehören nach Warschau“ hinzuzählen. Es hat also ganz den Anschein, dass in den vergangenen Monaten die diskursive Deutungshoheit tatsächlich bei jenen Kräften lag, die man als Zivilgesellschaft im dargelegten staatstragenden Sinn bezeichnen könnte, und dass sich deren Argumentationsweise mehr und mehr auszubreiten begann.
Natürlich wäre es realitätsfremd, diese verschiedenen Gruppen – abgesehen vielleicht von der Economiesuisse – für die herrschenden Produktionsbedingungen verantwortlich zu machen; gleichzeitig aber lässt sich mit Gramsci, Althusser oder Poulantzas eben sagen, dass die Zivilgesellschaft ihren Beitrag zur Aufrechterhaltung des kapitalistischen Status quo leistet, genauso wie die genannten Gegenkomitees ihren Beitrag zur Aufrechterhaltung der Zivilgesellschaft leisten.[19]
Die Ausrufung zivilgesellschaftlicher Aufstände und politischer Widerstand jenseits davon
Dass die Zivilgesellschaft als Grundpfeiler der angeblich zu verteidigenden zivilisatorischen Errungenschaften wirkt, zeigte sich bei der Durchsetzungsinitiative nicht zum ersten Mal in solcher Deutlichkeit. Vielmehr lässt sich im deutschsprachigen Raum seit gut dreissig Jahren ein Zyklus beobachten, worin immer dann, wenn die sicher geglaubte zivilisatorische Moral punktuell verfällt, der Bürger in einer Übertragung staatlicher Aufgaben mit kräftiger Unterstützung institutionalisierter Parteien und Organisationen den Status quo wiederherstellen soll: Das war so, als im Jahre 1991 im sächsischen Hoyerswerda Flüchtlingswohnungen angegriffen wurden und als Reaktion darauf eine starke Zivilgesellschaft aufgebaut werden sollte; das war so, als im Jahre 2000 in Düsseldorf ein Brandanschlag auf eine Synagoge stattfand und die SPD unter Kanzler Gerhard Schröder daraufhin zum „Aufstand der Anständigen“ aufrief; und das war eben auch so, als die SVP im letzten Herbst einen erneuten Wahlsieg davontrug und die Sozialdemokratie in der Folge auch hierzulande einen solchen Aufstand der Anständigen ausrief. Darin äussert sich das alte Problem, dass das, was historisch durchaus als Fortschritt gelesen werden kann, unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen gleichzeitig als Bestätigung der herrschenden Zustände auftritt, wie dies bei Karl Marx schon durch die Darlegung der Doppelrolle der Menschenrechte thematisiert wurde.[20] „Der Erfolg hebt seine Voraussetzungen auf“,[21] formulierte dies Herbert Marcuse in seiner Studie zum eindimensionalen Menschen.
Solche Aufstände der Zivilgesellschaft werden von der Vorstellung getragen, dass aufgeklärte Bürger die Zivilisation dorthin zurücktragen sollen, wo sie verloren geglaubt wird. Dies liess sich im Jahre 2000 beobachten, als Gerhard Schröder in seinem Aufstand der Anständigen engagierte Bürger die Regierungspolitik in die Dörfer tragen liess, was er als Bewegung von unten zu verkaufen suchte. Genau gleich lässt sich dies fünfzehn Jahre später bei der Schwesterpartei, der SP Schweiz, beobachten, die im letzten Jahr im Rahmen der Wahl- und Migrationsdebatten zu einem solchen zivilgesellschaftlichen Aufstand aufrief, um darüber zu diskutieren, wie mit den gegenwärtigen globalen Flucht- und Rechtsbewegungen umgegangen werden soll, während ihre Bundesrätin das Migrationsdepartement innehatte. Im Rahmen der zivilgesellschaftlichen rechtsstaatlichen Ansprüche wird dabei die formale Gleichheit der materiellen Gleichheit übergeordnet, und so ist es auch kein Zufall, dass bei solchen Aufständen auch eine gehörige Portion antiproletarischen Klassenhasses mitschwingt. Statt sich auf die analytischen Grundkategorien zu stützen und den Klassencharakter der angeprangerten Rechtsbewegung in den Fokus zu stellen und statt sich zu fragen, inwiefern Migrationspolitik auch Arbeitsmarktpolitik ist, geht es um den Versuch einer Abgrenzung, deren dichotome Linie sich zwischen gebildeten und ungebildeten, zwischen städtischen und ländlichen oder zwischen aufgeklärten und nicht-aufgeklärten BürgerInnen hindurchzieht; was ganz der Vorstellung einer selbsternannten Elite entspricht, dass es da draussen Leute gebe, die noch nicht in die Zivilgesellschaft eingebettet sind, und dass dies schnellstmöglich nachgeholt werden sollte.
Dass der Ruf nach der Zivilgesellschaft, trotz des Wissens um die affirmativen Implikationen gegenüber den herrschenden Zuständen, heute bei linken Kräften so omnipräsent erscheint, hat auch mit den Kräfteverschiebungen im europäischen Politikfeld zu tun. Einem Teil des gegenwärtig von linksreformistischen Akteuren formulierten Anspruchs an die ominöse Zivilgesellschaft liegt die Hoffnung inne, dass die im Zuge der historischen Spaltung zugewiesene aber mittlerweile verlorene reformistische Rolle der Sozialdemokratie erneuert werden kann. Beflügelt von den Wahlerfolgen radikalreformistischer Parteien in Griechenland (Syriza) und Spanien (Podemos, Barcelona en Comú) sollen die parlamentarische Linke und die mit ihr verbündeten Organisationen auch hierzulande zu ihren reformistischen Ursprüngen zurückkehren – etwas, das freilich nur unter einiger Nachsicht über die ebenso rasante Niederlage im nationalen Parlament in Griechenland beziehungsweise in den kommunalen Parlamenten in Spanien geschehen kann. Ginge es nach denjenigen Kräften, die von linker Seite her am lautesten nach der Zivilgesellschaft rufen, würde man, statt sich dem lähmenden Konsensprinzip hinzugeben, vermehrt wieder die Möglichkeiten parlamentarischer Politik ausloten, was sich in der vergangenen Abstimmungskampagne nicht zuletzt in der Angleichung propagandistischer Mittel an die Ästhetik der SVP niederschlug. Was als Bewegungsdrang durchaus löblich erscheint, bekämpft in seinem zivilgesellschaftlichen Anspruch gleichzeitig aber dasjenige, was sich tatsächlich bewegt; es ist dies ein Verhältnis, das sich prägend über den Zürcher Polizeichef Richard Wolff von der Alternativen Liste manifestiert, der die Möglichkeiten der Exekutive ausprobieren wollte und nun wie kaum ein Zweiter den repressiven Staatsapparat verwaltet. Zivilgesellschaft heisst eben auch, dass es, wie dies Althusser mehrmals beschreibt, offiziell anerkannte Formen der Politik gibt, an welchen sich unter gleichzeitigem Ausschluss anderer Möglichkeiten der Staatsbürger beteiligen soll. So ist es auch kein Zufall, dass mit der breitgefächerten Kampagne gegen die SVP-Initiative gleichzeitig eine schon lange nicht mehr dagewesene Mobilmachung stattfand, deren Kernforderung im Grunde darin bestand, sich endlich seiner staatsbürgerlichen Pflichten bewusst zu werden. Kein Wunder ist man sich dann auch über die gesamte politische Landschaft hinweg darüber einig, dass die hohe Wahlbeteiligung als grundlegender Erfolg der neuen Zivilgesellschaft zu bewerten sei.
Dass dennoch andere Formen des politischen Widerstands möglich sind, zeigte der Sonntagabend, als sich in Zürich, als die Abstimmungsniederlage der SVP schon längst bekannt war, eine Demonstration gegen rassistische Politik formierte, die sich nicht zuletzt aus denjenigen Elementen zusammensetzte, welche sich bewusst nicht an der Zivilgesellschaft beteiligen wollen und dadurch überhaupt erst auf einen gesellschaftlichen Wandel hinarbeiten. Die Zivilgesellschaft gehört, um es am Ende drastisch zu formulieren, zerstört und nicht gestärkt, und genau dieser zerstörerische Prozess wäre gleichzeitig Ausdruck eines progressiven Aufbauprozesses.
[1] Gemperli, Simin: Durchmarsch der Zivilgesellschaft (Url: http://www.nzz.ch/schweiz/durchmarsch-der-zivilgesellschaft-1.18703165; Abrufdatum: 02.03.2016).
[2] «Wir sind bequem geworden» (Url: http://www.20min.ch/schweiz/news/story/Durchsetzungsinitiative-scheitert-am-Staendemehr-31005805; Abrufdatum: 02.03.2016).
[3] SP Schweiz: Historischer Sieg der Bevölkerung über totalitären Machtanspruch der SVP. Medienmitteilung vom 28. Februar 2016 (Url: http://www.sp-ps.ch/de/publikationen/medienmitteilungen/historischer-sieg-der-bevolkerung-uber-totalitaren-machtanspruch; Abrufdatum: 02.03.2016).
[4] Vgl. beispielsweise Reiter, Karl: Zivilgesellschaft – ein Fehlbegriff? In: Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst, 56. Jahrgang 2001, Nr. 1., S. 12-23.
[5] Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, H. 7, § 16, S. 874.
[6] Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, H. 4, § 88, S. 783.
[7] Vgl. HKWM 1, 1994, Spalten 162-167.
[8] Wermuth, Cédric: Liebe Zivilgesellschaft, wir müssen reden – ein kritischer Liebesbrief (Url: http://cedricwermuth.ch/liebe-zivilgesellschaft-wir-muessen-reden-ein-kritischer-liebesbrief/; Abrufdatum: 02.03.2016).
[9] Krieger, Verena: „Gramscis Zivilgesellschaft – ein affirmativer oder ein kritischer Begriff?“, in: „Kulturen des Widerstands. Texte zu Antonio Gramsci“. Hg. von Johanna Borok, Birge Krondorfer, Julius Mende, Wien 1993, S. 63. Zitiert nach: Reiter, Karl: Zivilgesellschaft – ein Fehlbegriff? S. 13.
[10] Gramsci, Antonio, zitiert nach Kebir, Sabine: Die Kulturkonzeption Antonio Gramscis: auf dem Wege zur antifaschistischen Volksfront, Berlin 1980, S. 55. Mit Kebirs Angaben lässt sich das Zitat nicht unmittelbar nachweisen.
[11] Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, H. 22, § 1, S. 2069.
[12] Vgl. Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate, 1. Halbband. Hg. von Frieder Otto Wolf, Hamburg 2010; vgl. Althusser, Louis: Über die Reproduktion, Ideologie und ideologische Staatsapparate, 2. Halbband. Hg. von Frieder Otto Wolf, Hamburg 2012.
[13] Vgl. Poulantzas, Nicos: Staatstheorie: politischer Überbau, Ideologie, autoritärer Etatismus; Hamburg 2002.
[14] Vgl. Hirsch, Joachim: Politische Dimensionen einer Theorierezeption. Die Staatstheorie von Nicos Poulantzas (Url: http://www.links-netz.de/K_texte/K_hirsch_poulantzas.html; Abrufdatum: 02.03.2016).
[15] Operation Libero: Positionen: Offener Arbeitsmarkt: Personenfreizügigkeit erhalten, Drittstaaten-Zuwanderung liberalisieren (Url: http://www.operation-libero.ch/de/arbeitsmarkt; Abrufdatum: 02.03.2016).
[16] Freilich gibt es auch innerhalb der herrschenden Klasse keine Einheit darüber, ob denn nun geschlossene Grenzen und die damit geforderte Sicherheitspolitik oder der offene Arbeitsmarkt einen profitreicheren Weg in die Zukunft weist.
[17] Argumentarium gegen die Durchsetzungsinitiative (Url: http://www.durchsetzungsinitiative-nein.ch/argumentarium; Abrufdatum: 02.03.2016).
[18] Economiesuisse: Medienmitteilung 27.11.2015 (Url: http://www.economiesuisse.ch/de/medienmitteilung/abstimmungsparolen-zum-28-februar; Abrufdatum: 02.03.2016).
[19] Vor allem Gramsci kennt jedoch auch etwas, was man als kulturellen Widerstand oder Gegenhegemonie definieren könnte. Dieses vielfältige Feld der politischen Widerstandsbewegungen unterscheidet sich aber von der dargestellten Zivilgesellschaft, was sich exemplarisch nicht zuletzt in den verschiedenen in Zürich durchgeführten Umzügen manifestierte, die keine Demos sein sollten, sondern explizit nur dafür da waren, kollektiv sein Wahlcouvert einzuwerfen. Allerdings bewegte sich damit gleichzeitig das politische Subjekt von den Betroffenen der Initiative selbst weg, denn denen ist es rechtlich eben untersagt, ein solches Couvert überhaupt einzuwerfen und damit am artikulierten Höhepunkt der Umzüge teilzunehmen. Ein Vorwurf, der nicht gegen jene gerichtet sein soll, die sich an solchen Versuchen, Widerstand auf die Strasse zu tragen, beteiligten, sondern gegen die Definitionsmacht der Zivilgesellschaft, die solchen Formen des Widerstands gegen die SVP den staatstragenden Charakter verleiht.
[20] Vgl. Marx, Karl: Zur Judenfrage, in: MEW 1, S. 361-370.
[21] Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Schriften, Band 7, Springe 2004. S. 21.
Auf den vorliegenden Text reagieren David Hunziker mit dem Beitrag «Die Absage an die Zivilgesellschaft und die Privatisierung der Revolution» sowie Stefan Howald mit dem Beitrag «Eidgenossen auf dem Eis. Und anderes zur Zivilgesellschaft» auf theoriekritik.ch.
Vindicator
Sehr gute Analyse. In einigen Punkten jedoch ungenau. Hier ein Beispiel:
«Oder auch: „Unsere Wirtschaft ist so erfolgreich, weil sie die Chancen der Globalisierung zu nutzen weiss: In unseren Unternehmen und Universitäten zählt nicht Herkunft, sondern Leistung und der Wille zur Innovation.“[15] Dass das Leistungsprinzip zum Grundstein erhoben und damit eine offene Arbeitsmarktpolitik gefordert wird, zeigt nicht nur, wie stark die Operation Libero im Denken einer kapitalistischen Ratio verhaftet ist, sondern eben auch, wie im Kontext der Migrationspolitik die ideologischen Voraussetzungen der Kapitalakkumulation reproduziert werden.»
>wie stark die Operation Libero im Denken einer kapitalistischen Ratio verhaftet ist
Ich persönlich würde mich davor hüten, von der Äusserung direkt auf das Denken einer Organisation zu schliessen. Dazu noch die Aussage zu machen, die Organisation sei in diesem Denken verhaftet. Das lässt die Möglichkeit, taktisch zu formulieren, ohne dass zwingenderweise der Sachverhalt so betrachtet wird, ausser Acht.
Herzlich, der Vindicator.