Seit Jahrzehnten ist „Andorra“, der Theaterklassiker um die Mechanismen der sozialen Ausgrenzung von Max Frisch, auf deutschen Bühnen präsent. Diesen Herbst hat das St. Galler Stadttheater das Stück aktualisiert und gestrafft auf die Bühne gebracht.
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Wenn ich es mit eigenen Augen gesehen hab. Hier an dieser Stelle. Erwiesen? Er fragt, ob das erwiesen sei. Wer sonst soll diesen Stein geworfen haben? Einer von uns vielleicht? Wirt, Andorra von Max Frisch
Am Ende ist es der Wirt, der mit einer Falschaussage den unschuldigen Jungen Andri ans Messer liefert. Es hat eine gewisse Logik, dass in der Schweizer Literatur immer der Wirt der Böse ist. Das ist zum Beispiel auch bei Jeremias Gotthelf so, im Ueli der Pächter. Weil der Wirt sich in der Schweiz mit den Gästen gemein machen muss, bleibt ihre Niedertracht an ihm hängen. Zu Recht macht er seine Kunden verantwortlich für den eigenen Schmutz. Denn mangels einer professionellen Gastfreundschafts- und Höflichkeitskultur wie sie in anderen Ländern gepflegt wird, fehlt ihm das richtige Mittel, sich von ihnen zu distanzieren.
Max Frischs Stück Andorra über die Schrecken menschlicher Ausschlusslogik ist sehr genau konstruiert. Bis in die alltäglichen Details des Gastgewerbes und die theoretischen Zusammenhänge von Barbarei und Gemütlichkeit. So sind es denn auch Gemüt und Gefühl, die Andri, das Opfer, nicht haben darf und nicht haben kann. Denn, was ein echtes und berechtigtes Gefühl ist, darüber entscheidet in einer engmaschigen Gesellschaft wie in Andorra die Öffentlichkeit. Und daher ist der treueste Vorbote jeder Diktatur die Indexierung der Gefühle bzw. die „Standardisierung“ wie es Eva Illouz genannt hat. So ist eben jeder Faschismus zuerst und zuletzt ein Gefühlsfaschismus. Zwei Merkmale zeichnen einen solchen aus. Erstens wird angesagt, welche Gefühle im Moment gerade Geltung haben und also die wahren Gefühle sind und zweitens zeigt sich die Zugehörigkeit zur Gruppe darin, ob man echte Gefühle hat, die wiederum niemals andere sind als DIE ECHTEN. Die Wahrheit hat man eben im Gefühl oder im Blut, wie es im Stück heisst. Und wer wie der Soldat in seiner Rechtfertigungsrede sagen kann, „ich sage immer, was ich denke“, behauptet zwar Eigenständigkeit, verrät aber nur, dass er nie etwas denkt, was die Mehrheit der anderen nicht auch denkt. Das trotzige: „Ich sag eben immer was ich denke!“ hat in diesem Sinn immer etwas vom Schrecken des ins Recht gesetzten Massengefühls.
Neben der Wirtsstube ist der Rummelplatz – denken wir ans Oktoberfest als dem gegenwärtig in Zentraleuropa wohl grössten kollektiven Enthemmungsvorgang – der ideale Ort, um auf diesen Zusammenhang aufmerksam zu machen. So deutet in der St. Galler Inszenierung ein übergrosses Karussell (Bühnenbild: Katrin Hieronimus) präzis auf den circulus vitiosus zwischen dem Mythos der Eigenständigkeit durch Blut und Natur und blosser Anpassung der Einzelnen an den unter Angst vor dem Feind entstandenen Massengeschmack. Denn das Fatale am Glauben an die Natürlichkeit des Soseins ist die Unfähigkeit, sich von seinem eigenen Meinen und Verhalten zu distanzieren und den Widerspruch bei sich und nicht nur im bösen Anderen zu entdecken. Die Grundlage jedes faschistischen WIR der homogenen Volksgemeinschaft ist der romantische Glaube an die Naturhaftigkeit des eigenen Ichs.
Nicht nur mit der Bühne, sondern auch im Spiel der Figuren hat die Inszenierung (Katja Langenbach) diese identitäre Sackgasse subtil zum Sprechen gebracht. Die Standardisierung und Konfektionierung der Gefühle ist ausgedrückt in den mechanischen Bewegungen der Andorraner, mit der schönen Ironie, dass es gerade das Handwerk ist, das zu lernen Andri verwehrt wird. Und zweitens werden die Rollen der Andorraner von Szene zu Szene unter den Schauspielern immer wieder getauscht, da ja alle zum Verwechseln individuell sind und es also unwesentlich ist, wer gerade wen darstellt.
Mit dieser Fokussierung gelingt es, das allzu allgemein Allzumenschliche – eine bekannte Problematik des Stücks – im konkreten Zusammenhang von Massenpsychologie und Authentizitätswahn zu verorten.
Der zaghafte Versuch zum Schluss, das Thema des Antisemitismus mit der Ablehnung der Flüchtlinge kurz zu schliessen, misslingt aber. Die paar aus dem Off gesprochenen Schweinereien aus den Internet-Kommentarspalten wirken irgendwie drüber gestreut wie Puderzucker. Und wie in der Bäckerei es ja erst der Puder ist, der beim Kunden den Verdacht aufkommen lässt, der Kuchen drunter sei wohl nicht mehr ganz frisch, so wirkt das auch hier mit dem Stück. Der Antisemitismus, der ja bei Max Frisch bereits nur noch als Chiffre für alles Mögliche angelegt ist, erscheint nun am Schluss ziemlich altbacken. (Man stelle sich dagegen den Andri als Zionisten vor, als israelischen Offizier, der die Militäraktionen im Gazastreifen rechtfertigt 615-544-6743 , und man spiele das Stück in einem Schweizer Theater, messe die Empathie der Zuschauer mit Andri, die sich nun in einer realen Simulation entscheiden müssten, ob sie mit einem Opfer, dessen Bild sie doch als Täter gespeichert haben, noch solidarisch sein wollen und man hätte einen Anhaltspunkt dafür, wie wenig das Thema des Antisemitismus in der Schweiz einer pädagogischen Hilfe bedarf.)
So aber wird die schon oft und zu Recht kritisierte Pointe, dass Andris Unschuld letztlich am Umstand festgemacht wird, dass er gar kein Jude war, einfach übernommen. Sie wird weder in Frage gestellt, noch wird sie zu retten versucht, indem man die schreckliche Wahrheit jeder Opferlogik zu Ende gespielt hätte, dass, wer glaubt opfern zu müssen, am Ende immer nur Seinesgleichen tötet.
Die Ausnahme, mit der im St. Galler Andorra dem modernen Antisemitismus etwas Fleisch eingehaucht wird, ist die Szene, in der der Pfarrer Andri seine Aufwartung macht. Wie Diana Dengler den schmierigen Philosemiten spielt, ist grossartig, und sie unterläuft mit dieser persönlichen Glanzleistung – Ironie der Schauspielkunst – nebenbei auch noch die vermeintliche Auswechselbarkeit der Figuren.
Die Liebe des Pfarrers, die Andri fast erdrückt und mit der er dessen Judentum zu etwas Besonderem, ja zum Rettungsfunken der Menschheit stilisiert, ist aus demselben Geist geboren, wie die Verteufelung. Sie bezeichnet das Opfer genauso mit dem Siegel abnormaler Spezifität. Jedes Opfer ist immer auserwählt. Ob zur Heiligung oder zur Verdammung spielt keine Rolle. Nicht aus Zufall hat das archaische Kultwort „sacer“ beide Bedeutungen. Von hier aus hätte sich vielleicht der Inszenierung eine etwas glücklichere Aktualisierung in die Flüchtlingsdebatte angeboten. Denn die überschäumende Begeisterung des Pfarrers und der bare Hass des Soldaten sind Geschwister. Beide sind sie Abkömmlinge eines diffusen Angesprochenseins vom Leiden des anderen. Das aus Schuldgefühlen geborene Mitleid, das sich daraus ergibt, kann auf beide Seiten ausschlagen. Nicht anders erleben wir es heute. Denn die kürzlich verbreitete „Willkommen Flüchtlinge“-Sondernummer der Bildzeitung und die jahrelange Hetze im selben Blatt halten einfach nur die Gefühlshaushalte der Leute am Kochen, wie es dem Wesen der Gefühlsdiktatur, der der Boulevard huldigt, entspricht. Heute für, gestern und morgen wieder gegen. Und wenn für diese, dann zugleich gegen jene. Das Mitleid der Anständigen ist der Hauptfaktor, um den Konkurrenzkampf der Ausgeschlossenen in Gang zu halten. Und es bestimmt, wer gerade den Part der guten Opfer spielen darf.
So wäre es heute am ehesten der Lehrer, der dem Stück eine politische Aktualität geben könnte. Seine Lüge über die Herkunft seines Sohnes verschaffte ihm Vorteile durch das Mitleid der anderen und führte die Familie in die Katastrophe. Wie brüchig und gefährdet derjenige ist, der sein Leben auf Mitleid, statt auf Rechte bauen muss, könnte eine Lehre von Andorra für heute sein.
* Leicht veränderte Fassung. Zuerst erschienen auf saiten.ch.