Als politische Menschen starteten beide bei Marx, gingen dann aber lesend verschiedene Wege. Peter Gente verlegte mit zwei prägenden Partnerinnen vorab Theorieliteratur; er wird als Modellfall porträtiert. Frigga Haug hat ihre Denkprozesse in mehreren Büchern selber dokumentiert; ihr jüngstes enthält eine persönliche Bilanz.
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Vorbemerkung: Ich habe früh intensiv gelesen und die interessante Zeit um 1968 als linker Buchhändler erlebt. Marx schaffte ich nur ansatzweise, von der übrigen Leitliteratur jener Jahre bekam ich beim Querlesen – eine Berufskrankheit – bestenfalls die Tendenz mit. Es war spannend, was sich damals nicht nur in der Verlagswelt, dort aber besonders rasant bewegt hat, und zuweilen verblüffend. Buchmessen waren politische Ereignisse und mit „Gegenmessen“ verknüpft. Vorübergehend meinten wir wirklich, die Munition für eine Weltrevolution zu liefern. Geistige natürlich; ich war ja Pazifist.
Theorie veränderte Lebensläufe
„Der lange Sommer der Theorie“ von Philipp Felsch fängt das damalige Klima wunderbar lebendig ein, mit spürbarer Sympathie und distanzschaffender Ironie. Dabei stützt sich der erst 1972 geborene Historiker und Kulturwissenschaftler primär auf papierene Quellen ab, insbesondere auf die Archivmaterialien des Merve-Verlages. Er hatte diese eigentlich für eine kleinere Arbeit konsultiert. Doch dann packte es ihn. An dem Beispiel liess sich ideal darstellen, wie jener unerwartete Aufbruch einer stark studentisch, von der sogenannten Theorieliteratur mitgeprägten Linken verlief. Dass diese so rasch weit in die Gesellschaft ausstrahlen konnte, war „ohne die Umwälzung auf dem Buchmarkt nicht zu begreifen.“ Taschenbücher waren zentral. „Das neue Medium, das in den Augen seiner Kritiker die Konformität der Konsumenten sicherstellte, schmuggelte schwieriges Denken – zunächst als Konterbande – in wachsende Leserkreise ein.“ Lektüre wurde für viele zum wichtigen Element nonkonformer Orientierung. „Daher ist Peter Gente, der Büchersammler und Büchermacher, eine für diese Geschichte so exemplarische Figur.“
Er war aus der Provinz nach Berlin gekommen, kulturell interessiert, kaum politisch. Auf Wunsch des Vaters begann er Jura zu studieren und stiess ziemlich zufällig auf „Minima Moralia“ von Theodor W. Adorno, die „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“. Darin las er sich fest, „obwohl ihm die wenigsten der dichten Aphorismen verständlich waren“. Sie hätten seine Lebensweise in Frage gestellt, bekannte er später. Felsch nennt das „ein Erweckungserlebnis“; der davon beförderte „Weg durch das rote Jahrzehnt blättert den Bildungsroman der Achtundsechziger auf“. Es folgten Kontakte mit dem SDS sowie dem Argument-Club, in dem sich „die schlausten Linken trafen“. Wolfgang Fritz Haug wird dort bei den Marx-Interpretationen geholfen haben. Daneben beschaffte sich Gente alles, was je von Adorno erschienen war, folgte aber auch interessanten Spuren über den deutschen Sprachraum hinaus, übersetzte Texte aus Frankreich oder Italien, versorgte Genossinnen und Genossen mit dem, was ihm davon besonders lesenswert schien. Bald auch in – mit Raubdrucken gemixt – selbst verlegten, in seiner kleinen Bude hergestellten Bändchen. „Internationale marxistische Diskussion“ hiess eine 1970 gestartete Reihe. Billig, in prägnant billig wirkender Form.
Zusammen lesen und leben
Das von dieser eher improvisierten Verlagsgründung erzählende Kapitel ist mit „Schlecht gemachte Bücher“ überschrieben. Demgegenüber ist der nun im renommierten Haus C.H. Beck in München erschienene Erinnerungsband ausgesprochen sorgfältig gestaltet, mit markanten Schwarz-Weiss-Illustrationen. Der als Dokument abgebildete Umschlag des ersten von Gente offiziell produzierten Kleinpaperbacks plakatiert, dass der Verlag kein Profitunternehmen, sondern „ein sozialistisches Kollektiv“ sei. In diesem hat auch Merve Lowien mitgewirkt, die langjährige Lebens- wie Lesepartnerin des umtriebigen Politfreaks. Sie wurde zur Namensgeberin des Gemeinschaftsprojekts. Lektüren fanden jetzt in der Gruppe statt, zuerst ordentlich Text für Text „von Anfang bis Ende“, immer reihum, „Satz für Satz“. Das war eine Leseweise, „wie man sie aus der protestantischen Bibellektüre kennt“, aber auch unter Linken nicht unüblich. Erkenntnisse wurden protokolliert. Später dann wich die strenge Disziplin „einer betonten Lässigkeit“. Gegenüber den angefragten Autoren, die ihre Texte in solidarischer Verbundenheit und selbstverständlich honorarfrei zur Verfügung stellen sollten, wurde gern ein betont unprofessionelles Image gepflegt. „Wir sind besessene Leser und monomanische Sammler.“ Sie machten nun halt Bücher, „weil wir selbst nicht schreiben können.“
Immerhin hat Merve Lowien einen über 200 Seiten starken Bericht verfasst, der 1977 bei Merve erschien und von Felsch öfters zitiert wird: „Weibliche Produktivkraft – Gibt es eine andere Ökonomie?“ Dort hielt sie ihre „Erfahrungen in einem linken Projekt“ fest. Sie hatte es inzwischen verlassen. Leider ist dieser 65. Band der IMD-Reihe vergriffen; es ist das Verlagsprodukt, welches mich heute noch am meisten locken würde. Es sei „eine Chronik der Ernüchterung“, stellt der Historiker fest. „Sie erzählte vom Versuch, ein gallisches Dorf im Spätkapitalismus zu errichten. Und sie analysiert die Gruppendynamik, die diesen Versuch so schwierig machte.“ Denn das Kollektiv war in jenen Jahren unrettbar am Zerfallen, wie die ganze Szene. Grabenkriege sektenähnlicher Gruppen. Reform oder Revolution? RAF. Gewalt. Mitten im „Sommer der Theorie“ – die nämlich lief in den linken Verlagen, auch bei Merve, weiterhin gut – begann der alle lähmende „Deutsche Herbst“. Andreas Baader, der schon 1968 wegen politisch motivierter Brandstiftung verurteilt und zu einer Ikone der militantesten, schliesslich auch paramilitärisch agierenden Fraktion wurde, sass definitiv fest und spielte in seiner Zelle in Stammheim, wo er bald „eine beachtliche Bücherwand“ mit alten wie neuen einschlägigen Werken gefüllt hatte, „die Rolle des Gefängnisintellektuellen.“ Er verarbeitete, was er bislang nur vom Hörensagen kannte. „Berge von Theorie, was ich nie wollte“, bekannte er in einem Brief. Mit dieser aufschlussreichen Sequenz eröffnet der Autor notabene sein nicht in chronologischer Folge gehaltenes Zeitgemälde.
Ab in Kneipen, hin zur Kunst
Teile der in Freiheit verbliebenen Linken wechselten damals zu den Grünen. Doch da zog es die Merve-Leute nicht hin. „Um die Kluft zu ermessen, die sich zwischen Ökologie und Theorie auftat, ist niemand geeigneter als Jean Baudrillard, dessen Schriften während der achtziger Jahre zum guten Ton des ‚Internationalen Merve Diskurses‘ gehörten.“ So die modernisierte Reihen-Bezeichnung. Es kam auch zu Fluchten aus der engeren Politik in unterschiedlichste kulturelle Milieus. „Gente entdeckte das Nachtleben.“ In einer Kneipe lernte er Heidi Paris kennen, eine Studentin. Sie habe „der kriselnden Verlegerehe“ und dem Betriebskollektiv „den Todesstoss“ versetzt. Der frisch Verliebte und sonst eigentlich nüchterne Theoretiker bezeichnete die Begegnung später als „schicksalhaften Glücksfall“. Er fand die Partnerin zur abenteuerlichen Reise in kaum bekannte Gebiete, liess sich auf ihre künstlerischen Ambitionen ein und setzte auch im Verlagsprogramm entsprechende Akzente. „Er spielte den enzyklopädischen Part, sammelte jeden Zeitungsausschnitt, der relevant sein konnte; sie reagierte auf Texte mit einer scharfen Intuition.“
„Reclam der Postmoderne“
Der vollzogene Wechsel von der „marxistischen Diskussion“ zum „Diskurs“ passte in die aktuelle Stimmung. Dass bei Merve bald eine bunte Palette kleiner Müsterchen vieler neuer Denkrichtungen greifbar wurde, ist mit dem Spruch vom „Reclam der Postmoderne“ hübsch eingefangen. Bei mir stehen drei dieser handlichen Schriften im Regal. Zwei mit Gesprächen, in denen sich John Cage über Musik, die Pilze und die Welt auslässt. Eine reizvolle Mischung. „Das Jahr 2000 findet nicht statt“ von Jean Baudrillard behielt ich als Skurrilität. 1990 erschienen, nur sechzig Seiten. „Ich schlage vor, dass die neunziger Jahre im voraus gestrichen werden und wir direkt aus dem Jahr 1990 ins Jahr 2000 springen.“ Na ja. Es geht darin auch um „Tauwetter im Osten und Ende der Geschichte“. Und sonst? Paris und Gente propagierten in Berlin um 1980 herum mit Aufklebern ein Büchlein von Gilles Deleuze und Felix Guattari. „Macht Rizome!“ war ihr Slogan. Ich bin dem vor kurzem in Zürich bei ökologisch orientierten Alternativen wieder begegnet. Die erdig-wolkige Theorie von den Wurzelgeflechten umfassender Wissensorganisation besticht ja tatsächlich. Wirklich kapiert habe ich sie nicht.
Andern ging es ähnlich. 2014, als Peter Gente in Thailand, seiner Wahlheimat nach dem beruflichen Ausstieg, verstarb, hat Richard Bhend, einer meiner Buchhändlerkollegen aus bewegter Zeit und Repräsentant verschiedener deutscher Verlage in der Schweiz, einen persönlich gehaltenen Nachruf verschickt: „Über 300 Bücher sind bei Merve erschienen. Seit 39 Jahren begleite und vertrete ich den Verlag. Kaum ein Buch habe ich verstanden. Trotzdem habe ich das Gefühl, sie haben meinen Geist frisch erhalten.“ Sehr schön gesagt.
Marxismus und Feminismus …
Zum zweiten Buch: „Der im Gehen erkundete Weg“ von Frigga Haug. Auch hier eine Vorbemerkung: Es wurde mir von der Autorin quasi ans Herz gelegt. Nachdem ich ihre „Vier-in-einem-Perspektive“ mit Interesse gelesen und als plausiblen Kompass für eine revolutionäre Gesellschaftsreform empfohlen hatte, zögerte ich in dem Fall zuerst, auch wenn mir der Titel sehr gefiel. Mich schreckte die Unterzeile „Marxismus-Feminismus“. Beides waren nicht – nie – meine Gebiete, obwohl aus beiden Bereichen häufig zentrale politische Impulse kamen. Aber meine ausweichende Ausrede forderte ein eindeutiges Echo heraus: Präzis für Leute wie mich sei ihr neues Buch gedacht!
Tatsächlich ist die Rückblende auf ein aktives Leben mit, in und oft genug zwischen den zwei Strömungen spannend. Selbstkritisch analysiert und belegt die anfänglich reichlich dogmatische Marxistin, wie sie der damals effektiv „neuen Frauenbewegung“ der 1970er Jahre in langen, oft polemischen Artikeln und Rezensionen ihre Wahrheiten entgegenhielt. Sie hatte sich diese selbst eben mühsam beim Lesen – tatsächlich vorwiegend männlicher – sozialistischer Klassiker erarbeitet. Anhand von Beispielen wird vorgeführt, wie auch sie rechthaberisch „in dieses bis heute aufgeladene Feld von Gewissheiten, Gewohnheiten und auch Dummheiten hineinschrieb“. Dann begann sie sich intensiver mit Widersprüchen zwischen linken Emanzipationsversprechen und Realitäten zu befassen, entdeckte zumal bei Friedrich Engels bezüglich Patriarchat und Kapital eine grundsätzlich problematische „Problemanordnung“. Sie hinterfragte ihre eigenen Positionen und brachte auch kritische Fragen und Forderungen in ihr vergleichsweise traditionell linkes Umfeld ein. Doch von dort kamen die vertrauten Parolen und nun an sie adressierte Polemik zurück. Dass die Auseinandersetzung zum faktischen Rauswurf aus KP-nahen Organisationen führte, war eine schmerzhafte Erfahrung, weil vieles sie „kämpferisch mit dieser Gruppe verband“.
Doch die Trennung verhalf zu mehr Öffnung. Nach einer Phase tiefer Verunsicherung war sie eines Tages nicht mehr nur „ausgestossen, sondern auch fortgegangen“, und als sie „aufhörte, innerhalb der Arbeiterbewegungsorganisationen die feministische Diskussion weiterzuführen, wurde Zeit und Kraft frei, mich in der weiteren Welt umzusehen und politisch zu betätigen.“ Frauenpolitik wurde ihr zunehmend zu einem eigenständigen „umfassenden Transformationsprojekt“, welches sie bis heute aktiv mit voranzubringen versucht. Jetzt insbesondere im Rahmen der ideologisch relativ breit gefächerten Partei „Die Linke“. Für die dortigen Debatten über theoretisch fundierte, aber auch praktikable sozialistische Politik war die erwähnte, 2008 veröffentlichte „Vier-in-einem-Perspektive“ gedacht. Das neue Buch zeigt den Denkprozess, der zu diesem Konzept führte; „in der optimistischen Hoffnung, dass es inzwischen bekannt sei, ist die Darstellung hier sehr knapp gehalten.“ Und ich muss nochmals verknappen: Wir sind täglich rund 16 Stunden wach. Je ein Viertel dieser Zeit sollten alle für „vier Hauptbereiche menschlicher Tätigkeit“ einsetzen können. Für die Erwerbsarbeit, für den reproduktiv genannten Bereich, für die eigene schöpferische Entfaltung sowie für eine weit verstandene politische Betätigung, also gesellschaftliche Gestaltung.
„Trennungszusammenhänge“
Ob wir auf dem „Weg des Maulwurfs“ in so eine Zukunft kommen? Frigga Haug hofft auf den Durchbruch in einer „radikalen Demokratie“. Die von ihr persönlich unterwegs vollzogenen Schritte belegt sie mit früheren Schriften. Ich las nicht alles; der theoretische Streit von einst dürfte darin Verwickelte mehr packen. Immerhin stellte ich fest, dass die um Maria Mies gruppierten Anhängerinnen der „Subsistenzperspektive“, die von Linken meist gemieden oder fahrlässig weit ins Abseits gestellt wurden, als Impulsgeberinnen genannt sind. Für meinen Geschmack jedoch zu wenig gewürdigt. Sie sprachen halt schon eine ganz andere Sprache. Gut, dass die Autorin selbst Dorothee Sölle zitiert, die ihr zwar inhaltlich meist zugestimmt, aber die Begrifflichkeiten kritisiert habe. „Produktion des Lebens“ etwa sei als Ausdrucksweise erschreckend. Wo führt diese Sprache hin? Reproduktionstechnologie statt lebendiger Fürsorge? Das habe zum Nachdenken über solch technisch oder und ökonomisch basierte Formeln geführt. Für mich typisch Frigga Haug – diesmal positiv gemeint – sind die von ihr mehrfach verwendeten und erläuterten „Trennungszusammenhänge“. In diesem Wort steckt der Kern dieses Buches zur schwierigen Beziehung zwischen Marxismus und Feminismus.
Besonders geschätzt habe ich die knappen, aber offenherzigen autobiographischen Passagen. So das fast trotzige Bekenntnis, dass sie nach einer in Deutschland wegen ihres politischen Engagements verbauten akademischen Karriere stolz war, aus Übersee als Gastprofessorin eingeladen zu werden und dort mit ihren Hauptanliegen auf ein reges Interesse zu stossen. In der heimatlichen Hochschullandschaft hatte sie „im Mittelbau“ eine halbwegs sichere Existenz. Doch auch die wurde im Zuge der Neoliberalisierung zunehmend prekär. Fussnote dazu: „Meinen Gefährten Wolfgang Fritz Haug traf das gleiche Schicksal.“ Er erhielt bei einer Umstrukturierung an der FU Berlin nur noch „eine kleine C2-Professur“, für marxistische Philosophie und mit „Streichvermerk“ versehen. Was hiess: „keine Forschungsmittel, keine Assistenten, keine Möglichkeit, Studierenden beim Weg in die Universität zu helfen.“
Weiter mit starken Argumenten
Trotzdem mangelte es den Haugs nie an Möglichkeiten des Wirkens und Publizierens. Sie nutzten Plattformen oder schufen sie selbst. Ich nahm sie als Arbeitsgemeinschaft wahr, obwohl sie auch separat zu erleben waren. Frigga zum Beispiel ohne Berührungsängste in Zürich an einer Veranstaltung zum Frauentag beim ‚Revolutionären Aufbau‘ referierend und diskutierend, Wolf an gewerkschaftlichen oder linksalternativen Schulungskursen. Vor allem aber kannte ich beide aus dem ‚Argument‘, das ich einst bei meinem Einstieg ins politische Denken nutzte, dann als von Zeitmangel geplagter Aktivist aus den Augen verlor. Nun lese ich es seit zwei Jahrzehnten wieder. Meist von Anfang bis Ende, vom Editorial sowie regelmässigen „Nachrichten aus dem Patriarchat“ bis zu den ausführlichen, stets aufschlussreichen Rezensionen. Die letzten Heft-Schwerpunkte: „Widersprüche des Hightech-Kapitalismus“, „Literatur und geschichtliche Erfahrung“. Angekündigt als nächster: „Mensch-Natur-Verhältnisse“. In der Regel liefert die heutigen „Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften“ sehr nahrhafte Kost, zuweilen komme ich als Nichtakademiker ans intellektuelle Limit. Aber soviel Theorie muss in dieser wirren Zeit einfach sein! Dass die zwei unruhigen Geister mit mehreren Lenzen und Herbsten mehr auf dem Buckel unbeirrt weiter lesen, schreiben und kämpfen, bleibt ein Ansporn.
Die ersten Hefte kamen 1959 noch mit Schreibmaschinenschrift, schlicht hektographiert, herausgegeben „von einer Studentengruppe gegen Atomrüstung“ daher. Verantwortlich: Wolfgang Fritz Haug. Knapp ein Jahr später war ‚Das Argument‘ schon deutlich dicker, wirkte weniger handgestrickt und die Unterzeile versprach „Blätter für Politik und Kultur“. Helmut Gollwitzer, schon in der NS-Zeit nonkonformer Theologieprofessor und Sozialist, sowie der Philosoph Günther Anders tauchten als prominente und prägnante Mitarbeiter auf. Ökonomietheorie, aber auch „Probleme der Ästhetik“ wurden wiederholt zu Themen. Frigga Haug brachte den Komplex von „Sexualität und Herrschaft“ ein. Sie fragte bereits 1962: „Emanzipation durch kritische Theorie?“ Mehr als ein halbes Jahrhundert behielt ‚Das Argument‘ seine marxistische Grundierung bei; eine eigenständige Frauenredaktion sicherte nachhaltig frauenpolitische Akzente. Mit den Hochs und Tiefs der Bewegungen kam es zu gewaltigen Berg- wie Talfahrten der Auflage. Derzeit ist sie mit Blick auf die geleistete Arbeit traurig niedrig.
Überwindung? Übergang wohin?
In jeder Ausgabe ist den „Verlagsmitteilungen“ zu entnehmen, was im Argument-Verlag neben der Zeitschrift noch publiziert wird. Das breite Spektrum reicht von Frauenkrimis, die unter dem Label ‚Ariadne‘ segeln, bis zum monumentalen vielbändigen „Wörterbuch des Marxismus“ – mit feministischer Begleitedition. Eben erst traf wieder ein ‚Argument‘-Sonderband ein, immerhin Nummer 319 der „Neuen Folge“. Er erinnert auf verblüffende Weise an die Anfänge: „Aufhebung des Kapitalismus“. Herausgegeben vom Team einer Marxistischen Abendschule in Hamburg. Basis eine Tagung an der dortigen Uni, für die Organisation verantwortlich eine Hochschulgruppe. Alles ehrenamtlich. Mitschnitte des Anlasses im Internet. Kurz gestutzt habe ich beim Titel. War das übliche Wort für den alt-neulinken Wunsch nicht „Überwindung“? Die ist hinten auf dem Umschlag auch zu finden, und im Vorwort, und noch oft. Aber einiges ist bei Begriffen wie Ideen schon anders als einst. „Commonismus statt Sozialismus“ lautet ein Zwischentitel. Es wird auch über das „bedingungslose Grundeinkommen in einer Übergangsgesellschaft“ diskutiert; Karl Ritter widmet seinen Beitrag dazu „den sich auf Marx berufenden KritikerInnen“. An der Planung wird – gegen die modische Heiligsprechung des Marktes – festgehalten. Auch bei neuen Formen von Selbstorganisation und Wirtschaftsdemokratie sind abschliessende Antworten auf alle komplexen Fragen nicht zu finden. Doch schon das Fragen und Suchen nach Ziel und Weg wäre wichtig in einer Zeit, wo selbst Linke das angeblich Praktikable absolut in den Vordergrund stellen. „Denn wenn es uns nicht gelingt, die ökonomischen, politischen und kulturellen Veränderungen in unseren Gesellschaften mit einer Zielperspektive zu verbinden, dann kommt dabei vielleicht ein reformierter, partiell erträglicher Kapitalismus heraus, aber keine von den Menschen selbstbestimmte und selbstgestaltete neue Gesellschaftsordnung.“ Ja, mit solchen Büchern – und natürlich mit entsprechenden praktischen Konsequenzen – sollten wir uns wieder mehr befassen.
Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte / 1960-1990. Verlag C.H. Beck, München 2015, 327 Seiten, 25 Euro
Frigga Haug: Der im Gehen erkundete Weg. Marxismus-Feminismus. Argument Verlag, Hamburg 2015, 384 Seiten, 24 Euro
Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften. Hrsg. im Auftrag des Berliner Instituts für kritische Theorie im jetzt 57. Jahrgang. Abopreis für fünf Hefte im Gesamtumfang von 832 Seiten: 50 Euro plus Versand. Mehr via www.inkrit.de/argument
Aufhebung des Kapitalismus. Die Ökonomie einer Übergangsgesellschaft. Herausgegeben von der Marxistischen Abendschule Hamburg. Argument-Verlag, Hamburg 2015, 279 Seiten, 19 Euro
Marxismus historisch-kritisch, von A bis Z. Maschinenstürmer ist der letzte Begriff zur Halbzeit eines einmaligen Projekts. Und „vom Zuzug aus der jüngeren Generation wird abhängen, ob und wie es in den nächsten zwanzig Jahren seiner Aufgabe gerecht wird.“
Im diesem Frühjahr – am Vormittag des 1. Mai – hörte ich im Berliner Bildungshaus einer Gewerkschaft als Zaungast zu, wie in einer von mehreren „Wörterbuch-Werkstätten“ über den Text zu einem Stichwort des neunten HKWM-Bandes diskutiert wurde, über „Mensch-Natur-Verhältnisse“. Bereits am Vorabend gab es Referate sowie ein prominent besetztes Plenum dazu. Mich lockte dieser Schwerpunkt, aber auch der Einblick in das Vorgehen des Editions-Teams an sich. Unglaublich, was da in offener Runde an Sachkompetenz zusammenkam. Es wurde präzis nachgefragt, zu Bedenken gegeben, ergänzt. Gewiss, ergraute Häupter dominierten. Doch ein paar jüngere Leute, neu zum langjährigen Team gestossen, liessen Raum für die Hoffnung, das anspruchsvolle Alphabet werde tatsächlich bis zum hintersten Begriff auf der noch riesigen Liste kommen, zum „Zynismus“, und diesen damit ein Stück weit überwinden.
Historisch, kritisch – und aktuell!
Der erste Band erschien 1994. Schon damals galt, was im Vorwort von Halbband 8/II zitiert wird: „Die Gegenwart gehört dem Kapitalismus. Aber ohne Sozialisten wird es keine Zukunft geben.“ O-Ton Heiner Müller. Darum sei es wichtig, dass deren Lehre erhalten werde, um sie später einmal abrufen und wieder gebrauchen zu können. Damals dachte er an eine „Quarantäne“ von vielleicht dreissig Jahren. Die derzeit offenbare „Grosse Krise“ scheint schon heute vieles in Erinnerung zu rufen.
Mich faszinierte das Vorhaben. Darum habe ich die zwar nicht billigen, aber mit Blick auf die Auflage, die Ausstattung und den Inhalt auch nicht teuren, sondern einfach kostbaren Bücher abonniert, wohl wissend, dass sie kaum aktuelles Lesefutter bieten. Zwei, drei Beiträge lese ich, wenn ein neuer Band kommt. Diesmal gleich den ersten. Immerhin acht grossformatige Seiten über „links/rechts“. Genau wie es in diesem Wörterbuch sein soll, historisch und kritisch, Marx und Engels mittendrin. Im internen Sprachgebrauch linker Bewegungen war links oder rechts immer eine relative, heikle, ja zuweilen gefährliche Positionierung. Wer die diversen Marxismen studieren will, findet dazu in diesem Band zum sicher zentralen Stichwort viel Stoff. Mich reizte der leider kürzere Text dahinter weit mehr, der über Maschinenstürmer. In linken Kreisen hörte ich das oft als Beschimpfung. Marx und Engels hielten das Zertrümmern von Maschinen, welche die handwerkliche Arbeit bedrohten, bloss für eine Durchgangsstufe im historischen Entwicklungsprozess zum revolutionären Proletariat. Aber „die wachsende Kritik an den ambivalenten und negativen Folgen des technischen Fortschritts, am Herrschaftscharakter der Technik, generell am Fortschrittsparadigma“, heisst es im letzten Absatz, lasse die auch Ludditen genannten Maschinenstürmer der ersten industriellen Revolution „im Zeitalter der dritten in einem anderen Licht erscheinen“. Schon der gewerkschaftliche Widerstand gegen den digitalen Fotosatz zum Beispiel war mit der grundsätzlichen Frage nach humanem Fortschritt verknüpft.
Hie und da schlage ich auch etwas nach. Doch natürlich gehörte so ein Werk eigentlich nicht in mein privates Regal, sondern in eine Bibliothek, die viele nutzen. Oder ins Netz? „Wir beschreiten weiterhin beide Wege“, schreibt Wolfgang Fritz Haug, der hier nicht den Maschinenstürmer mimt. Aber das Projekt verdanke seine Existenz ja „der Aufgabe der Sammlung, Sichtung, klärenden Diskussion und schliesslich Verdichtung“ von relevantem Wissen, „eingebettet in Reflexion“. Also spreche viel für die gedruckte Form. Bei digitalen Objekten sei ein wichtiges Merkmal die ständige Manipulierbarkeit, „das Buch in seiner Unveränderbarkeit“ ist dagegen gefeit.
Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Band 8/II: links/rechts bis Maschinenstürmer. Hrsg. von Wolfgang F. Haug, Frigga Haug, Peter Jehle und Wolfgang Küttler. Argument, Hamburg 2015, 512 Seiten, 98 Euro
* Dieser Rezensionsessay erschien am 2. Oktober 2015 in der Herbst-Buchbeilage der Wochenzeitung P.S.