Früher hatten die Barbaren keine Kultur. Heute haben alle Kultur, wenngleich sie bei den einen etwas kultureller ist. Es gibt Kulturveranstalter, Kulturmanager, Kulturlobbys, Kulturlokale, Kulturbetriebe, den Kulturbetrieb und, weil sie seit einigen Jahren bei uns so heissen, die Kulturschaffenden. Alle protestieren gegen Kulturabbau und sagen, dass man vom Kulturmachen in dieser Stadt schlecht leben könne, dass Kultur aber für alle wichtig sei, dass eine Stadt ohne Kultur verarme und die kulturnahen Bürger verliere.
Wer in dieser Art das Wort Kultur verwendet, glaubt, dass damit etwas Spezielles gemacht wird, wozu es Spezialisten und spezielle Orte usw. braucht. Weil es speziell ist, wird es mit einem speziellen Wort bezeichnet. Womit auch irgendwie gesagt ist, dass nicht alles, zum Beispiel etwas ganz Gewöhnliches oder Alltägliches schon Kultur ist. Und gemeint, wenn auch nicht gesagt, ist damit auch, dass etwas Dummes oder Böses, etwas nur zum Zwecke des Verkaufs oder der Werbung Hergestelltes keine und etwas Abgekupfertes oder Dilettantisches schlechte Kultur ist.
Kultur, so wie sie die Kulturschaffenden verstehen und auch weil sie immer sagen, sie sei für alle da, hat immer, wenn man es nett sagen will, etwas Vorauseilendes, Avantgardistisches, Neues und in den Worten derer, die damit nichts anfangen können, hat sie etwas Eigenbrötlerisches, Ausgrenzendes, Elitäres, das nur für alle ist, wenn alle dazu gezwungen werden, so wie in der DDR. Darum gibt es immer die, die den Kulturbegriff ausweiten wollen. Seht, rufen sie, auch dies ist Kultur und jenes. Geadelt als „Das ist auch Kultur!“ werden damit Kinderzeichnungen, Schlagercontests und Töffrennen. Das praktizieren, um Quote zu machen, auch die Kulturredaktionen, die jetzt auch die Modetipps und Lifestyle-Stories auf ihre Seiten lassen.
Die Auchkultur nennt man natürlich Volkskultur. Ein Wort 615-544-5148 , das alle lieben, auch diejenigen, die das, was die Volkskultur macht, nicht so sehr lieben und die, die sie machen, auch nicht immer. Denn viele Kulturschaffende brauchen die Volkskultur, um sie zu veredeln zu wirklicher Kultur durch Verfremdung, Perfektionierung oder Vermischung und auch damit sie die Kultur nicht ohne das Volk machen müssen. Das ist in allen Kulturbereichen Mode, so dass es heute scheint, die Kultur sei je nach Blickwinkel eben nichts weiter als die Schmarotzerin oder die Veredlerin der Volkskultur. Aber meist verhält es sich umgekehrt, die Volkskultur ist in der Regel von der Bevölkerung angeeignete Avantgardekultur, gemixt, adaptiert und standardisiert. Das heisst, die Volkskultur ist affirmativ, sie lobt das Bestehende und stellt es dar, um es zu verstärken. Die Avantgardekultur ist von ihrem Prinzip her negativ, sie kritisiert das Bestehende, sie sucht geeignete Darstellungsformen, um es zu überwinden oder weiter zu bringen.
Und damit zurück zum Kampf um Anerkennung. Denn es gibt nicht nur den Kampf der Volkskultur, als echte Kultur anerkannt zu werden, es gibt auch den Kampf um Rechte und Integration, den die Unterdrückten und Ausgeschlossenen mit kulturellen Mitteln führen gegen Leit- und Herrschaftskultur. Vieles, was heute anerkannte Kultur ist, war einst ein solches Kampfmittel. Was bei manchen wiederum zum Glauben führt, dass nur, worum man kämpfen muss, gute Kultur geben kann.
Manchmal ist Volkskultur Avantgardekultur, dann nämlich, wenn sich ihrer eine Gruppe bedient, um Widerstand zu leisten gegen Unterdrückung. Dann ist sie Kultur, die über das Bestehende hinaustreibt. Und es gibt Avantgardekultur, die Volkskultur ist, dann wenn ihre Darstellungsformen affirmativ geworden sind. Dann ist sie zur Klassik oder zur Leitkultur geworden. Ist affirmative Kultur schlimm? Nicht unbedingt. Denn auch das Gute braucht Repetition und stabile Verhältnisse. Und wir, die wir immer das Neue preisen, vergessen wir nicht, überwinden kann auch zerschlagen heissen, kreativ ist auch die Niedertracht, schöpferisch auch die Zerstörung, die der Kapitalismus betreibt. Dieser braucht stabile Konsumenten und Unternehmer in Bewegung. Daher liebt der Kapitalismus die Konkurrenz zwischen Volkskultur und Avantgarde. Diese wird so knapp wie möglich finanziert, damit sie unternehmerisch denkt, jene wird zu Tode inszeniert, damit sie permanent auf Sendung ist und die Gegenwart mit ihren Mustern tätowiert.
* Input zu einem Marcuse-Lektüreabend im Konzertlokal palace.sg. Herbert Marcuse: „Über den affirmativen Charakter der Kultur“, in: ders.: Kultur und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1965, S. 56-102.