Bei der «Durchsetzungsinitiative» der SVP (Abstimmung vom 28. Februar 2016) geht es vordergründig um die Ausschaffung straffälliger Ausländer. Aber primär will die Initiative die Grundfesten des Rechtsstaats schleifen: Unabhängigkeit der Gerichte, Gleichheit vor dem Recht, Verhältnismässigkeit in der Rechtsprechung, Verlässlichkeit als Mitglied der Staatengemeinschaft – all das ist den von Christoph Blocher angeführten Umstürzlern und ihrem als rechter Flügel des bürgerlichen Lagers getarnten Anhängsel SVP schon lange nur noch lästig.
«Das Gericht oder die Staatsanwaltschaft verweist Ausländerinnen und Ausländer, die wegen einer der folgenden strafbaren Handlungen verurteilt werden, unabhängig von der Höhe der Strafe aus dem Gebiet der Schweiz», lautet der Kernartikel der geplanten neuen Verfassungsbestimmung. Es folgt eine lange Liste von Tatbeständen bis hin zum neu erfundenen sogenannten Sozialmissbrauch, bei denen die Landesverweisung samt mindestens fünfjährigem Einreiseverbot zwingende, das heisst vom Gericht nicht mehr abzuwägende Konsequenz wäre. Ob die Betroffenen in der Schweiz geboren und aufgewachsen sind oder hier Familie haben, spielte keine Rolle: Das zielt direkt auf die Hunderttausenden hier niedergelassenen Bürgerinnen und Bürger ohne Schweizer Pass. Aber auch auf deren Schweizer Ehepartner und Kinder, denen das Recht auf Familie verwehrt würde. «Die Familie hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat», steht in Artikel 16 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, und Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sagt: «Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens.»
Secondos stünden unter dem Damoklesschwert, selbst nach Bagatelldelikten ausgeschafft zu werden, einzig weil sie keinen Schweizer Pass haben. Folge: eine prekäre Existenz am Rande des Rechtssystems. Selbst Personen, die aufgrund des zwingenden Völkerrechts nicht ausgeschafft werden dürfen (etwa anerkannte Flüchtlinge), verlören auch bei leichten Delikten für immer jeglichen Aufenthaltsstatus und fielen damit unter ein Arbeitsverbot. Folgen: hohe Sozialkosten. Betroffene, die sich auf das verfassungsmässige und völkerrechtliche Rückschiebungsverbot (Non Refoulement) berufen, weil ihnen im Heimatstaat Folter oder Tod drohen, wäre der Rechtsweg bis vors Bundesgericht versagt, da der Entscheid der kantonalen Richter «endgültig» ist. Die Initiative degradiert den Richter zum Scharfrichter: Ohne Härtefallklausel ist ihm jede Interessenabwägung verwehrt, sodass er zu einem brachialen Vollstreckungsautomat wird. Ein dem Einzelfall gerecht werdendes Urteil ist ausgeschlossen. Das Bundesgericht als oberster Hüter der Verfassung und der Menschenrechte wäre gleichsam seines Amtes enthoben, eine Art Lynchjustiz per Volksentscheid tritt an seine Stelle.
Mit Unschuldsmiene missbrauchen die Umstürzler die direkte Demokratie, um Unrecht in die Verfassung zu schreiben. Sie wollen die Behörden zum Bruch von staatsvertraglichen Verpflichtungen zwingen, indem sie ausdrücklich festhalten, dass die «Bestimmungen über die Landesverweisung und deren Vollzugsmodalitäten» dem nicht zwingenden Völkerrecht vorgehen.
«Die Initiative ist ein Anschlag nie dagewesenen Ausmasses gegen die Demokratie. Sie zielt frontal gegen den Rechtsstaat als deren Fundament, indem sie die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz missachtet», sagt Marc Spescha, Rechtsanwalt in Zürich und Lehrbeauftragter für Migrationsrecht an der Uni Freiburg i.Ue. Er gibt ein Beispiel: «Der in der Schweiz geborene und hier aufgewachsene, niedergelassene X. stammt aus Italien, ist 24-jährig und Vater eines Kindes. Seine Schweizer Ehefrau erzielt kein Einkommen, er stempelt und bezieht Arbeitslosenentschädigung. An drei Samstagen hat er für einen wohlhabenden Schweizer Gartenarbeiten erledigt und dafür 600 Franken erhalten. Diesen Zusatzverdienst verschweigt er gegenüber dem RAV und der Arbeitslosenkasse. X. erfüllt den Tatbestand des Sozialmissbrauchs. Er muss zwingend des Landes verwiesen werden und erhält zusätzlich ein mindestens 5-jähriges Einreiseverbot.»
An dieser nicht frei erfundenen Geschichte wird klar, dass die Initiative willentlich auch gegen das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU verstösst. Gemäss diesem ist es ausgeschlossen, jemanden wegen eines Bagatelldelikts auszuweisen. Durch den langen Katalog von Vergehen – Steuerbetrug, Geldwäscherei und Bestechung fehlen darin bemerkenswerterweise – sähen sich Firmen hierzulande vor der Unsicherheit, dass ihre nicht-schweizerischen Angestellten schon wegen kleinster Vergehen wie etwa ungerechtfertigt bezogenen Prämienverbilligungen bei der Krankenkasse oder blossen Meldepflichtverletzungen ausgeschafft würden. Wer will in so einem Land wirtschaften, das nach Gutdünken internationale Verträge bricht und seine Rechtssicherheit untergräbt?
All diese Effekte sind aber nicht ungewollte Kollateralschäden. Sie stellen den eigentlichen Sinn und Zweck des Treibens dar. Noch jeder autoritären Bewegung war die Unabhängigkeit der Justiz ein Dorn im Auge. So postuliert die Initiative denn auch klar und deutlich, dass der seitenlange neue Verfassungsartikel direkt anwendbar ist. Damit schaltet sie das Parlament als Organ der Gesetzgebung aus: «Eine Verhöhnung der demokratischen Institutionen», sagt Marc Spescha und «eine grobe Missachtung der Gewaltenteilung.» Das Parlament wird umgangen und der Richter zum vegetativen Organ eines ominösen Volksauftrags, oder zur «strafrechtlichen Selbstschussanlage», wie Daniel Jositsch, Strafrechtsprofessor und neu gewählter Zürcher SP-Ständerat 2014 im «Migros-Magazin» im Zusammenhang mit der Pädophilen-Initiative gemeint hat. Gestern Pädophile, heute Secondos, wer wird als Nächster aus dem Rechtsstaat ausgeschlossen?
Die National- und Ständeräte hätten im letzten März diese Initiative rundweg für ungültig erklären müssen. Stattdessen haben sie in der Frage des Umgangs mit straffälligen Ausländern «ihrer eigenen Entmachtung zugestimmt», wie Spescha sagt. Das mag dereinst als demokratische Ursünde in ihre Annalen eingehen. Aber es zeigt, dass es höchste Zeit ist, dem Unwesen Einhalt zu gebieten. Es steht der demokratische Rechtsstaat auf dem Spiel. Dagegen hilft nur ein breites Bündnis aller Kräfte, die stolz auf ein Land bleiben wollen 615-544-7934 , in dem für jede Einwohnerin und jeden Einwohner das gleiche Recht gilt. Gegen den kalten Staatsstreich hilft nur eines: Schweizerinnen und Schweizer, ausländische Bürgerinnen und Bürger vereint in der Landesverteidigung. Auch nach dem 28. Februar.