Mit seinem Buch Die Idee des Sozialismus reagiert der Frankfurter Sozialphilosoph Axel Honneth auf den Vorwurf seiner Studenten, er denke nicht mehr über eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft nach. Tatsächlich ist das nicht der Fall. Honneth reiht sich in die Phalanx derer ein, die eine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus anstreben. Auf der Linie von Autoren wie Karl Polanyi, Amitai Etzioni, Albert Hirschman und Diane Elson gelingt es ihm, das Projekt „Marktsozialismus“ weiter voranzutreiben.
Das fängt schon damit an, dass er die Enge einer rein ökonomischen Kritik an der vorhandenen Gesellschaft kritisiert. Als fruchtbar erweist sich sein Rückgriff auf die Ansätze der Frühsozialisten – Robert Owen, Charles Fourier, Henri de Saint-Simon –, weil er zeigen kann, dass hier noch der ganze Horizont der Hoffnungen, die von der Französischen Revolution eröffnet worden war: Freiheit, Gleichheit, „Brüderlichkeit“ (Solidarität), aufgespannt blieb und sich freilich schon gefährlich zu verengen begann. Es war richtig, dass die Frühsozialisten die große revolutionäre Parole durch den kapitalistischen Markt widerlegt sahen und eine solidarische Ökonomie forderten. Da sie es aber versäumten, sich auch über die politische Sphäre Gedanken zu machen, konnte es später zu der Überzeugung kommen, politische Freiheit sei überflüssig, wenn nur wirtschaftlich alles richtig geregelt sei. Es gelang aber auch auf wirtschaftlichem Gebiet nicht, ein zukunftsfähiges Alternativkonzept zu entwickeln. Und doch kann Honneth aus den frühsozialistischen Erwägungen eine normative Idee herauskristallisieren, die er mit Recht für unabgegolten hält, die „soziale Freiheit“: Freiheit des Individuums als Ziel, das durch „solidarisches Sich-Ergänzen“ überhaupt erst etabliert werden kann.
Sein Hauptinteresse gilt natürlich dem Werk von Karl Marx, das er erhellend in die frühsozialistische Perspektive einordnet. Die Ansicht, Geschichte werde durch Klassenkämpfe vorangetrieben, teilt Marx mit Pierre-Joseph Proudhon, das Vertrauen in die Naturwissenschaft, der es immer mehr gelinge, die Gesellschaft zu rationalisieren, mit Saint-Simon. Hier zeigen sich allerdings erste Schwächen der Honnethschen Deutung. Wie andere vor ihm übertreibt er die Rolle des Glaubens an eine Gesetzmäßigkeit, die dem Marxschen Werk der geschichtlichen Entwicklung zugrunde liegen soll.
Dabei verschenkt er eine Pointe: Mit seiner Darlegung der Ideen von Saint-Simon hätte er zeigen können, dass sich von dort aus der geschichtliche Gesetzesglaube bis in unsere Gegenwart kapitalistischer Hegemonie hinübergerettet hat. Es war Saint-Simon, für den noch die Manager zur Arbeiterklasse zählten, er wollte die gesellschaftliche Herrschaft einer Zentralbank überantworten und meinte, die sozialen Verhältnisse müssten immer den jeweiligen Errungenschaften von Wissenschaft und Technik folgen. Dem sind noch heute die Ideologen verpflichtet, die uns erzählen, dass sich zum Beispiel die selbststeuernden Autos, eine neue Giga-Generation antiökologischer Maschinen, aus einer anonymen technischen Evolution heraus von selbst aufdrängen und wir ihnen deshalb an aller Demokratie vorbei den Weg freimachen müssen. Die Politik winkt das durch, doch Marx wird für seine angebliche Geschichtsteleologie gerügt.
Man begrüßt es, dass Honneth trotz seiner Kritik am frühsozialistischen und auch Marxschen Ökonomismus den „Marktsozialismus“ als Ausweg erörtert. Er stellt zum Beispiel das Privateigentum an Produktionsmitteln in Frage und hält die Haftungsgemeinschaft der Produzenten für möglich. Leider gleitet er dann aber in einen, man könnte sagen „frühsozialdemokratischen“ Reformismus ab, der das Konzept unterderhand zurücknimmt. Die Angst davor, dass an ein historisches Gesetz geglaubt wird, ist nämlich so groß, dass er alle sozialistische Politik in pures „Experimentieren“ auflöst, womit er an den philosophischen Pragmatismus John Deweys anknüpft. Da werden wir dann aufgefordert, „in der Sozialgesetzgebung, Mitbestimmungsregelung und in den Mindestlohnbestimmungen erste Schritte eines mühsam erkämpften Fortschritts“ zu sehen, von denen aus man über „weitere Maßnahmen“ angeblich dem „Ziel einer Verwirklichung sozialer Freiheit in der Wirtschaftssphäre“ immer näher kommt. Wir lesen schließlich, es könne doch jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass beim Experimentieren der Marktsozialismus herausspringe.
Kapitallogik suspendieren
Die Idee des Experimentierens als solche ist übrigens gar nicht schlecht. Honneth erkennt nur nicht, dass er mit einem unwissenschaftlichen Begriff des Experiments arbeitet. Für dieses ist Galileis schiefe Ebene das Paradigma: eine künstliche Wirklichkeit, die man zum Zweck der Bewährung einer vorausgesetzten Theorie eigens erfindet und aus ihr deshalb auch ableiten muss. Daran gemessen, ist der Mindestlohn kein Experimentieren mit dem Marktsozialismus, vielmehr ein zwar erfreuliches, aber ganz und gar kapitalistisches Faktum. Wie soll von da eine Linie zum Marktsozialismus führen, wenn der doch eine postkapitalistische Ökonomie sein soll?
Es ist sicher möglich, mit ihm heute schon zu experimentieren, aber dann muss man einen begrenzten gesellschaftlichen Raum schaffen, in dem die Kapitallogik zeitweilig außer Kraft gesetzt ist, ähnlich wie heute die Politik einen Stadtteil definiert, in dem mit selbststeuernden Autos experimentiert werden kann. Und dazu müsste man sich freilich fragen – Honneth tut es nicht –, was Kapitallogik überhaupt ist. Ein solches sozialistisches Experiment wäre natürlich nicht als kämpferische Alternativwirklichkeit auf Dauer angelegt, sondern würde abgebrochen 615-544-7059 , sobald es die erfragten Daten erbracht hat. Dann aber wüsste man, Marktsozialismus ist möglich oder ist es nicht.
Organisierendes Zentrum
Im letzten Teil seines Buches gelingt Honneth noch einmal eine Innovation. Wiederum mit Recht verlangt er vom Sozialismus, sich den Erfordernissen einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft zu öffnen, also anzuerkennen, dass vor allem Ökonomie, Politik und Liebe (Familie) je eigenen Codes folgen. Weil das in der Vergangenheit nicht geschehen sei, habe sich der Sozialismus erst spät mit bürgerlichen Radikaldemokraten und noch viel später mit dem Feminismus verbünden können. Es gehe aber nicht darum, sich einer vorhandenen Ausdifferenzierung anzupassen, sondern die müsse überhaupt erst sozialistisch erkämpft werden. Denn in der vorhandenen Gesellschaft seien Politik und Liebe von ökonomischen Imperativen, und zwar des Kapitals, alles andere als frei.
Das ist ein großartiger Durchblick, den Honneth noch zu steigern vermag: Gegen die Konzeption von Niklas Luhmann setzt er die Einsicht, dass auch die ausdifferenzierte Gesellschaft über ein organisierendes Zentrum verfügt. Dieses sei die Öffentlichkeit. Was für ein Schlussstein könnte hier gesetzt werden – wir begegnen ihm freilich weder bei Honneth noch sonst irgendwo –: dass die politisch wählende Öffentlichkeit auch ökonomische Wahlen abhalten könnte, darüber zum Beispiel, ob sie selbststeuernde Autos oder mehr öffentlichen Nah- und Fernverkehr will.
Axel Honneth, Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung, Suhrkamp, Berlin 2015, 168 S., 22,95 €.
* Erstmals erschienen am 23. November 2015 in der Wochenzeitung der Freitag.
Franco Bellettini
Wir leben in der besten aller Welten der Endlosdiskurse dort wo jede politische Praxis im diskursiven
Nirvana entschwunden ist . Ein Gespenst geht um , und
es bleibt ein Gespenst . Was für ein Titel : Die Idee
des Sozialismus……….
Handeln ist ja so unakademisch .
Otto Kaal
Und noch nichtmal Ideen für zukunftsweisendes Handeln werden diskutiert, wie z.B. eine Größenbeschränkung für Unternehmen. Eine konkrete Maßnahme mit weitreichenden Folgen, vielleicht gar einer Marktwirtschaft im buchstäblichen Sinn.
Solche Gedanken sind wahrscheinlich zu riskant, insbesondere für die eigene Reputation, die gedeiht dagegen prächtig im diskursiven Nirwana ;)