Gibt es in der marxistischen Geldtheorie möglicherweise einen blinden Fleck? Christoph Türcke möchte den Marxismus um eine Analyse unseres „kollektiven Trieblebens“, das sich aus der Logik des Geldes heraus ergibt, ergänzen.
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Fragestellung: Warum der Hang des Geldes zur Schaffung von Mehrwert?
Die klassische Definition des Geldes – auch bei Marx – gehe auf den Tausch zurück, legt Türcke in seinem Buch Mehr! Philosophie des Geldes dar. Die Arbeitskraft erwirbt im Tausch gegen ihre Verausgabung ein bestimmtes Quantum an Gütern. So griffig und so zutreffend diese Definition heutzutage auch immer noch sein mag, nach Türcke lassen sich Geld und folglich auch die wiederkehrenden – heute besonders virulenten – Krisen der modernen Geldwirtschaft allein damit nicht verstehen. Schon Marx’ Anstrengungen hätten schliesslich weniger einer Analyse des Tauschmarkts, als vielmehr der Suche nach einer Erklärung für die „Plusmacherei“ (S. 89) gegolten, einen dem Geld scheinbar inhärenten Antrieb zur Vermehrung, schreibt Türcke.
Kernthese: Kaufkraft als Ausdruck priesterlicher Praxis
Das entscheidende Element für das Verständnis des Geldes ist, nach Türcke, das Mysterium der Kaufkraft. Halb historische Abhandlung, halb philosophische Spekulation versucht Türckes Buch dem Geheimnis der Kaufkraft in einem ersten Schritt mittels einer „Genealogie des Geldes“ und in einem zweiten Schritt mittels einer Analyse des „Systems des Geldes“ auf die Spur zu kommen. Mit teilweise abenteuerlich anmutenden Rekursen auf steinzeitliche Ursprünge, die vor allem als Subtext des Alten Testaments (und anderer alter Texte) greifbar würden, leitet Türcke Kaufkraft und damit Geld aus dem (Menschen-)Opfer ab, das zur Besänftigung der Naturgewalten und – als Reenactment der den steinzeitlichen Gemeinschaften widerfahrenden schmerzlichen Geschehnisse wie beispielsweise tödlicher Unfälle – der Schreckensbewältigung diente.
Opfer sollten dabei zur Tilgung einer Schuld beitragen, die in Katastrophen, die regelmässig über die steinzeitlichen Kollektive hereinbrachen, manifest wurde, führt Türcke aus. Unabhängig davon, wie zutreffend Türckes Spekulationen zur Steinzeit sein mögen: Der springende Punkt, der sich anhand späterer, vor allem griechisch-antiker, aber auch mesopotamischer und fernöstlicher Quellen auch besser belegen lässt, ist der Zusammenhang des Geldes mit priesterlicher Praxis – der Aufladung eines Materials, wie Gold, mit Kaufkraft. Demzufolge wurden Tempelschätze reinvestiert und teils zur erneuten Opferung, teils zur Finanzierung kaufmännischer Unternehmungen verwendet. Geld im Zusammenhang der heutigen Ökonomie, so die Schlussfolgerung, ist ein allmählich profaniertes Zahlungsmittel.
Anhand unterschiedlichster historischer Beispiele, die von der Entstehung der antik-griechischen Agora über die antik-römische Fiskalwirtschaft und die mittelalterliche Ökonomie bis hin zur Herausbildung moderner Zentralbanken reichen, spielt Türcke seine Theorie der Kaufkraft durch. Im Kern geht es ihm darum, den in Schieflage geratenen Begriff der Schätzung wieder ins Lot zu bringen. Denn dem Begriff der Schätzung wohnt, so Türcke, eine Doppelbedeutung inne. Er lässt sich sowohl quantitativ als auch qualitativ verstehen. Und beide Bedeutungen sind für die Ökonomie gleichermassen zentral. So kann es nicht nur darum gehen, den Tauschwert (quantitative Schätzung) einer Ware auf dem Markt festzulegen, sondern es muss auch um die Frage gehen, warum eine Ware überhaupt einen Wert (qualitative Schätzung) bzw. warum ein Zahlungsmittel überhaut Kaufkraft haben soll. Der quantitativ angelegten Definition des Geldes von Marx fehlt also, Türckes Argumentation zufolge, die qualitative Voraussetzung. Im Kontext der modernen, ungeheuer differenzierten Warenproduktion ist die Frage der Wertschätzung vielleicht tatsächlich höchst mysteriös und eine Antwort auf diese Frage nur schwer zu geben.
Schlussfolgerung: Das antinomische Kraftfeld der Geldwirtschaft
Türcke versucht mit seiner Philosophie des Geldes die Grundlage für eine Kritik der marktliberalen „Gleichgewichtsphantasie“ (S. 457) zu liefern, wonach sich eine deregulierte Wirtschaft von selbst ins Lot bringen werde – mithin zu einem Ausgleich zwischen Beschäftigung, Wirtschafts- und Wohlstandswachstum sowie Preisstabilität. Türcke zufolge ist die markliberale Gleichgewichtshoffnung ebenso utopisch wie ihr historisches Gegenstück, die „kommunistischen Zusammenbruchsphantasien“ (S. 457), wonach das kapitalistische Wirtschaftssystem endlich zusammenbrechen und einer sozialeren Praxis weichen würde. Dass die marktliberale Doktrin utopisch ist, lasse sich eben gerade aus dem asymmetrischen Ursprung des Geldes erschliessen: Es entstand als Zahlungsmittel für eine imaginierte Schuld, die ihres imaginären Charakters wegen auch nicht abschliessend getilgt werden kann. Und vor diesem Hintergrund einer asymmetrischen Geldursprungstheorie kann natürlich auch die marxistische Deutung des Geldes als Äquivalenzmassstab für Arbeits- und Güterquantitäten nicht verfangen. Schlicht und einfach, weil es diese Äquivalenz nicht gibt. Das Mittel, das ursprünglich jede Schuld zum Verschwinden hätte bringen sollen, ist selbst Quelle von Schulden geworden. Geld, so Türckes Einsicht, ist ein paradoxer Gegenstand. Das in ihm ausgedrückte „Triebleben“ (S. 467) folgt dem Mechanismus des Ersatzes, der zur Sache selbst geworden ist. Dies ist nur folgerichtig: Der im Geld aufgespeicherte Wunsch versucht mit der Logik eines Zahlungsmittels überhaupt jede Zahlung obsolet zu machen, wodurch Geld und mit ihm „alle Zahlung einen utopischen Überschuss“ (S. 467) erhält. – Wozu ist dann aber das Geld da? So bleibt in einer marktliberalen Zeit auch die kommunistische Utopie, die – genauso wie die biblische Imagination eines Landes, wo Milch und Honig fliessen – Geld überflüssig machen wollte, zwangsläufig erhalten. So lautet Türckes Fazit: „Das ‚Gespenst des Kommunismus‘ lebt – zwar nicht als Vorbote des wirklichen Kommunismus, wie Marx hoffte, wohl aber als pain in the neck, den kein Geldsystem je wird abschütteln können.“ (S. 467)
Türckes Geldphilosophie endet denn auch auf einer dezidiert realistischen – oder, wenn man will, dystopischen – Note. Die Geldwirtschaft bewege sich in einem „antinomischen Kraftfeld“ (S. 464) zwischen Marktliberalismus und Kommunismus. Der eine Pol sei gegen den anderen stark und umgekehrt. Aber keiner könne für sich die erwünschte Stabilität erreichen. So gelte es, sich in diesem Kraftfeld „vernünftig zu bewegen“ (S. 464). Was letztlich so viel heisst, wie dem einen mit den Mitteln des anderen immer wieder Gegensteuer geben. Das Geld hingegen verschwindet nicht: Es ist im Grunde genommen eine anthropologische Konstante. So redet Türcke einem stetigen Reformismus das Wort. Ob das jedoch, in Anbetracht einer zumindest faszinierenden und vielleicht sogar luziden weniger Philosophie, als vielmehr Psychologie des Geldes, nicht ein etwas dürftiges Fazit ist?
Christoph Türcke: Mehr! Philosophie des Geldes. C. H. Beck Verlag, München 2015, 490 Seiten.
Über Christoph Türckes Philosophie der Geldes « wissensteilung
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