Trendmeldungen aus der Branche: Immer mehr Titel, aber in kleineren Auflagen. Buchhandlungen verschwinden, weil Amazon alle versorgt. Oder ist ohnehin bald Schluss mit Gedrucktem? Bücher über Bücher – mit speziellem Blick auf sogenannte Theorieliteratur.
Mitte Monat wird’s wieder soweit: Buchmesse in Frankfurt am Main. Sie werde „neu und anders“, verkündet die offizielle Website. Und „unabhängige“ Verlage wollten künftig „ein bisschen offensiv sein“, war in Ausgabe 5 des digitalen #FBM15 Countdown zu lesen. Bald werden die Medien aktuelle Marktzahlen präsentieren, die neuesten Trends der Branche kommentieren. Erholt sich der klassische Buchhandel? Wurden wieder mehr Neuerscheinungen als im Vorjahr präsentiert? Wie viele E-Books?
Von der unsichtbaren Hand
„Das Buch als Beute“ von Daniel Leisegang, ein schmales, schon zu Beginn des letzten Jahres erschienenes, angesichts der Dynamik also uraltes Bändchen, ist von den Zahlen her überholt. Dass nach kleineren Läden auch Buchhandelsketten in die Krise gerieten, hat sich inzwischen verdeutlicht. Das rasante Tempo der in jeder Hinsicht unheimlichen Expansion von Amazon dürfte kaum gebremst worden sein; auch bei uns funktioniert die Wachstumsstrategie des US-Konzerns über den Vertrieb von Literatur hinaus. Wer die Website zur Buchsuche konsultiert, wird bilderreich schreiend mit anderem Konsumkram konfrontiert. Schliesslich waren Bücher für den Gründer nur das ideale Startprodukt. Doch dort sollten seine Leute gleich voll rein. „Ich möchte, dass Sie vorgehen, als wollten Sie den ganzen traditionellen Buchhandel arbeitslos machen“, gab Jeff Bezos den Tarif durch. In weniger als 20 Jahren wurde aus dem Garagen-Startup der grösste Online-Handel der Welt. „Work hard, have fun, make history.“ Amazon gehört neben Apple, Google und Facebook zu den Unternehmen, die heute den Wettbewerb um die Internettechnologien im 21. Jahrhundert dominieren.
Sind es zu romantische Vorstellungen vom Buchgeschäft, die uns diese Entwicklung so schmerzlich erscheinen lassen? Die miesen Arbeitsbedingungen, denen Gewerkschaften und Medienrecherchen zu kritischer Aufmerksamkeit verhalfen, dürften sich von denen vergleichbarer Unternehmen kaum unterscheiden. Aber es geht hier um einen kulturell sensiblen Bereich; was etwa an Folgen der enormen Marktmacht für das Verlagswesen skizziert wird, muss zu denken geben. Widerstand gegen die Konzernvorgaben scheint fast Selbstmord zu sein. Mit den erfassten Daten zu gesuchten oder gekauften Büchern dringt die ausgeklügelte digitale Maschinerie verdammt weit in unsere Gedankenwelten vor. Von unsichtbarer Hand wird umgehend der nächste Lesestoff gereicht.
„Wird oft zusammen gekauft“
Zudem lässt sich im Falle der E-Books zentral kontrollieren, was und wie im Buch wirklich gelesen wird. Das interessiert Bezos geschäftlich, denn Amazon spielt jetzt ja selbst als Verleger mit, tritt als direkter Vermittler zwischen Lesenden und Schreibenden auf. Dazu findet sich bei Leisegang nicht viel; dieser Zweig ist relativ neu, scheint aber förmlich zu explodieren. Was die Anzahl angebotener Titel betrifft, hat Self-Publishing offenbar bei den E-Books schon gleichgezogen. Es gibt da längst eigene Szenen und Plattformen mit Rezensionen, Rankings, Bestsellerlisten. Marktmächtig schafft Bezos mit seinen klugen Programmen sich selbst verstärkende Trends. Von dem, was zügig gelesen wird, wird zügig noch mehr produziert. Auch grössere Verlage kaufen sich eine der publizistischen Spielwiesen, eröffnen neue. Manchmal finden sie dort – vorgefiltert – sogar Autorinnen oder Autoren für ihr normales Programm. Den knapper gehaltenen Lektoraten fehlt zur Sichtung von Manuskripten die Zeit.
Droht neben schleichender Gleichschaltung auch direkte Zensur? Leisegang hält eine „Gefahr für die freie und unzensierte Meinungsbildung“ für gegeben, wenn ein Konzern „sich anschickt, den gesamten Buchmarkt zu erobern“. Da wachsen „potentiell“ Mächte wie von Seiten der Staaten heran. „Amazon muss daher gestoppt und in seine Grenzen verwiesen werden.“ Er erwähnt den Fall, wo ein nicht willfähriger Verlag komplett aus dem Angebot fiel. Werke, die bei Amazon nicht gelistet sind, gelten den meisten Kunden als nicht verfügbar. Leisegang ist lieferbar; der automatische Service empfiehlt gar noch zwei kritische Analysen dazu. „Wird oft zusammen gekauft“ … 49,88 Euro, wenn wir „alle drei in den Einkaufswagen“ klicken. Umsatz ist Umsatz. Klar, dass ich wie der Autor zum Einkauf in einer Buchhandlung rate. Damit die im Schlussteil beschworene „Renaissance der Buchläden“ nicht nur eine Hoffnung bleibt. Vielleicht kommen noch weitere Titel aus dieser Beilage hinzu?
Im akademischen Kapitalismus …
„Zur Sache des Buches“ von Michael Hagner zum Beispiel. Hier werden die aktuellen Marktdynamiken gründlicher und im medienhistorischen Zusammenhang ausgeleuchtet. Der an der ETH Zürich mit Wissenschaftsforschung befasste Professor fragt insbesondere nach Konsequenzen, die „der globalisierte Informationskapitalismus“ für den Bereich der Geisteswissenschaften haben könnte. Diese sollten mit ihrer Publikationspolitik nicht den Fehler der Naturwissenschaften wiederholen, die ganz auf Geschwindigkeit, eine weitere Verbreitung und offenen Zugriff setzen. Das möge bei Fächern, in denen es eher um die Recherche nach Einzeldaten geht, eine gewisse Berechtigung haben. Für das Arbeiten in Disziplinen wie Philosophie oder Soziologie braucht es eine andere Art von Schreiben und Lesen. Dort spricht vieles für die gründliche Lektüre eines umfangreichen Buches, auch wenn diese bisweilen Mühe macht, „die Ausfaltung der Argumente und die ausführliche Auseinandersetzung mit anderen Autoren in der Regel höheren Zeitaufwand als die Netzlektüre erfordert“. Kaum geprüfte Publikationen, das zeige sich in vielen Portalen oder digital ausgetragenen Debatten, führen zu Fluten flüchtiger und oberflächlicher Texte, selbst wenn sie von „Internetintellektuellen“ stammen. Um von unergiebigen Disputen, blossen Reflexen und Stereotypen wegzukommen, postuliert der Politikwissenschaftler Hartmut Rosa eine „Loslösung von der Diktatur der Schnelligkeit“. Hagner findet, „gute Bücher, die in jeder Hinsicht Zeit benötigen“, nicht zuletzt beim sorgfältigen Vorbereiten einer Veröffentlichung für ein etwas breiteres Publikum in seriösen Verlagen, könnten „Impfstoffe gegen einen überbordenden akademischen Kapitalismus“ sein.
… ist das Kostenlose oft teuer
Progressiv, geradezu antikapitalistisch scheint auf den ersten Blick die Tendenz, für öffentlich finanzierte Studien sogenannte Open Access-Lösungen zu wählen. Ergebnisse müssen für alle frei zugänglich sein. „Alles umsonst?“, fragt der Titel des umfangreichen Kapitels, das die in der Schweiz quasi offizielle Weichenstellung skeptisch und zuweilen recht polemisch kommentiert. Forschungen werden vom Nationalfonds ausdrücklich nur noch bis zur „Druckstufe“ unterstützt. Resultate müssen im Netz zugänglich sein, der Rest ist egal. „Den Forschenden steht es frei, parallel zur digitalen Version ein gedrucktes Buch zu publizieren“, hält die Verordnung fest. Es wird „zum nebensächlichen Privatvergnügen des Autors“, bemerkt Hagner; „lakonischer könnte man es kaum ausdrücken“. Zwar sei diesem Grundsatzentscheid nach Protesten „ein schmallippiges Bekenntnis“ gefolgt, dass auch gedruckte Bücher „wertvoll“ wären. Dem wichtigsten Geldgeber im Land scheine jedoch „geisteswissenschaftliche Buchkultur“ eher „ein Störfaktor bei der reibungslosen Durchsetzung des neuen digitalen Publikationsregimes“ zu sein.
Detailreich zeigt der als Autor selbst einschlägig Umworbene, wie sich internationale Verlagskonzerne mit „Open Access als Geschäftsmodell“ bei weniger Aufwand neue Profitquellen erschliessen. Schreibende sollen nun für Publikationen, die ihr berufliches Weiterkommen befördern, bezahlen. Mit abgestuften Tarifen, je nach der Dringlichkeit ihres Bedarfs nach Öffentlichkeit. Grenzen gibt es im Digitalen nicht, aber die neuen „Publikationslawinen“ erfordern zusätzliche Instrumente der Selektion, und unter dem Regime von Konzernen kommt es fast automatisch zur Konzentration: „Die Grossen fressen die Kleinen, der Mainstream die Randständigen, das Konventionelle das Ungewohnte und Provozierende.“ Oder wie ein Zwischentitel pointiert zusammenfasst: „Der Gewinn an Bequemlichkeit ist ein Verlust an Freiheit“. Einmal mehr wurde eine sympathisch demokratisch wirkende Idee fix kommerziell umgenutzt. Gelder, die einst in öffentliche Bibliotheken flossen, sind in technische Infrastrukturen zu investieren. „Was in Zukunft nicht im Netz steht, gibt es nicht“, zitiert Hagner einen in diesem Streit häufig gehörten, für ihn „bizarren Satz“. Das sei nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand eine reine Ideologie, „die büchermüden Bibliothekaren und Wissenschaftsfunktionären“ und insbesondere Firmen wie Amazon, Google und Apple in die Hände spiele. Noch ist altersbeständiges Papier „die vermutlich beste Garantie für langwährende Überlieferung“, während die Lebenserwartung bei anderen Speicherformen höchst unsicher bleibt.
Mehr und bald buntere Theorie
So eindrücklich der Einblick in publikationspolitische Konflikte einer zu „Überforschung“ und „Überproduktion“ tendierenden Fachwelt sind: Was der Autor über die Funktion und kulturelle Bedeutung herkömmlicher, durch Inhalte profilierte Publikumsverlage schreibt, ging mir näher. Interessant seine Einschätzung der Rolle der Taschenbücher, die nach 1945 im deutschen Sprachraum den ersten Bildungshunger stillten. Sie hätten, so seine These, nach dem Krieg den „Aufstieg der Geisteswissenschaften“ eigentlich eingeleitet. Dank preiswerten Buchreihen bei Fischer und Rowohlt wurde mit oft sehr anspruchsvollen Titeln auch ein nicht-akademisches Publikum erreicht. Dass es Auflagen bis zu 100’000 Exemplaren gab, war nur möglich, weil sich ab den Fünfzigern „eine üppige Landschaft“ grosser und kleiner Buchläden entwickelte. Sogar die Bahnhofsbuchhandlungen hielten ein breites Repertoire von der Geschichte bis zur Philosophie bereit. Manchmal waren dies „thesenstarke, glänzend geschriebene, zwischen Essay und gelehrtem Text changierende Forschungsarbeiten“.
Adornos Kritik des Taschenbuches als einem Massenprodukt, das nur zur „Endstation Halbbildung“ führe, wird nicht unterschlagen. Enzensberger urteilte ähnlich. Und beide erreichten dann ironischerweise genau in diesem Format selbst Riesenauflagen, als um 1968 noch weit gewaltigere Publikationswellen folgten, nun auch von Suhrkamp und vielen anderen Verlagen bestückt. Mehrere „ambitionierte, marxistisch geprägte“ Reihen entstanden. Aber „ähnlich wie in Frankreich hatte auch in Deutschland die Theorie, welche zum Motor der gesellschaftlichen Veränderung avanciert war, ein Ablaufdatum.“ Mit den linken Hoffnungen schrumpfte der marxistisch geprägte Sektor deutlich, aber nicht das Leseangebot. Es kam zu Diversifizierungen und Neuorientierungen; „die Startauflagen für Bücher mögen geringer kalkuliert worden sein, dafür wurde die Verlagslandschaft bunter“, die Literatur vielfältiger. „Das vielleicht eindrücklichste Beispiel für diese Verschiebung bot der bis dahin ebenfalls marxistisch orientierte Merve-Verlag mit seiner typographisch genial gestalteten Theorie-Reihe, die gleich mehrere neue Ausrufezeichen setzte: Poststrukturalismus statt Kritische Theorie, dünne Essaybände, in denen das Provisorische, Flüchtige, Minoritäre des Denkens sichtbar wurde.“
„Warum Bücher?“, fragt Hagner im Epilog. Nach den vielen Liebeserklärungen, die sich meist hinter nüchternen Argumenten und Fakten verstecken, scheint sein abschliessendes Bekenntnis zum vertrauten Medium eigentlich überflüssig. In der Nachbemerkung gesteht er, dass aus dem ursprünglichen Vortrag „ein Essay von vielleicht 80 Seiten“ werden sollte. Ich denke – obwohl es nun da oder dort ein paar Zeilen zuviel sind –, die „Sache des Buches“ war ein richtiges Buch wert: eins eben, das gründlich abwägend, immer wieder differenzierend und dann doch klare Positionen markierend, durch ein komplexes, unübersichtliches Gebiet führt.
Daniel Leisegang: Amazon. Das Buch als Beute. Schmetterling-Verlag, Stuttgart 2014, 127 Seiten, 12.80 Euro.
Michael Hagner: Zur Sache des Buches. Wallstein Verlag, Göttingen 2015, 280 Seiten, 18 Euro.
* Diese Rezension erschien erstmals in P.S. vom 2. Oktober 2015.