Die meisten Theoretiker von Recht und Gerechtigkeit sind dem Volk gegenüber skeptisch eingestellt. In dieser Reserviertheit, die sich zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften beobachten lässt, kreuzen sich auf widersprüchliche Weise Arroganz und Weisheit der Elite.
Als Fan von klassischen Texten behandle ich mit meinen Schülern seit fünfzehn Jahren das berühmte Höhlengleichnis von Platon, in dem dieses Paradox sehr schön dargestellt wird. Es gibt dort die Passage, wo derjenige, der aus der Höhle, wo die Menschen im Dämmerlicht vor sich hinvegetieren, ans Licht gezerrt wird, durch die Helligkeit der neu gewonnenen Erkenntnis beinah geblendet wird. Hat er sich aber einmal daran gewöhnt, so ist er zum Regieren bestimmt und will auf keinen Fall mehr zurück in die Höhle zum Pöbel. Und zwar aus zwei Gründen: Aus Angst vor der Feindseligkeit und aus Verachtung der notorischen Dummheit des Höhlenvolkes. Platons Philosophenpräsident ist also ohne Austausch mit dem Volk, was ihn aus heutiger Sicht zum echten Diktator macht. Die elitäre, antidemokratische Wirkungsgeschichte dieses Textes ist nicht zu unterschätzen. Zum Beispiel dichtete Friedrich Schiller im Gedicht «Die Glocke» aus Enttäuschung über die Gewaltexzesse der französischen Revolution und in Platons Namen folgende Zeilen: «Freiheit und Gleichheit! hört man schallen. Der ruhge Bürger greift zur Wehr. Die Strassen füllen sich, die Hallen, und Würgerbanden ziehn umher […] Weh denen, die dem Ewigblinden, des Lichtes Himmelsfackel leihn! Sie strahlt ihm nicht, sie kann nur zünden und äschert Städt und Länder ein». Diese Verse, die während fast 200 Jahren jedes Schulkind auswendig konnte, diskreditierten die politische Mündigkeit des Volkes in Deutschland für Jahrhunderte, schwächten die junge Demokratie der Weimarer Republik und erwiesen sich für das Führerprinzip der Nazis als nützliche Mitgift.
Und gerade in Hitler zeigt sich die im Rechtspopulismus bis heute typische Gleichzeitigkeit von Angst vor der Kraft der revolutionären Massen, die für ihre Rechte kämpfen und deren Bändigung durch den kollektiven Hass gegen andere. So formten die Nazis «ihr» Volk durch die Propaganda von Gefahr und Verrat einerseits und andererseits mit esoterischer Ereignispolitik zur einheitlichen Masse. Denn der Volkswille, in dessen Namen man zu regieren vorgibt, muss einheitlich sein, damit er die gewünschte Macht entfaltet. Die Illusion der Einheitlichkeit erweckt eine als Volkswillen ausgegebene Parole aber nur auf der Ebene der Emotionen oder der Instinkte. Das Volk, wo es machtvoll auftritt oder machtvoll in Szene gesetzt wird, wird dies daher nur als triebgesteuerte, dumpfe Masse tun. Das bedeutet, dass paradoxerweise nur das dumme bzw. dumm gehaltene Volk ein mächtiges Volk ist, es diese Macht aber gleichzeitig nur für andere, die es anleiten und gegen andere, die es zur Selbstvergewisserung ausschliessen muss, ausübt. Und letztlich nie für sich selber. Denn ist das Volk in eigener Sache tätig, zerfällt es in interessengesteuerte Fraktionen, wird als solches macht- und daher politisch quasi nutzlos. Doch erst dann wäre es als Bevölkerung demokratisch im eigentlichen Sinn.
Der linke Ausbruchversuch aus dem Dilemma, dass das Volk entweder zum Mob tendiert oder in Einzelinteressen zerfällt, war die Formung des Proletariats. Das Proletariat bildete erstens eine politische Einheit durch gemeinsame Interessen und nicht über Blutsverwandtschaft oder Ursprungsmythen und zweitens durch universelle Forderungen statt über Ausgrenzung. Seit dem vorläufigen Scheitern der Proletariatsidee am Ende des 20. Jahrhunderts sieht die Linke in der autonomen und sich selber regulierenden Zivilgesellschaft eine Art Ersatz. Die Transformation des Volkes in die Einheit der Zivilgesellschaft soll eine durch reines, vernünftiges Handeln zusammengeschweisste Gemeinschaft ergeben. Aber eine solche gibt’s nur, wenn man die Gegensätze der Klassen verdrängt, den Kapitalismus vergisst und die Menschen als Triebsubjekte nicht ernst nimmt. Was nichts anderes heisst, als dass auch die Utopie einer harmonisch-kritischen Zivilgesellschaft dem antagonistischen Grundprinzip der Demokratie entgegengesetzt ist. Übrig bleibt also im Moment nur noch der steinige Weg, den destruktiven Kampf gegen die anderen immer wieder in den Kampf für die eigenen Bedürfnisse und Interessen zu verwandeln und dafür geeignete Organisationsstrukturen zu finden, die die Menschen im Namen ihrer Sache zusammenbringt.
Zusammengefasst kann man sagen: Mächtig ist das Volk nur, wenn man es als Einheit wahrnimmt, was wiederum direkt den demokratischen Prinzipien widerspricht. Demokratie, so das Paradox eines demokratischen Rechtsstaats, erhält sich nur insofern, wie sie die Tatsache von der Geteiltheit des Volkes permanent bewusst hält und den sogenannten Volkswillen, wo immer er zu entstehen droht, missachten, transformieren oder kanalisieren kann. Daher produziert jede Demokratie auch zwangsläufig jene Populisten, die sich im Namen des Volkswillens und der Demokratie an ihre Abschaffung machen. Und diese gewinnen umso mehr Anhänger, je stärker die Eliten ihr berechtigtes Misstrauen gegenüber dem «Volk» auch auf die «Bevölkerung» übertragen und im Kampf gegen die falsche Einheit der Vielen auch die Feinheiten der Einzelnen missachten.
Im Rausch des Erfolgs begehen die Populisten aber zum Glück meist denselben «Fehler». Sie verlassen die direkte Angst- und Emotionspolitik und versuchen, ihre Macht über abstrakte Prinzipien zu verallgemeinern und zu universalisieren. Ist die Bevölkerung als Gesellschaft noch halbwegs handlungsfähig, kommt sie dadurch zur Vernunft und verweigert an diesem Punkt die Gefolgschaft. Auf die Schweiz und die SVP angewendet bedeutet dies: Direkt gegen Ausländer hetzen geht immer, die Rechtsbasis aber im allgemeinen Sinn zu revolutionieren, wie das die sogenannte Durchsetzungsinitiative vorsieht, die am 28. Februar 2016 zur Abstimmung kommt, ist dem «Volk» zu weit weg von Wut und Angst, es gerät bei solchen Vorlagen in Distanz zur Sache, zerfällt in denkende Menschen und bringt an der Urne ein klares Nein hervor.
Die Tatsache, dass es in den Massenmedien und der sogenannten Zivilbevölkerung eine Kampagne gegen die Durchsetzungsinitiative gibt, in einer Stärke, die man bei den letzten SVP-Initiativen in keiner Weise beobachten konnte, weist darauf hin, dass das “Volk” in dieser Sache sich in Auflösung befindet. Die Artikel und Aufrufe zu einem Nein sind zahlreich. Hier nur der Hinweis auf einige wenige:
- «Das Volk hat nicht immer recht» (Interview mit Daniel Thürer, Tages-Anzeiger)
- Staatsanwälte schalten sich in die Durchsetzungs-Debatte ein: «Die Initiative ist nicht praktikabel» (Interview mit Thomas Hansjakob, watson.ch)
- Rechtliche Apartheid (Daniel Binswanger, Das Magazin)
- Überstrapazierter Alarmismus (René Zeller, NZZ)