Das Beste, das unsere frühen Lektüren in uns hinterlassen, heißt es bei Marcel Proust, ist eine »sanfte Erinnerung, die um so viel kostbarer ist als das, was wir damals mit Hingabe lasen. Ulrich Raulff: Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens (2014)
1. Encore, Gaben und Zu-Gaben
Für viele, die sich im deutschen Sprachraum zeitgleich mit Jacques Lacan und Alfred Lorenzer beschäftigten, fiel deren Lektüre in Ulrich Raulffs wilde Jahre des Lesens in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts. Das Jahrzehnt stand schon in Schatten der 1960er, wurde zum Tummelplatz spät geborener Zaungäste, es war das Jahrzehnt linker Grabenkämpfe und terroristischer Entgleisungen, schuf aber mit dem historischem Rückenwind die „Generation Theorie“. Kaum je war die „Lust am Text“ (Roland Barthes) intensiver und leidenschaftlicher als damals. Dies galt auch für die Freudsche Psychoanalyse. Die wichtigsten Schriften Alfred Lorenzers lagen vor, Lacan Schriften sowie einige seiner Seminare wurden ebenfalls allmählich ins Deutsche übersetzt, und wer es konnte, las ihn im französischen Original. Hob Lorenzer die Freudsche Lehre des Unbewussten auf die Höhe einer „Metatheorie“, tauchte Lacan mit seiner „Rückkehr zu Freud“ in die klassische Psychoanalyse ein, um mit einer vergleichbar anspruchsvollen Theorie das wissenschaftliche und klinische Feld Freuds radikal umzupflügen. Ebenfalls in den 1970ern vervollständigte in England der Kleinianer Wilfred R. Bion seine erkenntniskritischen Arbeiten, und so brillierte die internationale Psychoanalyse ein vorerst letztes Mal mit einer unerreichten Blüte der theoretischen Innovation nach Freud.
Über Jacques Lacan und Alfred Lorenzer zu sprechen heißt – wie immer in der Psychoanalyse – von der Liebe nicht schweigen zu können, schon gar nicht von der Übertragungsliebe, von der die Wirkung ihrer Werke zehrt. Dies ist mit ein Grund, weswegen wir der hier dokumentierten Tagung „Noch einmal / Encore“ als kleines Leitmotiv vorangestellt haben. Natürlich ist es eine Anspielung auf Lacans sperriges Seminar aus dem Jahr 1972/73 mit seinen Themen des Genießens, der weiblichen Sexualität, der Fadenringe und Topologie, mit anderen Worten: mit dem ewigen Thema der Liebe. Vor allem aber staunt Lacan gleich zu Beginn des Seminars darüber, dass er wie auch sein Publikum überhaupt noch da sind, als seien ihm, eben gerade 71 Jahre alt, daran leichte Zweifel gekommen. Encore also, und in den Anmerkungen der deutschen Übersetzung heißt es denn: »noch – encore encore: (zeitlich) noch, immer noch, nochmals, (verstärkend:) noch, überdies, obendrein, (einschränkend:) wenigstens, höchstens, (mit Inversion:) freilich allerdings, (steigernd:) mehr, noch mehr, noch dazu (…)« (vgl. Lacan, 1975, S. 162).
Und so ist Encore zudem ein Symbol für die Wiederholung, ob Zwang oder nicht. In der Welt der Musik war Encore denn auch zunächst, seit dem 18. Jahrhundert, ein Aufruf zur Wiederholung einer Opernarie, heute zum Ritual der Zugabe geworden, dem sich einige Musiker dadurch entziehen, dass sie aus dieser Zugabe eine eigene Kunstform machten. Encore, das ist aber ebenso eine Chiffre für das Genießen, zumal für dasjenige des Don-Juanismus:
»Aber weil er (Don Juan) alle mit gleicher Heftigkeit und jedes Mal mit seiner ganzen Person liebt, muss er diese Gabe und diese Vertiefung wiederholen. Daher hofft jede, ihm zu geben, was ihm bis dahin niemand gab. Sie alle täuschen sich jedes Mal völlig, und es gelingt ihnen lediglich, ihn das Bedürfnis nach einer Wiederholung spüren zu lassen. ‚Endlich’, ruft eine, ‚habe ich Dir die Liebe geschenkt!’ Ist es verwunderlich, wenn Don Juan darüber lacht: ‚Endlich? Nein, nur einmal mehr!« (Camus, 1942, S. 86).
Encore, das meint nicht zuletzt en-corps, somit eine Art Inkorporation, Verkörperung, Verleiblichung, »der Körper trägt Spuren« (Lacan, a.a.O., S. 10). Was also heißt es, die Psychoanalyse, ihre alten Meister, ihre Theorien zu inkorporieren, mit ihnen zu leben, zu arbeiten und auch sie zu lieben – oder nötigenfalls auch einmal zu verwerfen, mit ihnen nichts anfangen zu können oder einfach nur ernüchtert im Corpus der Regale stehen zu haben? Zweifellos trägt die Liebe zu einer psychoanalytischen Theorie stets auch die Spuren eines Triebschicksals und ist immer mehr als ein pragmatischer Notbehelf in den Labyrinthen des therapeutischen Alltags. So sind in der Geschichte der Psychoanalyse Genealogien und Filiationen entstanden, aus deren Beständen wir es nun in diesem Band mit zwei der theoretisch anspruchsvollsten Denkfiguren zu tun haben. Doch sind selbst diese Bestände nicht vor der unentrinnbaren Macht der Vergänglichkeit geschützt. Gibt es somit auch ein Altern der Theorien, und zwar in jenem geläufigen Sinne, in dem Herbert Marcuse bereits 1963 vom Veralten der Psychoanalyse im fortgeschrittenen Kapitalismus sprach, an diesem Veralten aber paradoxerweise gerade ihre zunehmende Radikalität festhielt? Im historischen Kontext besehen, sind Lacans und Lorenzers Variationen einer „Rückkehr zu Freud“ in Diktion und Vokabular äußerst heterogene, in ihrer Stoßrichtung aber zweifellos verwandte Antworten auf dieses objektive Veralten der Freudschen Psychoanalyse. Um an dieser erst recht ihre Unverfügbarkeit gegenüber Macht, Zeitgeist und Trägheit zu betonen. Für beide galt und gilt heute, was Walter Benjamin in seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte forderte: »In jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen« (Benjamin, 1974, S. 695). Was bleibt? – so auch hier die Frage. Was bleibt für die Überlieferung?
Freud sprach in Die Zukunft einer Illusion von einer „Gabe der Vernunft“, der er Wachsamkeit gegen die Vernunftwidrigkeiten zahlloser Provenienz zumuten wollte. Er hat aber auch, dies ist seine Überlieferung, die Psychoanalyse als Gabe an die wissenschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Moderne verstanden. Eine Gabe, in ihrem präzisen Sinn als keine dem Geld unterworfene, archaische Form des Tausches, erfordert immer eine Erwiderung. Und so verkörpern Lacan und Lorenzer wirkungsgeschichtlich einflussreiche Erwiderungen, die inzwischen ihrerseits zu Gaben geworden sind, die nach Gegen-Gaben, Zu-Gaben, Encores, nachfolgender Generationen gerufen haben. Beider Vermächtnis einer kritischen Psychoanalyse steht, heute erst recht, quer zum neoliberalen Ökonomismus dieser Zeit, der das Subjekt und damit das Unbewusste raffiniert weiter zu kolonisieren versucht.
2. Zwei Theorien: Ein langer Briefwechsel, ein kurzer Dialog
Alfred Lorenzer hat in Lacan stets seinen wirkungsmächtigsten Antipoden anerkannt, und wenn er es mit ihm aufnahm, dann wusste er, dass er von Deutschland aus in der Arena der internationalen Psychoanalyse einen geschwächten Stand haben würde. Sein Ton der Abgrenzung war erst polemisch-scharfzüngig, dann allmählich moderater, schließlich fast schon konziliant. Nehmen wir selektiv und stellvertretend drei dieser Distinktionsgesten aus unterschiedlichen Etappen von Lorenzers Auseinandersetzung mit Lacan; und lassen wir Lacan in Paraphrase und mit entliehener Stimme auf diese buchstäblichen „Provokationen“ antworten. So kann noch einmal eine diskursive Intersubjektivität entstehen, die es zwischen den beiden nicht gab, die Lorenzer suchte, aber „auf Deutsch“ nicht finden konnte.[1] Mit Hilfe solcher deutsch-französischer „Mittler“ kam über die Jahre doch eine „intersubjektive Kommunikation“ zustande, deren Formel Lacan 1956 in seiner Lesart von Edgar A. Poes Erzählung Der entwendete Brief prägen sollte und die wir auf unser diskursives Duell zwischen dem Pariser Freud-Interpreten und dem Frankfurter kritischen Theoretiker des Subjekts übernehmen können:
»(…) und zwar nach der Formel der intersubjektive Kommunikation, mit der wir Sie schon seit langem vertraut gemacht haben: Ihr zufolge, sagen wir, empfängt der Sender seine Botschaft vom Empfänger in umgekehrter Form wieder. Somit will ‚entwendeter’, eben ‚unzustellbarer Brief’ besagen, ein Brief (eine Letter) erreiche immer seinen (ihren) Bestimmungsort« (Lacan, 1966, S. 41).
Lorenzer schickte also zahlreiche Briefe (Lettern)[2] an Lacan, ohne dessen Adresse zu kennen. Die Zustellung scheiterte aus verschiedensten Gründen historischer, gesellschaftlich-kultureller, wissenschaftsgeschichtlicher und persönlicher Art.[3] Dank einiger weniger Mittler, Komparatisten und Übersetzer erreichten diese Briefe aber schließlich doch ihren Bestimmungsort – die in diesem Band dokumentierte Tagung ist nun zu einem solchen Ort geworden.[4] Nehmen wir also einen dieser ersten Briefe Lorenzers an seinen vermeintlichen Pariser Antipoden. Er handelt wie die meisten anderen und späteren von unvereinbaren Modellen der Beziehung von Psychoanalyse und Sprache:
»Bei Lacan dient der psychoanalytische Prozeß nicht der Rekonstruktion des Originalvorfalls, d.h. der geschichtlichen Szenerie, in der eine bestimmte Interaktionsform realisiert war, sondern er zielt auf die Ermittlung von Sprachfiguren als Ausdruck einer ‚verborgenen Wahrheit’. Bei Lacan ist der Gegenstand die ‚Sprachstruktur des Unbewussten’, in einer kritischen Theorie des Subjekts sind es die real hergestellten Interaktionsformen. (…) Dementsprechend ist Psychoanalyse im Lacanschen Verständnis kein kritisch-lebensgeschichtliches Verfahren, das hermeneutisch durch die Analyse der Bedeutungen hindurch zu den konkret hergestellten bestimmten Interaktionsformen (als den Resultaten eines praktisch-dialektischen Prozesses) vordringen muss, sondern Hermeneutik im Heideggerschen Sinne. Die Lacansche Hermeneutik ist nicht ‚materialistisch’, sondern ‚idealistisch’« (Lorenzer, 1973, S. 125, 127).
Vielen Dank, mon cher Monsieur, für die Ehre, die Sie mir mit Ihrer vehementen Bezugnahme auf meine Lesart Freuds erweisen. Zunächst erstaunt mich natürlich, dass Sie behaupten, ein psychoanalytischer Prozess in meinem Sinne diene nicht der Rekonstruktion eines Originalvorfalles. Selbstverständlich haben Sie damit Recht, aber glauben Sie ernsthaft an so etwas wie einen „Originalvorfall“, der rekonstruiert werden soll? Was für ein Originalvorfall denn? Was fällt hier bei Ihnen „originär“, ursprünglich vor, oder sitzen Sie nicht zu sehr den Fallstricken eines Ursprungsdenken auf, das doch längst auf dem Prüfstand steht, jedenfalls heftigster Kritik unterzogen werden musste. Im Falle einer Traumatisierung mag dies zutreffen, und ansonsten gibt es zweifellos Eckdaten, Ereignisse und Erlebnisse im Leben des Subjekts, die Dynamik und Struktur des Unbewussten maßgeblich bestimmen, ja determinieren. Selbst dann ist Ihr „Originalvorfall“ in Gedächtnis und Erinnerung immer gefiltert, nachträglich umgeschrieben, repräsentiert, oder er entzieht sich überhaupt jeder Repräsentation. Zudem erinnere ich an Freuds späte Arbeit über „Konstruktionen in der Analyse“(1937), in der er jeder Rekonstruktion enge Grenzen zieht und den Prozess von Deutung und Interpretation vielmehr als Konstruktion bestimmt: ein gleichsam rhetorisches Angebot, das dem Analysanden – Sie wissen wahrscheinlich nicht, dass ich seit geraumer Zeit lieber von Analysanten spreche – vorschlägt, wie Szenerie und Dramaturgie einer Lebensgeschichte kontingent hätten sein können, das ihm aber auf keinen Fall intrusiv nahe bringen will, wie es zwingend in einem sogenannten Originalvorfall gewesen sein muss.
In Ihren Arbeiten sprechen Sie mir zu viel von Rekonstruktion, die zwar die Archäologie-Metapher Freuds bemüht, aber auch dort immer nur auf Fragmente und Rudimente, auf Zeichen und Symbole, auf Triebrepräsentanzen und Signifikanten stößt, die nie mehr zu einem kohärenten Ganzen zusammengefügt werden können. Allenfalls zu einer Art Modell, das aber vielmehr ein Phantasma – so meine Variante von unbewusster Phantasie – ist, das in verschiedenen Abschnitten zu „durchqueren“ meines Erachtens die Essenz eines psychoanalytischen Prozesses ausmacht. Konsequenterweise nennen Sie denn auch Ihr bedeutendes Hauptwerk „Sprachzerstörung und Rekonstruktion“, das für mich ein bemerkenswerter Fall eines, wie ich mir nun meinerseits zu polemisieren erlaube, Rousseauismus der inneren Natur ist, der sprachtheoretisch nobilitiert und in eine glücklich rekonstruierte Stimmigkeit eines unverfälschten Sprachspiels „aufgehoben“ wird. Durch Hegels Schule sind wir ja beide einmal gegangen, nur mit unterschiedlichen Konsequenzen. Dass dann ein analytischer Prozess, wie wir anhand von Freuds „kleinem Hans“ sehen werden und wie Sie dies ja in Ihrem frühen Hauptwerk demonstrierten, in ein System von sprachlich-semantischen Gleichungen wie „Pferd = Pferd, Vater = Vater oder Analytiker = Analytiker“ münden soll, kann ich auf keinen Fall vertreten.
Mein Grundverständnis der Psychoanalyse ist vielmehr tragisch im klassischen Sinne, gegen jede sprachliche Verständigung, die dann auch noch unter dem Banner welcher Hermeneutik auch immer firmiert, skeptisch gestimmt, aber gerade deshalb erst recht darauf aus, das Subjekt schonungslos mit seiner Wahrheit zu konfrontieren. Und es nötigenfalls mit ihr zu versöhnen. In einem sehr bestimmten Sinne würde ich sogar von einem „emanzipatorischen Erkenntnisinteresse“ der Psychoanalyse sprechen, auch wenn ich mein Verständnis von Freiheit, hier konsequent in Treue zu Freud und gerade als Franzose mit einem wirklich revolutionären geschichtlichen Hintergrund, nicht überschwänglich, schon gar nicht existentialistisch nennen würde. Das Unbewusste bleibt zeit unseres Lebens eine zu starke deterministische Macht, um nicht zu sagen wirkungsmächtige Struktur, die wir nicht einfach mit „rekonstruierten Sprachspielen“ aushebeln können. Das ist meine Version einer „kritischen Theorie des Subjekts“, mit der ich, und da bleibe ich überzeugt, einem Ihrer Frankfurter Doyens, Theodor W. Adorno, in meinem Denken sehr nahe stehe. Dessen zusammen mit Max Horkheimer verfasste „Dialektik der Aufklärung“ habe ich Anfang der 1960er Jahre zur Kenntnis genommen, und meine Arbeit „Kant mit Sade„ aus dieser Zeit ist ein entferntes Echo darauf, zugleich ein Reflex auf Hannah Arendts Räsonement zu Eichmann und damit deren Totalitarismustheorie. Sie sehen, und leider scheinen Sie das nicht wahrhaben zu wollen, ich gab mir Jahre vor Ihnen Mühe, eine verflachte und revisionistische Psychoanalyse nach Freud wieder in die tragischen Denkfiguren der Dialektik der Aufklärung einzufädeln. Was haben Sie übrigens gegen eine ‚verborgene Wahrheit’, wo Sie doch selbst ein weiteres Buch über die „Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis“ geschrieben haben? Wittern Sie hier womöglich auch schon Heideggers „aletheia“?
A propos Hegel: Für Sie in Frankfurt sind Begriffe wie Interaktion, Kommunikation und Sozialisation Elemente eines sozialwissenschaftlichen Dispositivs, dessen Hegelsche Spuren unübersehbar sind und aus dem Sie vor allem die „Interaktion“ zu einem Ihrer Grundbegriffe stilisiert haben. Wenn wir als Psychoanalytiker mit Freud von Trieb sprechen, dann ist dieser für Sie in seiner Suche nach Objekten immer in ein Geflecht von Interaktionen eingewoben, das unterschiedliche Gestalten annehmen kann und Moment einer historisch-konkreten gesellschaftlichen Praxis ist: Interaktion, bestimmte Interaktionsform, symbolische und sprachvermittelte Interaktionsform. Über unsere unterschiedlichen Adaptationen des Symbolbegriffes für die nachfreudsche Psychoanalyse müssten wir uns, nebenbei, gesondert unterhalten. Wir dürften uns aber in einem zentralen Punkt einig sein: Der Trieb in seinem intentionalen Kreislauf zwischen Drang, Objekt, Befriedigung und Wunscherfüllung ist nie subjektzentristisch zu denken. Dieser Kreislauf trifft immer schon auf einen Anderen, ja wird von diesem überhaupt in Bewegung gesetzt. Aber genau da trennen sich unsere Geister bereits. Und hätten Sie sich etwas eingehender mit meinem Begriff des Anderen beschäftigt, wäre Ihre Polemik zweifellos weniger scharf ausgefallen.
Wie Sie wissen, ist meine Generation durch den Hegel-Kommentar von Alexandre Kojève aus den 1930er Jahren geprägt worden. Hier ging es nicht so sehr um – was ohnehin im Französischen wenig überzeugend klingt – „Interaktion“ oder Kommunikation, wohl aber um eine anthropologisch begründete und psychoanalytisch versierte Intersubjektivität der Hegelschen Herr-Knecht-Dialektik. Aus ihr sollte ich später wichtige Grundbegriffe meiner Theorie wie das Begehren, die Anerkennung des Begehrens, meine für die Triebtheorie axiale Formel „Das Begehren ist das Begehren des Anderen“, das Genießen oder meine sogenannten Diskursmatheme, darunter dasjenige des Herrn, herleiten. Würden Sie sich diese Diskurstheorie vorführen, müsste Ihnen sogleich klar werden, dass meine Psychoanalyse eminent „herrschaftskritisch“ ist und sich keinerlei Ideologie der Anpassung, der Kontrolle oder der Kolonisation des Unbewussten verschreibt. Weshalb also Ihr aufgeregter und polemisch aufgeladener Affekt, wo ich mich doch durchweg im Geiste von Adornos negativer Dialektik und deren „konsequente(m) Bewusstsein von Nichtidentität“ wähne? Mit anderen Worten: die Psychoanalyse immer schon als kritische Theorie gedacht, praktiziert und gelebt habe. Denn wenn das Begehren immer Begehren des Anderen ist, dann liegt über dem unbewussten Subjekt des Begehrens wie über dessen Objekten stets ein Schatten der Nichtidentität: unverfügbar, begrifflich nicht einholbar, sprachlich nur annähernd symbolisierbar, sich entziehend, dem Ich und seinen Fallstricken keinerlei Herrschaft im eigenen Hause sichernd. Vor allem aber: von keiner objektiven gesellschaftlichen Macht kolonisierbar und ökonomisierbar, ein widerständiger Kern, der auch den besten Analytiker zur Demut der Unverfügbarkeit zwingt. Dass Sie mir letztlich noch zu sehr der Ich-Psychologie verhaftet sind, kann ich hier nur nebenbei erwähnen; ich will ja lediglich auf ihren zitierten Passus antworten.
Wo Sie also den Trieb und das Unbewusste durch das Nadelöhr einer Interaktionstheorie in Ihren Text einfädeln, da spreche ich auf dem Hintergrund der französischen Nachkriegsphilosophie durchweg vom Subjekt und seinen Beziehungen zum Anderen. Meine Differenzierung zwischen einem großen und einem kleinen Anderen/anderen blieb für mein Denken immer zentral und wird leider in Ihrer Polemik nirgendwo berücksichtigt. Von der Wiege, besser: bereits pränatal, bis zur Bahre ist das Subjekt, als Ungeborenes, als Säugling, als Kleinkind, Jugendlicher und Erwachsener in den verschiedensten Lebenswelten diesem großen Anderen unterworfen: vom Eigennamen bis zu den Institutionen und Symbolsystemen der menschlichen Kultur, darunter als herausragendes – hier sind wir uns einig – die Sprache, von den ersten Worten von Mutter und Vater bis zu den Imperativen gesellschaftlicher Systeme. Von den ökonomischen Zwängen bis zur Macht des Marktes, nicht zu schweigen von einer radikalen Alterität selbst unserer vertrautesten und intimsten „Nebenmenschen“ (Freud) – es gibt keinen Lebensmoment, in dem dieser „große Andere“ nicht irgendeine Präsenz bis hinein in das Gefüge unbewusster Triebrepräsentanzen markiert. Wenn Sie also gerne mit Marx vom „gesellschaftlichen Gesamtarbeiter“ oder vom „praktisch-dialektischen Prozess“ zwischen Gesellschaft und Natur sprechen, von dem dann die Mutter eine erste Vertretung besetzen soll: Eh bien, der große Andere bietet dafür lediglich einen etwas anschaulicheren, zugleich allgemeineren Oberbegriff. Aber wie Marx von sich ironisch festhielt, „moi, je ne suis pas marxiste“, so ergänze ich gerne „moi, je ne suis pas lacanien.“ So pflegen sich nur meine Schüler zu bezeichnen. Aber mit Marx will ich mich nun auch nicht messen!
Mit dem „kleinen anderen“ komme ich dem näher, was auch Sie in einem Mainstream der nachfreudschen Psychoanalyse irrigerweise und durchweg mit „Mutter-Kind-Dyade“ bezeichnen, denn eine solche Dualunion gibt es schlicht nicht. Die Psychoanalyse ist hier in die Falle einer linearen Zählung getreten: es kommt ein Kind aus dem Körper einer Mutter zur Welt (mater certissima, pater semper incertus est!), und für eine bestimmte Zeit sollen die beiden eine Einheit bilden, die dann auch noch lebensentscheidende Wirkungsmacht hat. Als Dritter taucht von nebenan ein Vater oder eine vergleichbare männliche Person auf, man spricht von Triangulation, und alle drei bilden ein ödipales Dreieck, durch das hindurch unser Kind in sein weiteres Leben blickt. Mein ganzes Denken habe ich darauf verwendet, mit dieser simplen Zählung 1,2,3 in der Psychoanalyse aufzuräumen. Dabei stand mir, und ich weiß natürlich, dass man ihn bei Ihnen in Frankfurt in Ihrer Zeit nicht sonderlich zu schätzen wusste, ja ihn fälschlicherweise als Angriff auf den historischen Materialisms wähnte, der französische Strukturalismus zur Seite. Eine „Struktur“ in dessen Sinne ist ein nach spezifischen Gesetzen geordnetes System von Differenzen, Elementen, Funktionen und Positionen, das dem Subjekt von Seiten des großen Anderen vorgegeben ist und von dem die menschliche Sprache nur ein mustergültiges Paradigma bildet. In dieser Hinsicht werden wir beide, Sie und ich, Kinder des sogenannten „linguistic turn“ in Wissenschaft und Philosophie gewesen sein, dessen Zeiten wie alles auch nicht ewig dauern.
Mit dem „kleinen anderen“ liefere ich aber weit mehr ein kritisches Konzept, das Gefahren jeder imaginären, dualen, auf Ähnlichkeiten beruhenden, „spiegelbildlichen“ Form der Identifizierung und Intersubjektivität aufweist. Ihr unkritisch von Freud übernommenes Ich bleibt, wie ich in meinem „Spiegelstadium“ nachgewiesen habe, dieser Identifizierung verhaftet. Und Ihre „Mutter-Kind-Dyade“ ist eine der frühen Sackgassen, in denen das Subjekt heillos stecken bleiben kann. In diesem „kleinen anderen“ liegen die pathogenen Abgründe für die zahllosen unbewussten und klinischen Narrative des destruktiven Narzissmus, der mimetischen Reziprozität, der malignen Aggressivität. Sie können den „kleinen anderen“ in Verbindung mit meinem topologischen Schlüsselbegriff des Imaginären ruhig als synonym mit dem kleinianischen Konzept der paranoid-schizoiden Position verstehen. Vor dem mächtigen Sog dieser Position und den Verführungen des Imaginären ist übrigens selbst die symbolische Kraft der Sprache nie gänzlich gefeit; wir sollten also deren Macht nie überschätzen. Aber genau das werfen Sie mir irrtümlicherweise immer wieder vor, bis hin zu Ihrer Kritik an meinem zentralen theoretischen Code, das Unbewusste sei wie eine Sprache strukturiert. Hier müssten wir also noch einmal genauer über die Bücher, wir werden ja eines Tages ohnehin Stoff für die Philologen abgeben. Immerhin!
Schließlich holen Sie zu einem buchstäblichen Schlag unter die diskursive Gürtellinie aus, wenn Sie eine mir angedichtete Hermeneutik zum einen mit Heidegger assoziieren, sie zum anderen als idealistisch charakterisieren. Aber ich will Ihnen dies nachsehen, ich gehe mit den meisten Psychoanalytikern nach Freud auch nicht immer zimperlich um. Polemik darf und muss sein. Meine Reinterpretation Freuds hat nicht im Geringsten etwas mit „Hermeneutik“ zu tun; dass diese im Wesentlichen, von Ricoeur einmal abgesehen, ein geistesgeschichtlicher Topos der deutschen Wissenschaftskultur blieb, dürfte eigentlich klar sein. Ich habe mich ein Berufsleben lang mit dem wissenschaftlichen Status der Psychoanalyse beschäftigt, mich aber immer entschieden von deren Einreihung in die Wirkungsgeschichte Ihres auf Schleiermacher zurückgehenden und eingedeutschten Gräzismus distanziert. Für die Wissenschaftslogik der Psychoanalyse habe ich andere Modelle entwickelt, etwa das einer „Konjekturalwissenschaft des Subjekts“, oder dann meine sogenannten Matheme, der Versuch, das Unbewusste für die Zeit nach dem „linguistic turn“ mit dem mathematischen Zweig der Topologie zu formalisieren. Mir war die Rationalität der Psychoanalyse durchweg ein erstrangiges Anliegen. Wo soll hier die Nähe zu Heidegger sein, mit dem ich zwar in der Tat ein leicht groteskes deutsch-französisches Tête-à-tête hatte, das aber wie immer einer Übertragung geschuldet ist, hinter der wir alle erst einmal hinterherhinken.
Endlich ist meine „Hermeneutik“ auch noch „idealistisch“, nicht wie die Ihre „materialistisch“! So etwas können Sie nur behaupten, weil Sie meinen „materialistischsten“ Begriff, denjenigen des Signifikanten, nicht zu kennen scheinen. Hier reitet Sie Ihre Polemik ohne Zügel, und diese wird zum Opfer des damaligen – von wegen Idealismus – Zeitgeistes. Wir bemühten uns beide nach Freud um eine neue Fassung des Symbols und des Symbolischen in der Psychoanalyse, aber der Signifikant, wie ich ihn aus dem strukturalen Zeichenmodell destillierte, ist weder Zeichen noch Symbol, sondern ein formaler Bedeutungsträger, eine Instanz zwischen Sinn und Bedeutung. Der Signifikant ist gleichsam das Atom einer Materialität, die aus dem Lautmaterial der Sprache stammt, aber nicht partout immer sprachlich sein muss. Im Grunde genommen bin auch ich mit Lukrez und Montaigne und trotz meiner katholischen Herkunft moderner Epikuräer. Für Sie mag der Materialismus bei Feuerbach und Marx beginnen, meiner geht etwas weiter zurück. Wenn ein Patient auf der Couch in jeder Stunde seine Beine abwechselnd übereinander schlägt, dann ist dies genauso ein Signifikant. Für Sie mag dies eine Deutung im Rahmen Ihrer „Hermeneutik des Leibes“ wert sein, für mich handelt es sich um Deutungen, Interpunktionen von Signifikanten. Körper und Sprache, Signifikant und triebhafter Leib sind bei mir womöglich enger miteinander vernäht als bei Ihnen Symbol und Interaktionsform. Wenn ich schließlich von einer Signifikantenkette spreche, die das Subjekt des Unbewussten repräsentiert, so verstehe ich diese als rigorosen Determinismus. Doch kann dieser durchaus in Ihrem Sinne eines „kritisch-lebensgeschichtlichen Verfahrens“, das Sie mir doch absprechen wollten, aufgebrochen werden und einen Freiheitsgewinn in Aussicht stellen.
Alles in allem sind Sie zu sehr der intellektuellen Konstellation eines falsch konstruierten Antagonismus zwischen „Geschichte“ und „Struktur“ verhaftet, die auch in Paris skurrile Blüten trieb, für mein Denken aber in keinerlei Weise maßgeblich ist. Wenn Sie in Ihren Schriften am laufenden Band von subjektiver und objektiver Struktur sprechen, dann müssten Sie Ihren Strukturbegriff trennschärfer von dem des Strukturalismus abgrenzen. Als man mich sogar zum „historisch-materialistischen Denker“ stempeln wollte, war dies für mich, erinnern wir uns an das Drama von Louis Althusser, genauso ehrenvoll wie Ihre Polemik gegen mich. Es gab mir die Genugtuung, am damaligen Puls von Philosophie und Gesellschaftstheorie zu stehen. Aber noch wichtiger als solche narzisstischen Gefälligkeiten war mir immer, die Psychoanalyse inmitten einer Gelehrtenrepublik als „res publica“ wahrgenommen und dort als kritische Denkform rezipiert zu wissen. Weshalb dies partout nicht in Ihre Abgrenzungsstrategie passen will, ist mir rätselhaft. Oder es zeigt mir, dass Sie sich auf eine – in meinem strengen Sinne des Begriffs – imaginäre Spiegelfechterei eingelassen haben und sich von einer, wie dies unser düster-hellsichtiger Zeitgenosse René Girard deuten würde, mimetischen Rivalität des Begehrens treiben ließen. Aber was wäre denn das Objekt dieses Begehrens? Etwa der skeptische, leicht verwunderte Blick von Freuds Geist auf unsere redlichen Bemühungen, sein Erbe, seine Gabe einigermaßen tauglich, bestenfalls immer noch verführerisch, jedenfalls überzeugend für dürftigere Zeiten im 21. Jahrhundert zu machen? Der Blick Freuds, nach dem wir beide, wie andere unserer ambitionierteren Kollegen auch, schielen? Hören wir dazu erst einmal einen nächsten Brief aus Ihrer Feder an mich:
»Die Verfälschung Lacans zum historisch-materialistischen Denker verlegt den Zugang zu seiner bedeutenden Leistung: Noch einmal Psychoanalyse innerhalb ihres Theorierahmens vor jeder Auseinandersetzung mit der Marxschen Gesellschaftstheorie bis ans Ende gedacht zu haben, zum ersten Mal die faszinierende Problematik von psychoanalytischem Gegenstand und Sprache erfasst und als Einheit gedacht zu haben. Unter dem Zwang dieser Einheit wird das Subjekt zur Leerstelle – und wird die Frage nach der Produktion individueller Struktur unter objektiven Bedingungen vorweg ‚gegenstandslos’. In der um jeden Preis festgehaltenen Einheit von psychoanalytischem Gegenstand und Sprache werden die Wahrheit und das Unbewusste dem irdischen Zusammenhang mit gesellschaftlicher Praxis so gänzlich entzogen, dass die Annahme, dieses Unbewusste sei ganz und gar Ergebnis einer beschädigten Herstellung dieses Kindes in dieser Gesellschaft auf diesem geschichtlichen Stand, wie eine Tempelschändung anmutet. Sie muss begangen werden, der letzte Gegenstand der Psychoanalyse muss ‚hinter’ Sprache in der freilich ohne Sprache nicht denkbaren praktisch-dialektischen Auseinandersetzung des Menschen mit Natur begriffen werden« (Lorenzer, 1977, S. 179).
Mon cher Lorenzer, ich muss mich in meiner Antwort trotz des Ausmaßes Ihrer Kritik kürzer, dafür umso prägnanter fassen. Sie unterstellen mir, den Zusammenhang zwischen Sprache und Unbewusstem als eine „Einheit zu denken“. Sie verkennen, dass ich prinzipiell nie in Begriffen irgendeiner „Einheit“ denke; ich würde mich damit selbst desavouieren und den von mir reichlich beschriebenen Ködern des Imaginären auf den Leim kriechen. Aber das Wort hat für Sie in Deutschland offenkundig eine andere historische Semantik. In meiner Konzeption ist das Subjekt gerade mit seiner unumgänglichen Unterwerfung unter die symbolische Ordnung immer schon gespalten, und so wird jede „Einheit“ zum vergeblichen Wunsch, diese irreversible Spaltung doch trügerisch und in Selbsttäuschungen rückgängig zu machen. Darüber belehrt uns nicht zuletzt die Vielfalt unserer klinischen Erfahrung. Eine Einheit von Sprache und Unbewusstem habe ich also nie behauptet; auch suggeriert meine Formel „Das Unbewusste ist wie eine Sprache strukturiert“ nicht im Geringsten eine solche Union. Würden Sie auf unserem heutigen Stand Ende der 1970er Jahre mein Werk wirklich überblicken und gründlich kennen, wären Sie auf meinen späten Zentralbegriff des Realen gestoßen, dessen Tücken des Objekts das Subjekt auf seiner verbissenen Suche nach irgend einer Repräsentanz von Einheit immer mehr oder weniger schmerzhaft zu Fall bringt. Und dass ihm schon gar nicht das menschliche Vermögen der Sprache eine solche Einheit verbürgt, im Gegenteil. Wenn das Subjekt diesen Fall dann auch noch „genießt“, wird dies erst recht ein Skandal für Ihre Kategorien sein, aus denen Sie Freuds Begriff des Todestriebs in seiner stummen Wirkungsmacht verwarfen.
Dass ich dem Todestrieb unter erheblich erweiterten Vorzeichen und zusammen mit Melanie Klein die Treue hielt, macht die Psychoanalyse selbstverständlich nicht geradewegs anschlussfähig an die Marxsche Gesellschaftstheorie – ein Anschluss, um den Sie sich in Deutschland neu bemühten, über dessen Tragweite aber erst die Geschichte nach uns urteilen wird. Meine „Rückkehr zur Freud“ verstand ich vielmehr als Phönix, der aus der Asche des klassischen Freudo-Marxismus wieder aufsteigt und die restlichen Funken neu versprüht. Für mich ist freilich die von Ihnen vertretene Komplementarität von Freud und Marx, eine dialektische Einheit von psychoanalytischer Theorie des Subjekts und Marxscher Theorie gesellschaftlicher Objektivität, eine Fiktion des Imaginären. Theorie als Fiktion, wir verzichten wohl ungern darauf; wir sollten uns dabei aber in der alten Tugend der Bescheidenheit üben, die uns vor der grandiosen Hybris schützt, als Psychoanalytiker in den Gang der Geschichte eingreifen zu können. Wir tun dies dagegen als politische Citoyens, ansonsten gehen „Strukturen“ in der Tat, wie das Bonmot hieß, „nicht auf die Straße“. Ich habe Ihnen vorhin Rousseauismus der inneren Natur vorgeworfen; heute erlaube ich mir, Ihre Theorie im Lichte von Hegels „schöner Seele“ zu schätzen. Diese weigert sich bekanntlich, auch nur die geringste Verantwortung für das eigene Leiden und seine psychische Realität zu übernehmen. Der schuldige Bösewicht ist in der paranoiden Grundverfassung unseres Ich immer der angeklagte Andere, eines Ich, das gerne verkennt, dass es sein Leiden durchaus lustvoll genießt. Kennen Sie übrigens meinen Begriff der „symbolischen Kastration“?
Nein? Dann wären Ihnen auch meine dem Subjekt gerade im Realen gesetzten Grenzen einer Selbstermächtigung in der Sprache geläufiger. Das Reale ist „hinter“, „unter“, „neben“, „über“, „jenseits“ der Sprache: Sie hören, ich kokettiere mit Ihren eigenen Verräumlichungen des Unbewussten, die folgerichtig in Ihren methodischen Kanon der „Tiefen“hermeneutik eingegangen sind. Ich für meinen Teil bin in diesen Jahren gerade mit beträchtlichem Aufwand damit beschäftigt, meinen eigenen „linguistic turn“ in gewisser Weise „hinter“ mir zu lassen und nach neuen topischen Modellen für Struktur und Dynamik des Unbewussten zu suchen. Dabei bin ich in der mathematischen Topologie und Knotentheorie fündig geworden; aber lassen wir das für heute.
Ein letztes Wort zur angeblichen „Verfälschung zum historisch-materialistischen Denker“, deren Objekt ich nach Ihnen sein soll. Wie Sie wissen, rekrutiert sich ein Teil meiner jüngeren Gefolgschaft aus der französischen und internationalen Neuen Linken der 1970er und 1980er Jahre. Das Phänomen eines „Links-Lacanianismus“ betrachte ich wohlwollend, wenn auch schmunzelnd ironisch. Tatsächlich aber eignet sich mein psychoanalytisches Denken womöglich zukunftsträchtiger als das Ihre für eine Kapitalismuskritik, die uns zweifellos in den kommenden Jahrzehnten noch radikaler als heute umtreiben wird. Allerdings habe ich meine Rechnung mit Hegel und Marx erst einmal bereits 1964 gemacht. Ich habe mich am Ende meines Seminars über „Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse“ zu den Grenzen eines hegelo-marxistischen Geschichtsdenkens geäußert, das für Ihre psychoanalytische Metatheorie des Subjekts den komplementären geschichtsphilosophischen Rahmen bildet. Insofern gebe ich Ihnen sogar Recht, aber nur ex negativo, weil dieser Rahmen zu einer Zeit auf seine beschränkte Reichweite stieß, als Hannah Arendt den Eichmann-Prozess in Jerusalem kommentierte und die Auschwitz-Prozesse in Deutschland kurz bevorstanden. Erlauben Sie mir, wenn ich mich kurz selbst aus dem Jahr 1964 zitiere:
»In der Geschichtsschreibung der Zeit, die wir durchlebt haben, ist etwas, das tief unter einer Maske versteckt geblieben ist. Ich meine jene überaus monströsen, angeblich längst überwundenen Formen des Opfers, die im Drama des Nazismus wieder Gegenwart wurden. Ich behaupte, dass keine Geschichtsauffassung, die sich auf hegelo-marxistische Prämissen stützt, von diesem Wiederauftreten Rechenschaft zu geben imstande ist, bei dem es sich zeigt, dass den dunklen Göttern zu opfern etwas ist, dem, in einer Art monströser Befangenheit, nur wenige nicht erliegen« (Lacan, 1978, S. 289).
Mit solchen Interventionen, vor allem aber mit meiner Arbeit „Kant mit Sade“ aus dieser Zeit, stand ich nicht nur, wie erwähnt, der Dialektik der Aufklärung womöglich näher als Sie dann Jahre später mit einer weit utopischeren kritischen Theorie des Subjekts. Aber wie tief sind Sie, mit Verlaub, mit Ihrem theoretischen Instrumentarium unter diese Maske vorgestoßen, und reichten Ihre „geschichtsmaterialistischen“ Prämissen als ideologisches Fundament Ihrer Subjekttheorie aus, um diese monströsen Formen des Opfers, also den Zivilisationsbruch, zu denken? Gibt es in ihrer Theorie eine Repräsentanz, ein Denken des Bösen, das für Hannah Arendt nach dem Zweiten Weltkrieg und nach Auschwitz ein fundamentales Problem jenseits der Theodizee bleiben wird? Gibt es für Sie das „radikal Böse“ (Kant) in der menschlichen Triebstruktur, oder ist diese mit dem, was sie als Gutes enthält, für Sie nicht einfach immer nur korrumpiert durch Sozialisation und „Produktion subjektiver Struktur“, durch unvermeidlichen kulturellen Triebverzicht? Wenn ja, dann würden Sie mit Wilhelm Reichs „naturalistischer Befreiung des Begehrens“ die Freudsche Triebtheorie selbst hinter Kant zurückfallen lassen; wenn nein, müssten Sie Ihren Interaktionismus mit der Negativität des Bösen kompatibler machen. Leben und Denken de Sades, also weit mehr als ein abgeschliffener Begriff des Sadismus, gehören für mich als Franzose nun einmal zum Bildungskanon der Psychoanalyse. Wir wollen doch auch als Freudianer weiterhin begreifen, weshalb Tugend und Terror, Tugend und Laster, Moral und Grausamkeit, das höchste Gut und das abgrundtiefe Böse so oft zwei Seiten desselben Blattes sind. Und weswegen gerade die revolutionären Stürme der Geschichte dieses Blatt immer wieder blutig aufwirbelten.
In dieser Hinsicht fühlte ich mich in der Psychoanalyse mit Melanie Klein stets auf weiter Flur allein. Ich will mir mit alledem nicht anmaßen, mit meiner Psychoanalyse nach Freud dieses Niemandsland des Verstehens und Erklärens sicherer als Sie betreten zu haben. Ich will mich lediglich gegen Ihr Verdikt verteidigen, ich würde mich nicht auf Prämissen, eben auf hegelo-marxistische, stützen, deren analytische Tragfähigkeit und Überzeugungskraft zum Zeitpunkt Ihrer Polemik vorerst gerade noch gute 10 Jahre halten sollten. Wenn ich selbstgerecht wäre, könnte ich behaupten, die Geschichte hat mir und meiner Psychoanalyse Recht gegeben. Aber wie ich ebenfalls schon sagte, ich stehe der tragischen Seite der Geschichte und der hegelianisch unaufhebbaren Zerrissenheit des Subjekts einfach näher als Sie. Insofern blieb mein Denken womöglich robuster und besser vorbereitet für die Zeit nach dem Ende der großen Utopien und grausamen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Meine Theorie hat das immer mögliche Scheitern alles Menschlichen – eben den zutiefst tragischen, oft tragikomischen Realismus des Unbewussten – eingebaut und verarbeitet. Ich konnte hier schließlich direkt an den späten, skeptisch-pessimistischen Freud, im Besonderen an seine Todestrieb-Hypothese, anknüpfen, die für seine linke Filiation stets ein Dorn im Auge bleiben musste. Und wenn das Subjekt über die Stolpersteine des Realen zu Fall kommt, um sich bestenfalls aufzufangen und illusionslos wieder aufzurichten, dann zähle ich mich zu denen, die diesen Fall mit Würde und Einfühlung betrachten. Niemand ist gegen diesen Fall versichert. „Scheitern. Besser Scheitern!“ – wie ich es mit Beckett gerne halte, dessen Analyse bei dem von mir sehr geschätzten Bion nachweislich auch nicht gerade als gelungen bezeichnet werden kann. Seiner Stellung als einer der bedeutendsten Literaten des 20. Jahrhunderts, für den der absurde, jedenfalls immer paradoxe Gang der Dinge auch nicht hegelo-marxistisch verlief, hat dies nicht geschadet. Aber ich schlage vor, dass wir diese dünne Luft verlassen und uns noch einmal, es liegt uns einfach näher, klinischen Stoffen zuwenden, um hier unsere Klingen zu schärfen. Ich jedenfalls lehne mich zurück und sehe zu, wie sich unser Austausch von Lettern neue Bestimmungsorte sucht.
***
Als Lorenzer mit seinen späten Vorlesungen lateinamerikanischen Boden betrat, stieß er selbst auf ein Terrain vor, in das Lacansche wie auch kleinianische Psychoanalyse conquistadorisch schon vorgedrungen sind und auf dem er zu einer letzten Abgrenzung ausholen konnte. Hier finden wir auch die Summe seiner Auseinandersetzung mit Lacan, eine letzte lettre, auf die dieser nicht mehr antworten wird – nicht aus Gründen fehlender Höflichkeit, sondern um sich einem Spiegelgefecht zu entziehen, das hier schon die Gestalt einer Tautologie anzunehmen beginnt. Abgesehen davon, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr lebte:
»Auch wir halten daran fest, dass das Unbewusste ein Sinnsystem ist, insoweit also ‚wie’ eine Sprache strukturiert ist. (…) Allerdings gründet unser Verständnis vom Unbewussten als ‚Sinnstruktur’ nicht auf der Sprachtheorie, sondern auf einem geschichtsmaterialistischen Praxisverständnis. Deshalb kehrt sich uns der Satz ‚Das Unbewusste ist wie eine Sprache strukturiert’ um zur These ‚Die Sprache ist wie das Unbewusste strukturiert’. Was diese These genau besagt – und dass sie mehr ist als eine polemische Floskel –, werden wir sehr ausführlich zu diskutieren haben« (Lorenzer, 2002, S. 84f.).
Sehr ausführlich zu diskutieren haben“ – das war auch unser Anspruch an die Tagung. Mit etwas Pathos ließe sich sagen: Wir rollten, um auf Camus und seinen Sisyphos zurückzukommen, den Stein einer für diesen Fall mit Lacan und Lorenzer bestückten Psychoanalyse noch einmal hoch. Und sollte dieser Stein, wie im Mythos ja vorgesehen, wieder hinunterfallen, dann mag das absurd sein, aber tant mieux: Man hätte auf jeden Fall genug zu tun. Doch wird auch diese Absurdität jedem fairen Duell um die Frage nach der überzeugendsten, schönsten und elegantesten psychoanalytischen Theorie in der heutigen, wieder einmal dürftig gewordenen Zeit, noch lange nicht den Stachel ziehen.[5] Dies zudem in einer Epoche, in der psychoanalytische Konzepte, Modelle und Theorien leidenschaftslos in einer friedlichen Koexistenz nebeneinander her leben und dieses Leben mehr oder weniger krisenfest in einer institutionalisierten Routine führen.
Dagegen gibt es inzwischen längst Vorstöße, den etablierten Beständen unserer Disziplin neue Kombinationen abzuringen, den Klebestoff von Schulen auszudünnen und die Grundbegriffe zu verflüssigen.[6] Das gilt nicht allein für Lacan und Lorenzer (vgl. Heim, 1980); dies gilt für Grenzgänge zwischen Lacanscher und kleinianischer Psychoanalyse, dies gilt zwischen Lacan und Bion (vgl. Heim, 2005, 2011), neuerdings gar zwischen Bion und Lorenzer. Also Grenzgänge zwischen gut eingeübten Sprachspielen, eine Prüfung von Wahlverwandtschaften und Affinitäten, von Schnittstellen, Differenzen und Brüchen, die dieser Band noch einmal zwischen Lacan und Lorenzer vorführt. Gewiss nicht als Dialektik mit konsensfähiger Synthese. Aber vielleicht gibt es ja doch so etwas wie die lingua franca, ein esperanto des Unbewussten in der Vielfalt seiner Dialekte und Stimmen. „Common ground“ wurde das auch schon genannt. – Im Übrigen fand die Tagung im Jahr 2014 statt, in dem neben der Ukraine-Krise die Erinnerung an den Ausbruch des 1. Weltkrieges, dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, in einem Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stand. Im „Sommer vor dem Kriege“, noch 1913, führte Freud ein Gespräch mit einem Dichter über den Wert der Vergänglichkeit.
»Ein Jahr später brach der Krieg herein und raubte der Welt ihre Schönheiten. Er zerstörte nicht nur die Schönheit der Landschaften, die er durchzog, und die Kunstwerke, an die er auf seinem Wege streifte, er brach auch unseren Stolz auf die Errungenschaften unserer Kultur, unseren Respekt vor so vielen Denkern und Künstlern (…) Er beschmutzte die erhabene Unparteilichkeit unserer Wissenschaft, stellte unser Triebleben in seiner Nacktheit bloß« (Freud, 1916a, S. 361).
So fragten wir uns mit Jacques Lacan und Alfred Lorenzer, was es 100 Jahre später heißt, „das Triebleben in seiner Nacktheit bloßzustellen“, zumal, wenn es diesmal glücklicherweise nicht ein Krieg ist, der das an unserer Stelle tut.
(…)
4. Was weiß Lacan? Was weiß Lorenzer? Übertragung und Charisma[7]
Wie einleitend bemerkt, summiert sich Lacans und Lorenzers Wirkung in einer transgenerativen Filiation der Übertragungsliebe. Würden beide noch leben, würden sie dem mit ihrem besten analytischen Gewissen zustimmen. Es kann auch gar nicht anders sein, denn Übermittlung und Weitergabe psychoanalytischen Wissens ist nicht ohne Liebe und damit unvermeidlich Übertragungsliebe denkbar. Idealtypisch wird diese Liebe aber stets vom Modell der Beziehung zwischen einem Meister und seinem Schüler, von einer Hegelschen Dialektik von Herr und Knecht getragen.[8] In der okzidentalen Geistesgeschichte gibt es kein prominenteres Szenario für dieses Beziehungsmodell als Platons Gastmahl und in diesem die Position und Funktion des Sokrates. Es ist kein Zufall, dass Lacans wichtigster Beitrag zum Übertragungsbegriff 1960/61 wiederum aus einem langen Kommentar zu Platons Symposion besteht (vgl. 2001). Er sollte die Dialogform von Platons Werk eine »Art Protokoll psychoanalytischer Sitzungen« (a.a.O., S. 43) nennen. Erlesene Gäste halten darin in einem regelförmigen Zeremoniell eine Lobrede auf ein gewähltes Thema: Geld und Reichtum, Entstehung und Differenz der Geschlechter, Gesundheit, Eros und Liebe. Der Reigen mündet in das dramatische Finale zwischen Alkibiades und Sokrates, in dem dieser dem Begehren des Alkibiades eine gehörige Lektion erteilt und es als Übertragungsliebe entlarvt: es gilt nicht ihm, Sokrates, sondern einem anderen, dem Gastgeber Agathon. Das Begehren ist immer Begehren des Anderen, und Sokrates ist einer der ersten Lehrmeister dieser Wahrheit in allen Liebesdingen. So wurde Sokrates zum mustergültigen „Erotiker“ unserer Tradition, einer Tradition, in der die Freudsche Psychoanalyse steht und die sie in ihrem eigenen Feld fortgeschrieben hat.
Wir können in abgewandelter Form die Beiträge dieser hier dokumentierten Tagung als je drei Lobreden ausgewiesener Experten auf Lacan und Lorenzer verstehen und nun als Texte zur Kenntnis nehmen. Die Tagung Noch einmal / Encore: Jacques Lacan trifft Alfred Lorenzer am 14. Juni 2014 in Zürich war ein Gastmahl eigener Art. Konsequenterweise besetzen die beiden dann aber eine sokratische Position. Doch dies hätte eine Reihe von Implikationen zur Folge, die durchdacht werden müssten. Wir hätten es also mit sechs Lobreden auf die Theoretiker und Kliniker Lacan und Lorenzer zu tun, die zudem der „angewandten Psychoanalyse“ in Gesellschaft, Kultur, Literatur und Geschichte ein unerschöpfliches Forschungspotential hinterließen. Dies alles ist geläufig und stimmt mit den zahlreichen Feldern und thematischen Schnittstellen überein, in denen eine zeitgenössische Psychoanalyse mit Lacan und Lorenzer in ungebrochen erfreulicher Produktivität unterwegs ist. Deren sokratische Position zu reflektieren ist aber noch einmal etwas anderes.
Pikanterweise liefert uns Lacan in seinem Kommentar, insbesondere zur Beziehung zwischen Alkibiades und Sokrates, den Schlüssel für diese Reflexion gleich selbst. Um diese Beziehung zu erhellen, sie im präzisen Sinne zu analysieren, belehnt Lacan das griechische Wort agalma, was Schmuck, Zierde, wertvolles Objekt bedeutet. Es ist dies ein Objekt, das mitunter zum Fetisch taugt, das aber im Wesentlichen ein „inneres Objekt“ ist, ein Objekt innerhalb eines Kästchens, eines Gefäßes, eines Containers, eines Behältnisses. Die kleinianische Lehre schwingt hier unüberhörbar mit, und es ist kein Zufall, dass Lacan, wie so oft, auch hier ihre Nähe sucht, um das agalma psychoanalytisch anzueignen. Das agalma enthält, ja ist das Objekt des Begehrens: »Wenn dieses Objekt (…) leidenschaftlich berührt, so deshalb, weil es dadrin, in ihm verborgen, das Objekt des Begehrens gibt, agalma« (Lacan, a.a.O., S. 188). Wie jedes Objekt im präzisen psychoanalytischen Sinne ist auch das agalma, so Lacans Reverenz an Melanie Klein an dieser Stelle, ein Partialobjekt. Als solches wird er aber schließlich auch das von ihm eigens definierte Objekt klein a, die Objekt-Ursache des Begehrens, bestimmen. »Merken Sie sich einfach, dass in der gegenwärtigen Entwicklung des analytischen Diskurses dieses Objekt, agalma, klein a, Objekt des Begehrens, wenn wir es gemäß der Kleinschen Methode suchen, von Beginn an da ist, vor aller Entwicklung der Dialektik, als Objekt des Begehrens bereits da ist« (Lacan, a.a.O., S. 189).
Jede Liebe und Übertragungsliebe kreist, genauso wie jedes sexuelle Begehren und jede Erotik, um agalmata dieser Art, dreht sich in ihrem Kern um ein „kleines“ oder winziges, unscheinbares, aber umso wertvolleres Partialobjekt, sieht sich verursacht durch ein Objekt klein a. Das gilt folgerichtig für die Beziehung zwischen Alkibiades und Sokrates: »Es gibt also agalmata in Sokrates, und das hat die Liebe des Alkibiades hervorgerufen« (Lacan, a.a.O., S. 191). Bekanntlich wird Sokrates diese Liebe nicht im geringsten erwidern, sondern sie „deuten“ und ihr Begehren „erklären“, darin war er in konsequenter Manier Psychoanalytiker avant la lettre. Er deutet eine Übertragung auf der Grundlage einer Übertragung, die folgerichtig nur schwer aufzulösen und reflexiv einzuholen ist. Aber Sokrates gilt im tradierten Klischee auch als derjenige, dessen agalmata ein kostbares Wissen enthalten, das ihm dialogisch abgerungen oder das in einer Lobrede gepriesen werden soll. Er wird bekanntlich auch diese Übertragung enttäuschen. So wird er Lacan wenig später Pate stehen für das eigentlichen Zentrum seines reformulierten Übertragungsbegriffs, dem zufolge es Übertragung immer dann gibt, wenn „einem Subjekt Wissen unterstellt wird“, wenn die Liebe, und sei es diejenige zu einem Wissen, um die Achse eines sujet supposé savoir kreist. Es gibt unzählige Facetten und Nuancen der Übertragung, immer aber geht es darum, dass ein Anderer vermeintlich das Wissen besitzt, nach dem das Subjekt – und dies nicht bei weitem nicht nur am Beginn einer Analyse – sucht. Dies ist der projektive und zuweilen paranoide Kern jeder Übertragung. Melanie Klein hat in ihrer Beschreibung der Beziehung des Säuglings zum Partialobjekt der mütterlichen Brust die Archäologie dieses Wissens zutage gefördert.
Mit diesem sokratischen Übertragungsmodell müssen wir uns zuletzt fragen: Welches sind, welches waren die agalmata Lacans und Lorenzers, welches Wissen konnten wir ihnen unterstellen, welche Objekte klein a riefen unser Begehren hervor, das uns vielleicht ein Berufsleben lang mit ihnen beschäftigt, ja in Lohn und Brot halten lässt oder eine Leidenschaft für die Psychoanalyse befeuert? Was verursacht unsere Übertragungsliebe zu ihnen? Dies ist eine ungewohnte Perspektive auf die Wirkungsgeschichte der beiden, die aber in einem konsequenten Sinne kritisch-selbstreflexiv ist und mitnichten nur auf die Couch einer weiteren Tranche der Selbstanalyse gehört. Diese Perspektive zwingt uns gar zu einem nächsten Schritt, der uns abschließend zu Lacans Theorie der vier bzw. fünf Diskurse, mit denen Peter Widmer diesen Band eröffnete, zurückführt. Lacan dachte diese zunächst vier Diskurse – des Herrn, der Universität, des Hysterikers, des Analytikers – als soziale Bänder, die uns, unabhängig davon, ob wir wirklich Herrschaft ausüben, einer Universität angehören, Hysteriker sind oder die Psychoanalyse professionell betreiben, in vier variablen Konstellationen „subjektivieren“. Diese Diskurse waren universalistisch gemeint, gleichsam symbolische Formen, die den zahllosen individuellen, soziokulturellen und wissenschaftlichen Lebensvollzügen das Rückgrat einer Struktur bieten. Lacans Diskurse bilden eine formal hoch elaborierte psychoanalytische Gesellschaftstheorie; es sind mathematisch spielerische Modelle dessen, was Gesellschaften „im Innersten zusammenhält.“
Nur so können wir uns dazu autorisiert sehen, nun auch die Namen „Lacan“ und „Lorenzer“ als Herrensignifikanten in Lacans geviertelte Diskursrotation einzufügen. Je nach dem, in welchem Diskurs sie diese Position besetzen, verändert sich die Beziehung des Subjekts zum „Wissen, das es ihnen unterstellt“, und gewinnen Mehr-Lust und Genießen eine jeweils andere Qualität. Es ist also keineswegs ausgemacht, dass die Psychoanalytiker, Theoretiker oder Forscher, die ihre Ressourcen und Inspirationen bei Lacan oder Lorenzer beziehen, dies ausschließlich und selbstredend im „Diskurs des Analytikers“ tun. Im Gegenteil, sie müssen vor allem auf der Hut sein und sich immer wieder darüber Rechenschaft ablegen, ob sie ihre Liebe zu einem der beiden nicht doch im „Diskurs des Herrn“ kultivieren und diesem postum als Knecht die Konten seiner Mehr-Lust vermehren. Und sollten sie, paradox und „unmöglich“ genug, die Psychoanalyse, in unserem Kontext nun die von Lacan und Lorenzer, an der Universität lehren, werden sie wiederum den Studenten zu verstehen geben, dass das Wissen, das die Universität traditionell auf ihre Fahnen geschrieben hat, ein anderes ist als das – sokratische – Wissen, das den „Diskurs des Analytikers“ bewegt und das eine Subversion jedes Herrschaftswissens betreibt. Deshalb muss aber auch gesagt sein: Weder Lacans noch Lorenzers kritische Theorien des Subjekts sind grundsätzlich dagegen gefeit, die geronnene Gestalt eines Herrschaftswissens anzunehmen und sich in einem „Diskurs des Herrn“ zu etablieren. Sollte sich dies abzeichnen, empfiehlt es sich, sich darauf zu besinnen, dass Freuds historischer Durchbruch zur Psychoanalyse seinen Hysterika zu verdanken ist. Mit anderen Worten: es gilt, den Herrendiskurs so zu hysterisieren, dass er sich verflüchtigt, seine Maske ablegt, seine Übertragung erkennt und schließlich gegen die stahlharte Routine der Wiederholung eine Krise zulässt, die erst Neues ermöglicht und kreative Rekombinationen schafft.[9] Dies trifft für die Übertragungsliebe zu Lacan und Lorenzer genauso zu wie für jeden analytischen Prozess. Nur kontrafaktisch können wir somit aus dem „Diskurs des Analytikers“ den normativen Maßstab schmieden, an dem sich diese Liebe bestimmen ließe.
Weil jede Beziehung zwischen Meister und Schüler zunächst dem „Diskurs des Herrn“ angehört, liegt es nahe, dass dieser von einem Geist des Charismas umgarnt ist. George Steiner hat zu Recht von einem „charismatischen Bann“ des Meisters gesprochen, in dem dieser, so die Konsequenz des Gedankens, den Schülern seine agalmata andeutet und ihnen ein Gefäß für das Objekt klein a ihres Begehrens bietet. Der „Diskurs des Herrn“ ist somit eine Keimzelle für jenen Herrschaftstypus, der seit Max Weber als „charismatische Herrschaft“ geläufig ist. Das agalma enthält das Charisma. Können wir in der Geschichte der Psychoanalyse und abgesehen von Freud selbst von charismatischen Gestalten sprechen, in denen sich die transgenerativen Filiationen bündelten und die Weitergabe psychoanalytischen Wissens personalisierte? Waren Melanie Klein oder Wilfred R. Bion Charismatiker? Sind es Lacan und Lorenzer? Will man die Frage beantworten, bewegt man sich auf dünnem Eis, kann aber für sich den „herrschaftsfreien Diskurs“ mit seinen Regeln reklamieren. Wenn ja, was brächte Lacan und Lorenzer in die zwielichtige Nähe des Stefan George-Kreises, aus dessen Habitus Max Weber seinen Begriff eines charismatischen Herrschaftsverbandes herleitete, den er als „emotionale Vergemeinschaftung“ mit tiefer, im Grunde quasireligiöser Identifizierung sondierte?[10] Dass dieser Verband einem wissenschaftlichen Denksystem, einer Doktrin, einer begrifflich konsistenten Theorie und ihrer methodischen Anwendung verpflichtet ist, schließt eine selbstreferentielle Vergemeinschaftung und unbewusst religiös gefärbte Identifizierung nicht aus.
Max Weber kannte den psychoanalytischen Begriff der Übertragung nicht; er hätte ihn dankend übernommen. Und welche „Gnadengabe“, so die altchristliche Herkunft des Charismas, würden unsere weltlichen Gründungsfiguren nach Freud verkörpern (encorporer), ausgestattet mit dem agalma einer »außeralltägliche(n), magisch bedingte(n) Qualität, um derentwillen eine Persönlichkeit als ‚Führer’ anerkannt wird« (Weber, 1985, S. 124)? Es ist die säkularisierte Gnadengabe eines kraft Übertragung unterstellten Wissens, das eine Verkörperung des Wissens der ersten Gründungsfigur in der Psychoanalyse, also des Wissens und Charismas Freuds, bildet. Und bleiben wir bei Lacans sokratischem Modell der Übertragung, dann sind sowohl er wie Lorenzer oder andere Charismatiker in der Psychoanalyse Träger eines Objekts klein a, das das Begehren all jener verursacht, die ihrer Filiation angehören und damit in eine Kette der Übermittlung eingegliedert sind. Doch im Gegensatz zu einem objektivierbaren und formalisierten Wissen, zumal universitärer Provenienz, ist diese Übermittlung immer an die – von Männer wie Frauen besetzbare – Funktion eines „Meisters“, eines „Herrn“, eines „Lehrers“ mit charismatischer Aura gebunden.[11] Es war Lacan selbst, der noch versuchte, der Reduktion seiner Lehre auf einen „Diskurs des Herrn“ entgegenzuwirken – indem er mit seinen „Mathemen“ die psychoanalytische Theorie auf seine Weise zu formalisieren suchte und ihr eine Tradierung jenseits der Übertragung ermöglichen wollte, zuletzt aber 1980 mit der Auflösung der von ihm gegründeten „Ecole Freudienne de Paris“. Doch die neueste Diskussion um die kryptische „kirchliche Verfasstheit“ (Thomas Pollak) psychoanalytischer Institutionen, Gruppen, Seminare und „Kreise“ zeigt auch hier, dass diese Säkularisierung nie gesichert bleibt und die stumme Gewalt der Übertragung, die Unterstellung von Macht und Wissen, schwer zu brechen ist. Dies gilt auch dann, wenn charismatische und religiös musikalische Denker wie Lacan und Lorenzer erklärte Materialisten und Atheisten waren. Die unabgeschlossene und unabschließbare Dialektik der Säkularisierung hat die Psychoanalyse nicht verschont.
Gestatten wir uns ein letztes Gedankenspiel. Die Psychoanalyse ist unbestritten eine Wissenschaft eigener Art, zuweilen mehr einer Kunst, gar einer Anleitung zur Lebenskunst und ethischem Handeln zugeneigt. Wer wie Lacan und Lorenzer diese Wissenschaft einer strengen logischen Gliederung und Strukturierung zu unterziehen versucht, stößt unweigerlich auf Wittgensteins legendäres Ende seines Tractatus. Das logische begriffliche Denken öffnet sich nach seinem letzten Schluss auf eine Ethik hin. Das Interesse des späten Lacan galt dem frühen Wittgenstein des Tractatus, dasjenige Lorenzers dem späten der Philosophischen Untersuchungen. Er entnahm ihnen den Begriff des „Sprachspiels“, um ihn auf der Gegenstandseite der psychoanalytischen Erkenntnis zu verorten: das Unbewusste als desymbolisiertes, privatsprachlich kaschiertes Sprachspiel. Wittgenstein aber hielt an diesem einen unabschließbaren Pluralismus fest, der auch das Denken und Sprechen, die Theoriearbeit in und mit Sprache sowie ihre logifizierten Produkte in der Psychoanalyse in sich enthält. Sie sind einige von „unzähligen Arten“ von Sprachspielen:
»Wieviele Arten der Sätze gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl? – Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir ‚Zeichen’, ‚Worte’, ‚Sätze’, nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen. (…) Das Wort ‚Sprachspiel’ soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform. (…) Es ist interessant, die Mannigfaltigkeit der Werkzeuge der Sprache und ihrer Verwendungsweisen, die Mannigfaltigkeit der Wort- und Satzarten, mit dem zu vergleichen, was Logiker über den Bau der Sprache gesagt haben« (Wittgenstein, 1971, S. 28f.).
Lacan und Lorenzer haben nach Freud nichts anderes als unterschiedliche, sich überschneidende, dann wieder auseinanderdriftende Sprachspiele in der Psychoanalyse gesprochen. Sie haben diese Sprachspiele zu wissenschaftlich hoch elaborierter Form veredelt und ihnen eine logisch kohärente Struktur verliehen. Es sind Sprachspiele über den Zusammenhang von Sprache und Unbewusstem, von Trieb und Begehren, von Leid und seiner Behandlung. Als Sprachspiele solcher Art sind sie zugleich Antworten auf wissenschaftliche Fragen. Spätestens dann werden sie wieder vom frühen Wittgenstein des Tractatus eingeholt, dessen Intuition das System der Wissenschaft dekonstruiert und die szientistisch nicht zu beantwortende Frage nach dem richtigen Leben stellt: »Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort« (Wittgenstein, 1960, S. 114). Der brillianteste Wissenschaftler, der in seiner Disziplin zentrale Fragen zu beantworten wusste, kann an schweren Lebensproblemen leiden, die ihn in eine Analyse führen. Das aber gilt für jeden Patienten, Analysanden oder Analysanten genauso wie für das Begehren des Analytikers, das sich nicht nur aus der Liebe und Übertragungsliebe zu seiner Disziplin und seinen Meistern, sondern in erster Linie aus seinen eigenen Lebensproblemen speist. Es sind immer diese, die am Beginn einer Analyse stehen und mit denen sie, einigermaßen hinreichend gelöst oder unzureichend ungelöst, enden.
Der Status der Theorie als Überbau über den Lebensproblemen ist in jedem psychoanalytischen Prozess ortlos und zugleich utopisch. Die Theorie als Fiktion (La théorie comme fiction), wie Maud Mannoni einmal treffend titelte, hat in der Faktizität der psychoanalytischen Situation einen schweren, unmöglichen und paradoxen Stand. Der Psychoanalytiker braucht sie und muss zugleich radikal auf sie verzichten, sie zu Beginn jeder Sitzung verlieren können. Aber die Theorie als Verlust geht damit in den Wirkungskreis des verlorenen Objekts, des Objekts klein a als Objekt-Ursache des Begehrens des Analytikers, ein. Damit wird eine Dialektik von Verlust und Wiederfinden eröffnet, wie sie Lacan in seinem Objektbegriff bestimmt hat: »Freud besteht darauf, dass jede dem Menschen mögliche Weise, das Objekt zu finden, immer nur die Folge einer Strebung ist, bei der es um das verlorene Objekt geht, um ein Objekt, das wiederzufinden ist« (Lacan, 1994, S. 13). Genau in diesem Sinne sind auch die Theorien Lacans und Lorenzers als wissenschaftliche symbolische Formen Objekte, Liebesobjekte, Objekte von Trieb und Übertragungsliebe, die verloren werden müssen, um sie wiederzufinden. Dazu bräuchte es, um mit dem Frankfurter Soziologen Ulrich Oevermann zu sprechen, eine Zeit der Krise, nicht die schal gewordene Zeit professionalisierter Routine, die sich in Wiederholungen erschöpft und doch von einem business as usual nicht schlecht lebt. Es wäre für den Psychoanalytiker die Zeit der „schöpferischen Zerstörung“ (Joseph Schumpeter), der kreativen Rekombination von theoretischen Positionen und Produktionsmitteln, des symbolischen Vatermords an den Meistern und Herren; eine Zeit der Krise, die seiner Wissenschaft, seiner Kunst und seiner Praxis einen ihrer Wege ins 21. Jahrhundert weist. Ist diese Krise tief genug, darf für sie ruhig Wittgensteins vorletzte logische Sentenz gelten: »Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)« (Wittgenstein, a.a.O., S. 115).
Sind wir die Leitern von Lacan und Lorenzer hochgestiegen, um sie hinter uns wegzuwerfen? Ja und nein. Ja, wenn es darum geht, für einen luziden Moment aus der Übertragungsliebe auszutreten, in einer souveränen Äquidistanz sich jedes Charismas zu entledigen und seinen unvergleichlich eigenen analytischen Stil zu entwickeln, sein unaustauschbar eigenes Sprachspiel zu pflegen. Er muss die „Objekte“ Lacan und Lorenzer verlieren können, um sie wiederzufinden. Man darf das immer noch Autonomie nen-nen. Auch psychoanalytische Theorien müssen grundsätzlich fallibel, am klinischen Material „falsifizierbar“ sein; sie sollen in der Praxis durchaus „zu Fall“ kommen können und zu einem eigenen Typus von Fall-Geschichte werden. Nein, weil wir den Traditionen, von denen wir leben und die uns gleichsam nähren, die Dankbarkeit schulden, die sie verdienen. Aber auch Dankbarkeit setzt, wie Melanie Klein zeigte, eine „schöpferische Zerstörung“ voraus. Allein Wittgensteins letzter logischer Satz, »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen« (ebd.), rührt an einen nicht-repräsentierbaren Kern der psychoanalytischen Erfahrung, der die Grenzen zwischen Sprache und Unbewusstem immer schon eng zu ziehen nötigt. In der heutigen Psychoanalyse stehen Chiffren wie Bions „O“, ein Ding-an-sich der psychischen Realität, oder Lacans Topik des „Realen“ für Grenzen dieser Art. Beiden gemein ist die Wahrheit, dass das Nichtwissen immer umfangreicher ist als das Wissen. Aber diese Grenzen zu definieren ist das erste Geschäft jeder Kritik, hier einer Kritik der psychoanalytischen Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen. Ihr müssen selbst Charismatiker wie Lacan und Lorenzer ikonoklastisch immer wieder unterworfen werden.
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Steiner, G. (2003): Der Meister und seine Schüler. München: Hanser 2004.
Weber, M. (1985): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5., rev. Auflage. Tübingen: Mohr Siebeck.
Wittgenstein, L. (1958): Philosophische Untersuchungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975.
(1959): Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977.
[1] Die Rolle eines frühen „Mittlers“ zwischen Lacan und Lorenzer spielte zu Beginn der 1970er Jahre Her-mann Lang, seines Zeichens Verfasser einer ersten deutschsprachigen Monografie zu Lacan (1973). Es war Hermann Lang, der in diesen Jahren am Frankfurter Sigmund-Freud-Institut Lorenzer auf die Konfrontation mit Lacan stieß. In ihren Schriften nahmen beide kritisch aufeinander Bezug und schufen die ersten Koordinaten, in denen auch ein zeitgemäßer Diskurs zwischen Lacan und Lorenzer zu verorten ist. Im Oktober 1980 widmete die Zeitschrift PSYCHE Lacan erstmals ein Schwerpunktheft, das einen eigenen ersten Vermittlungsversuch enthielt (Heim, 1980). Ein weiterer kam später hinzu (vgl. Heim, 1993). Unter diesem Gesichtspunkt darf encore natürlich auch eine persönliche Note annehmen.
[2] Es ist für die Semantik der Lacanschen Psychoanalyse nicht gleichgültig, dass das französische lettre zugleich Brief und Buchstabe meint, also auch für jenes Konzept steht, das ins Zentrum von Lacans Lehre führt: das Konzept des Signifikanten als Destillat seiner Reinterpretation von Saussures Zeichenmodell.
[3] Über die Gründe einer lange verfehlten „intersubjektiven Kommunikation“ zwischen Lacanscher Psychoanalyse, der kritischen Theorie oder Alexander Mitscherlichs psychoanalytischer Sozialpsychologie habe ich mich verschiedentlich geäußert (vgl. Heim, 2006, 2008).
[4] „Mittler“ ist zudem eine Figur in Goethes Wahlverwandtschaften, die in diesem Band von Marianne Schuller und Ulrike Prokop lacanianisch sowie mit Lorenzer interpretiert werden. Mittler, ein vehementer Verfechter der bürgerlichen Ehe und somit jemand, der seinem Namen buchstäblich Reverenz macht, will bei Goethe vermitteln, was nicht mehr vermittelt werden kann: die Ehe zwischen Eduard und Charlotte. Deren „Dualunion“ muss scheitern, weil die Macht des Begehrens als Begehren des Anderen stärker ist und sie von der Quadratur zwischen Eduard/Ottilie und Charlotte/Hauptmann aufgelöst, in diesem Falle zerstört wird. Lacans Formel vom Begehren als Begehren des Anderen meint unter anderem dies, dass jede Liebe zwischen Zweien in eine vergleichbare Quadratur eingeschrieben bleibt und in dieser ihr Fatum besitzt. Natürlich darf Lacans Formel auch als Fortschreibung von Freuds Intuition in seinem Brief 208 vom 1.8.1899 an Wilhelm Fließ verstanden werden: »Je mehr die Arbeit dieses Jahres jetzt zurücktritt, desto zufriedener werde ich mit ihr. Nur die Bisexualität! Mit der hast Du sicherlich Recht. Ich gewöhne mich auch, jeden sexuellen Akt als einen Vorgang zwischen vier Individuen aufzufassen. Darüber wird viel zu reden sein.« Goethe schildert den Zeugungsakt des Sohnes von Eduard und Charlotte als einen solchen „Vorgang zwischen vier Individuen“, der Sohn Otto wir zum Hybrid der vier in Realität und Phantasie beteiligten Akteure und wird schnell sterben.
[5] Es ist unter Psychoanalytikern zwar durchaus verbreitet, nach dem Schönen zu fragen, nicht aber nach der Schönheit ihrer Theorien. Zeitgenössische Naturwissenschaftler oder Grenzgänger zwischen den beiden Kulturen der Natur und des Geistes zeigen diesbezüglich mehr ästhetischen Sinn. Auf eine Initiative des amerikanischen Wissenschschaftsimpresario John Brockman antworteten 2012 Dutzende von namhaften Vertretern verschiedenster Disziplinen auf dessen Frage: »Welches ist Ihre tiefgreifende, elegante oder schöne Lieblingserklärung?« (Brockman, 2013, S. 22). Diese Frage kennt schon in Albert Einstein einen prominenten Vorgänger: »Es ist das große Ziel aller Wissenschaft (…), die größtmögliche Zahl empirischer Tatsachen durch logische Ableitung aus der kleinstmöglichen Zahl von Hypothesen oder Axiomen zu erklären.« Ein einziger Teilnehmer der Umfrage bezieht sich auf Freuds Psychoanalyse: »Das Unbewusste ist die Erklärung dafür, warum angeblich rationale Menschen ein irrationales Leben führen. (…) Die größte psychische Schwerkraft geht von der dunklen Materie des Geistes aus, vom Unbewussten. (…) Ignorieren wir die dunkle Materie des Geistes, ist unsere Irrationalität nicht zu erklären« (Joel Gold, in: Brockman, a.a.O., S. 50f.). Also: Worin besteht die „Schönheit“ von Lacans „Erklärung“ Freuds? Worin die „Eleganz“ von Lorenzers „Erklärung“ des Unbewussten? Was macht sie zu einer „Lieblingserklärung“? Und was ist der Maßstab, der in dieser Hinsicht zwei der bedeutenden Denkfiguren nach Freud zu bewerten vermöchte? Wer der beiden erklärt mehr aus einem Minimum an Hypothesen und Axiomen?
[6] Als Lacan seine „Ecole Freudienne de Paris“ (EFP) gründete, war für ihn Ecole/Schule selbstverständlich semantisch überdeterminiert. Ecole enthält als Verdichtung coller/kleben.
[7] Die nachfolgenden Überlegungen verstehen sich als Kommentar zu André Michels Beitrag.
[8] Unübertroffen hat George Steiner diese Beziehung zwischen dem Meister und seinen Schülern beschrieben (vgl. Steiner 2003). In dramatischer Zuspitzung und notwendiger Übertreibung schreibt er, zumindest für den Fall, dass ein Meister noch in seiner mündlichen Präsenz zu erleben ist oder war: »Die Gefahren sind ebenso groß wie der Jubel. Ernsthaft zu lehren heißt, Hand an das zu legen, was in einem Menschen das lebenswichtigste ist. Es heißt, Zugang zum Mark und zum Innersten der Integrität eines Kindes oder eines Erwachsenen zu suchen. (…) Doch die Verführungskräfte des Meisters sind unvergleichlich; niemand kann sich dem charismatischen Bann, dem Zauber seiner Gegenwart entziehen. Vom Bild des Sokrates leitet dann Kierkegaard die Typologie des Verführers her. (…) Erotik, verhüllt oder offen, vorgestellt oder praktiziert, ist mit Lehre, mit der Phänomenologie von Meisterschaft und Jüngerschaft verflochten. (…) Ein charismatischer Meister, ein inspirierter ‚Prof’ legt mit radikal ‚totalitärem’, psychosomatischem Griff (erinnern wir uns: en-corps – R.H.) Hand an den lebendigen Geist seiner Studenten und Jünger. Die Gefahren und Privilegien sind grenzenlos« (a.a.O., S. 28, 36ff.). Wer Lacan und Lorenzer noch in dieser Mündlichkeit erfahren konnte, könnte dazu neigen, George Steiner zögerlich zuzustimmen.
[9] Auch hier gilt zuletzt immer die Wahrheit von „des Kaisers neuen Kleidern“ – was die pikante Frage impliziert, was Lacan und Lorenzer zur Geschlechterdifferenz, zur Weiblichkeit zu sagen hatten. Die Bilanz fällt diesbezüglich für Lorenzer wesentlich dürftiger aus.
[10] Neuerdings hat Thomas Pollak in seiner Kritik religiöser Phänomene in den Berufsgruppen der Psychoanalytiker von „charismatischen Gründungsfiguren“ gesprochen: »Nach Freud hat es andere Führungsfiguren gegeben, die ebenfalls als Person und mit ihrem Werk, wenn auch in geringerem Umfang, charismatischen Status erlangt haben; zu nennen wären hier z.B. Jacques Lacan, Melanie Klein, Wilfred R. Bion« (2014, S. 1111f.). Allerdings nimmt Pollak nur einen unspezifischen Begriff des Charismas in Anspruch.
[11] Natürlich ist auch die in Deutschland inzwischen angezweifelte Institution der „Lehranalyse“ im Sinne Lacans ganz und gar einem „Diskurs des Herrn“ unterworfen. Es wäre also an der Zeit, sie zu „hysterisieren“ oder konsequent dem „Diskurs des Analytikers“ anzuschmiegen – was auf ihre paradoxe Auflösung hinauslaufen würde.
* Dieser um das 3. Kapitel gekürzte Beitrag stammt aus dem von Robert Heim und Emilio Modena herausgegebenen Diskussionsband Jacques Lacan trifft Alfred Lorenzer. Über das Unbewusste und die Sprache, den Trieb und das Begehren. Der Band erscheint im Dezember 2015 im Psychosozial-Verlag. Wir danken dem Autor und dem Verlag für die Vorabdruckgenehmigung.