Bis Dienstag, den 23. Februar, haben sich über 15’000 Menschen als Mitglieder der neuen Bewegung «Demokratie in Europa» gemeldet. Grundlage der Mitgliedschaft ist das Manifest für eine Demokratisierung Europas (http://diem25.org). Das Manifest ist in neun Sprachen aufgeschaltet, darunter auf Spanisch, Französisch, Deutsch, Niederländisch und Polnisch, seltsamerweise nicht auf Italienisch.
Es lohnt sich, das Video der Lancierung von DiEM25 auf der Website anzusehen, um einen Eindruck vom Charakter dieser Bewegung zu bekommen. Sie ist sehr breit und sehr urban. Prominent dabei sind Stadtbewegungen aus Spanien, VertreterInnen von Podemos, der Linken aus Portugal, Vertreterinnen grüner Parteien (Frankreich, Vereinigtes Königreich) und der Linken Deutschlands, ein deutscher Gewerkschaftsvertreter, VertreterInnen verschiedener Bewegungen, Kulturschaffende und Linksintellektuelle. Es ist eine sehr gut inszenierte, interessante und ermutigende Veranstaltung geworden, moderiert von Yanis Varoufakis. Sie ging gut anderthalb Stunden länger als geplant …
Beim alternativen Fernsehen acTVism München (http://www.actvism.org/en/) sind die Pressekonferenz von Yanis Varoufakis und Srecko Horvat zur Gründung von Diem25 zu finden, ebenso zwei sehr interessante Interviews mit Varoufakis, die auf Deutsch übersetzt sind. Der alternative TV-Sender aus München bietet generell sehr interessante Interviews und Berichte an (z.B. zur Sicherheitskonferenz).
Vor und während der öffentlichen Gründungsveranstaltung von DiEM25 haben sich meines Erachtens bereits vier Konfliktfelder gezeigt, die wohl auch in Zukunft zu vielen Kontroversen und Debatten führen werden.
1. Einschätzung der jetzigen EU-Institutionen
Beinahe am Schluss des Abends erklärte Gesine Schwan, eine prominente SPD-Vertreterin und Politologin, warum sie trotz Sympathie zu DiEM25 nicht beitreten werde (s. dazu Video ab 2h:43min). Sie findet die harschen Aussagen zur fehlenden Demokratie in der Europäischen Union (EU) falsch – politisch falsch. Im Manifest von DiEM25 ist beispielsweise zu lesen:
«Im Zentrum unserer zerfallenden EU liegt ein böser Betrug: Ein durch und durch politischer, undurchsichtiger und autokratischer Entscheidungsprozess wird zu einem ‹unpolitischen›, ‹rein technischen›, ‹prozeduralen› und ‹neutralen› Verfahren erklärt. Dessen Zweck ist es, die Europäer daran zu hindern, eine demokratische Kontrolle über ihre Währung, ihre Finanzen, ihre Arbeitsbedingungen und ihre Umwelt auszuüben. Der Preis dieser Täuschung ist nicht nur das Ende der Demokratie, sondern auch eine schlechte Wirtschaftspolitik.» (Manifest DiEM25)
Im Vorfeld der Gründung von DiEM25 schrieb Sven Giegold, Vertreter der Grünen Deutschlands im EU-Parlament, einen offenen Brief an Yanis Varoufakis und kritisierte mit ähnlichen Argumenten wie Schwan das DiEM35-Manifest. Das EU-Parlament habe beispielsweise beim Griechenlandkonflikt seine Kompetenzen nicht ausgeschöpft respektive nicht ausschöpfen wollen. Zudem seien die Aussagen zur Bürokratie respektlos und populistisch. Der Entscheid, an den Troika-Vorschlägen festzuhalten, sei nicht ein Problem der Bürokraten und Funktionäre. Die Schlüsselentscheide werden von der EU-Kommission oder von der Eurogruppe, von gewählten und ihren Ländern verantwortlichen Finanzministern, gefällt. Varoufakis widerspricht dieser Analyse (Briefwechsel s. Social Europe vom 9. Februar: https://www.socialeurope.eu/2016/02/43270/). Gesine Schwan teilte in ihrem Input mit, dass sich eine Gruppe der Grünen und SPD zusammengetan hat, um über die Neuordnung der EU zu diskutieren. Sie würden DiEM nicht beitreten, verständen sich aber als deren DiskussionspartnerInnen. Das sei in Ordnung, fand Varoufakis.
Hinweis: Über politische und ökonomische Debatten zur EU- und Eurokrise enthalten die Websites von Social Europe (http://www.socialeurope.eu) und von Open Democracy (https://www.opendemocracy.net) etliche Beiträge und Kontroversen zur Krisensituation der EU, zu Griechenland und DiEM25. Die Beiträge repräsentieren ein relativ breites politisches Spektrum.
2. Das Neue am jetzigen Versuch
Wie schon im Mail vom 6. Februar erwähnt, wurde von der Blockupy-Bewegung und von Attac die Frage gestellt, wozu es DiEM25 zusätzlich brauche. Wer den ersten Manifest-Entwurf ansieht (http://www.sven-giegold.de/wp-content/uploads/2016/02/Varoufakis_preliminary_manifesto-5.0-Dez-15.pdf), stellt fest, dass er wesentlich kürzer ist und stärker auf die Demokratisierung der Institutionen insbesondere der Eurozone (EZ) zielt als die Schlussversion des Manifest. Diese ist wesentlich breiter gefasst. Aber der Slogan bleibt: «Die Europäische Union wird demokratisiert, oder sie wird zerfallen.» Was DiEM25 wohl von anderen Bewegungen unterscheidet – und diesbezüglich ist sie von Varoufakis geprägt –, ist das Krisenbewusstsein, die Angst vor der zunehmenden wirtschaftlichen und politischen Zerrüttung der EU und des damit aufkommenden rechtsradikalen Mobs, auch die Angst vor der zunehmenden Unfähigkeit der EU-Elite, adäquate Antworten auf die sich stellenden Probleme zu finden. Dies betrifft vor allem die Eurokrise, aber inzwischen auch die Flüchtlingskrise. Die Pressekonferenz und Verlautbarungen von Varoufakis der letzten Zeit zeigen, wie besorgt er über den drohenden Zerfall der EU und dessen politische Konsequenzen ist (s. dazu den Artikel von Varoufakis vom 22.2.: https://www.project-syndicate.org/commentary/european-union-new-democracy-movement-by-yanis-varoufakis-2016-02#GIvK5hgJzDWbvCUK.99). Ich teile seine Einschätzung.
Das Neue an DiEM25 ist der Versuch, der Euro- und EU-Krise eine Politik der Demokratisierung der zentralen Institutionen entgegenzustellen, in denen wichtige, ziemlich falsche und zunehmend empörend destruktive Entscheide insbesondere über die Zukunft der Eurozone gefällt werden. Diese Position unterscheidet DiEM25 von der Blockupy- oder Attac-Bewegung, die andere Schwerpunkte haben – sehr viel mehr auf das Finanzsystem als auf die Institutionen der EU ausgerichtet sind. In einem ersten Schritt sollen nun die Aktivitäten von DiEM25 zu mehr Transparenz in den Institutionen der EU und der EZ führen, wie im Manifest festgehalten.
3. Ökonomische Debatten
Inzwischen haben die Diskussionen fortschrittlicher ÖkonomInnen über die Analyse der Euro-Krise begonnen, und zwar sind es Kontroversen innerhalb keynesianischer, postkeynesianischer und postmarxistischer Argumentationen. Nun geht es nicht mehr einfach darum, den Mainstreamökonomen der EZ Paroli zu bieten. Ich finde, das ist ein Fortschritt für die öffentliche Debatte über Wirtschaftspolitik. Eine ähnliche erfreuliche Entwicklung zeigt sich auch bei Kontroversen zwischen Ökonomen der Demokratischen Partei in den USA, welche Sanders oder Clinton unterstützen, ebenso in Britannien bei den Diskussionen über die Positionen von Jeremy Corbyn und seinen AnhängerInnen. Die fortschrittliche, kritische wirtschaftspolitische Debatte wird substantieller und kontroverser. Sie ist auch relevanter geworden.
Der niederländische Ökonom Servaas Storm eröffnete am 8. Januar eine Kontroverse zu den Ursachen der Eurokrise, indem er die Position etlicher prominenter keynesianischer Ökonomen hinterfragt, dass die Lohndämpfungspolitik Deutschlands entscheidend gewesen sei für die Eurokrise und für das wachsende wirtschaftliche Auseinanderdriften zwischen Eurosüd- und Euronordländern. Storm argumentiert, dass im Grunde genommen diese These mit der Lehrbuchmeinung der Neoklassik übereinstimme: dass für die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes die Arbeitsproduktivität entscheidend sei (die Bruttowertschöpfung pro Arbeitsstunde oder Arbeitskraft). Damit sagten diese Ökonomen, so Storm, dasselbe wie der IWF: Anstatt dass Griechenland die Löhne senken muss, soll Deutschland die Löhne erhöhen. Die Vorstellung über den ökonomischen Mechanismus, der dahinter stehe, sei jedoch derselbe: reine Neoklassik. Storm betont dagegen die Wichtigkeit der Kapitalflüsse für das heutige Geschehen und für die Eurokrise. Es sei wichtig, die Eurokrise als Finanz- und Bankenkrise zu verstehen. Auf diesen Artikel haben die unter andern kritisierten Ökonomen Heiner Flassbeck und Costas Lapavitsas eine ebenso interessante Entgegnung geschrieben, wie auch der deutsche keynesianische Ökonom Peter Bofinger. Bofinger gehört zum Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands («Rat der Weisen»). Am 28. Januar replizierte Storm nochmals. Er wirft Flassbeck und Lapavitsas eine Prä-Hilferding-Sicht der Ökonomie vor (Hilferding schrieb «Das Finanzkapital» 1910 und entwickelte daraufhin seine Theorien zum staatsmonopolistischen Kapitalismus). In ihrer Argumentation kämen die grossen Banken, die Schulden gegenüber den Banken, die fatale Verflechtung zwischen Nationalstaaten und Banken eines Landes nicht vor. Das «Friendly Fire», wie die Kontroverse vom INET (Institute for New Economic Thinking, finanziert von George Soros) genannt wird, ist sehr interessant. Die Leserin atmet auf und denkt, endlich eine relevante wirtschaftstheoretische Kontroverse. Sie ist relevant in Hinsicht auf die Eurodebatte. Varoufakis hat sich zur Kontroverse nicht geäussert. Die Vermutung liegt nahe, dass er den Analysen von Storm näher steht als Flassbeck und Lapavitsas (und Oskar Lafontaine). Die Artikel sind gut für die wirtschaftstheoretische Weiterbildung – gut auch für ÖkonomInnen, die meinen, sie verstehen etwas von Keynesianismus. Die Kontroverse ist nachzulesen auf: http://ineteconomics.org/ideas-papers/blog/rejoinder-to-flassbeck-and-lapavitsas.
4. Feminismus und DiEM25
Ich habe seit dem letzten Sommer, soweit online vorhanden, alle Auftritte von und Diskussionen mit Varoufakis angesehen: Es waren meistens reine Männerveranstaltungen. Falls überhaupt Frauen auf den Podien sassen, dann moderierten oder übersetzten sie – mit wenigen Ausnahmen. Das alte öde Lied also. Zukunftsdebatten endeten nicht selten in einem begeisterten Meta-Geflunker über das antikapitalistische Potential der vierten industriellen Revolution.
Offenbar gab es inzwischen Kritik über diesen linken Male-Stream. Die Eröffnungsveranstaltung von DiEM25 begann – ich traute meinen Augen nicht – mit profilierten Frauen aus Parteien verschiedener Länder: Vertreterinnen der Linken Deutschlands, der Grünen Frankreichs, der Grünen Englands, eine irische Parlamentarierin und Vertreterinnen von Bewegungen. Ebenso war die Bürgermeisterin von Barcelona per Video zu sehen und zu hören. Alles profilierte und inspirierende Reden. Das Wort Feminismus tauchte aber erst in der Intervention eines Mannes auf, nämlich bei Miguel C. Urban, Podemos-Mitglied des Europaparlaments. Eine neue Verfassung Europas müsse feministisch sein, es brauche auch Mütter und nicht nur Väter als UrheberInnen der Verfassung (Video DiEM25-Gründung ab ca. 1 Std. 4 Min.).
Nichts gegen eine feministische Verfassung. Aber was genau würde «feministisch» für eine neue Architektur des Euro beispielsweise bedeuten?
Spätestens in einem zweiten Schritt der Arbeit von DiEM stellt sich die Frage, welches die feministischen Inhalte der zu diskutierenden Konzepte sein sollen. Es ist geplant, Konzepte zu folgenden politischen Konfliktfeldern auszuarbeiten:
a) Ein grüner New Deal für Europa (ein Paper zu Wirtschafts- und Investitionspolitik)
b) Europas Geld (die Frage der Europäischen Währungen, Euro-Reform, Koordination mit Nicht-EZ-Ländern)
c) Migrations- und Flüchtlingskrise
d) TTIP, WTO, IMF etc.: die Beziehungen Europas mit andern internationalen Organisationen
e) Dezentralisierte Europäisierung – verfassungsgebende Versammlung Europas
(E-Mail an Mitglieder von DiEM25)
Für interessante und relevante Debatten und Kontroversen ist also gesorgt: eine erfreuliche Entwicklung – hoffentlich auch für Feministinnen.
Michael Büchi
ich interessiere mich, bei der Bewegung mitzumachen.
ich war Gründungsmitglied bei den Grünen in Deutschland und später in die Grünen Bern ,aber meine eigentliche politische Sozialisation erfolgte in der Graswurzelbewegung .