„Anders denken, anders sprechen“ – das war der Anspruch Louis Althussers hinsichtlich von Grundsatzfragen, die die Philosophie, Politik, die Geschichte des Kapitalismus und den zeitgemäßen Klassenkampf betreffen. Diesem Anspruch ist er gerecht geworden. Er war, wie Peter Schöttler und Frieder O. Wolf 1985 schreiben, „einer der wichtigsten Theoretiker eines erneuerten Marxismus und einer der großen Anreger der französischen Nachkriegsphilosophie. Wie kaum ein anderer marxistischer Theoretiker seit Antonio Gramsci hat Althusser neue Fragen, Probleme und Thesen in die internationale marxistische Debatte eingebracht.“ Seit langem gab es die Absichten, die Werke von Louis Althusser in größerem Umfang auf Deutsch zu veröffentlichen. Ein erster Anlauf von Frieder O. Wolf, beim Argument Verlag eine auf acht Bände angelegte Ausgabe der Schriften herauszubringen, wurde dann nach der Publikation zweier wichtiger Bände – Band 4 „Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler“ (1985), Band 2 „Machiavelli – Montesquieu – Rousseau“ (1987) – nicht fortgesetzt. Vor einigen Jahren begann Frieder O. Wolf einen zweiten Versuch, Gesammelte Schriften von Althusser auf Deutsch zu veröffentlichen. Es erschien 2011 bei edition suhrkamp als Band 3 „Für Marx“ neu übersetzt und um Aufsätze erweitert, die in der ersten deutschen Ausgabe nicht enthalten, wenn auch teilweise andernorts auf Deutsch zu finden waren. 2012 folgte bei VSA als Band 5 im ersten Halbband der bedeutende Text „Ideologie und ideologische Staatsapparate“ und im zweiten Halbband das aus dem Nachlass veröffentlichte umfangreiche Manuskript „Über die Reproduktion“. Zu Beginn dieses Jahres erschien nun beim Verlag Westfälisches Dampfboot die erstmals vollständig ins Deutsche übersetzte Ausgabe des von Louis Althusser und seinen Schülern Étienne Balibar, Roger Establet, Pierre Macherey und Jacques Rancière 1965 veröffentlichten Buches „Das Kapital lesen“. Man muß sagen: endlich, denn die erste deutsche Übersetzung von Klaus-Dieter Thieme, die 1972 vom Rowohlt Verlag in einer Taschenbuchausgabe publiziert wurde, umfasste – entsprechend der französischen Neuauflage von 1968 – nur die Texte von Althusser und Balibar und ist zudem seit langem vergriffen.
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Jacques Rancières Beitrag „Zum Begriff der Kritik und die Kritik der politischen Ökonomie“, in dem der Einschnitt im Kritikverständnis im Werk von Marx herausgearbeitet wird, wurde im selben Jahr separat im kleinen Berliner Merve Verlag veröffentlicht. Rancière selbst hatte sich nach ’68 maoistisch neu orientiert und mit einer umfangreichen Kritik – 1974 unter dem Titel „La Leçon d’Althusser“ veröffentlicht – von Althusser distanziert. Teilweise wurde diese Kritik unter dem Titel „Wider den akademischen Marxismus“ 1975, ebenfalls vom Merve Verlag, auf Deutsch veröffentlicht; vollständig ist das Buch unter dem ursprünglichen Titel 2014 im Laika Verlag erschienen. Rancière zielt mit seinem Buch darauf, die revisionistische Praxis zu analysieren, wie sie sich aus seiner Sicht anhand der Praxis von Althusser veranschaulichen läßt. Damit ist gemeint, daß Althusser den ideologischen Klassenkampf zwischen der Ideologie der Bourgeoisie, die in ideologischen Apparaten ausgeübt wird, und der Ideologie des Proletariats, die sich in den Praktiken der Kämpfe zur Geltung bringt, in einen Konflikt zwischen Ideologie und Wissenschaft transformiert habe. Somit übernehme der Althusserismus die Rolle, akademisch gebildete Mandarine auf der Seite der Linken zu produzieren, die sich mit der Rede vom Klassenkampf in der Theorie kämpferisch geben können, während sie de facto eine intellektuelle Polizeifunktion gegenüber der Spontaneität der Massen praktizieren. Motiviert von den Erfahrungen der ’68er Protestbewegung und der Kritik an der Trennung von Kopf- und Handarbeit, stellte Rancière die Erfahrung der Massen der theoretischen Praxis in den Wissenschaften äußerlich gegenüber. War hier der kritische Maßstab ein militanter Marxismus, dem Althusser als Revisionist, Sartre als Idealist und Foucault als Anti-Marxist galt, so mündete Rancières eigene Theoriebildung schon wenige Jahre später in eine Gleichheitskonzeption ein, die sich gar nicht mehr auf Marx oder den Poststrukturalismus bezieht (dem er aus zweifelhaften genealogischen Gründen manchmal noch zugerechnet wird) und sich in der Form der konventionellen politischen Philosophie bewegt.
Die neue Ausgabe von „Das Kapital lesen“ umfasst mit weiteren kleineren Texten von Althusser, dem Vor- und Nachtwort von Frieder O. Wolf und Sebastian Neubauers Erläuterungen zu Althussers handschriftlichen Veränderungen seiner eigenen Beiträge insgesamt 764 Seiten. Das ist eine enorme Leistung sowohl des Herausgebers und Übersetzers Frieder O. Wolf als auch des Verlags, und man muß beiden dankbar sein, daß sie sich dieser Aufgabe angenommen haben. Was die Ausgabe sehr bereichert, ist die Berücksichtigung der Textveränderungen in den zwei französischen Ausgaben von 1965 und 1968 bzw. 1973. Zudem zieht Wolf vergleichend auch die deutschen und die französischen Versionen der Texte von Marx heran, was hilft, den Althusserschen Bezug auf sie genauer zu verstehen. Die Lektüre von „Das Kapital lesen“ ist ohnehin anspruchsvoll, sie wird durch die philologische Berücksichtigung dieser Zusammenhänge noch anspruchsvoller. LeserInnen sollten bei der Lektüre Geduld mitbringen. Aber es ist nicht so dahin gesagt: sie lohnt sich. Nach wie vor – und keineswegs überholt durch neuere Diskussionen – erweist sich das Buch als ein Meilenstein der Diskussion über Marx, vielfach immer noch nicht gut verstanden, sollten seine Einsichten einer der selbstverständlichen Ausgangspunkte heutiger Debatten sein. Wünschenswert wäre gewesen, wenn noch einmal aufmerksam Korrektur gelesen worden wäre, denn es finden sich leider zahlreiche, den Lesefluß störende Druckfehler. Zu wünschen gewesen wäre auch, daß der Herausgeber in seinem Nachwort für heutige und mit dem Zusammenhang vielleicht nicht vertraute LeserInnen noch einige Hinweise auf die jahrzehntelange Diskussion über Althusser sowie die Bemühungen von Peter Schöttler oder Henning Böke, des VSA-Verlags oder der Zeitschriften „alternative“, „Das Argument“, „Sozialistische Politik“, „kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskursanalyse“ um die Rezeption der Theorie Althussers und die starken Widerstände gegen sie im deutschsprachigen Raum gegeben hätte.
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Für solche Widerstände gab es unterschiedliche Motive. a) Aus dem Blickwinkel der Mitglieder der moskauorientierten kommunistischen Parteien war Althusser, obwohl Mitglied der KPF, zu maoistisch und zu kritisch gegenüber der eigenen Tradition, da er die stalinistische Konzeption des dialektischen Materialismus ablehnte. Der humanistischen Kritik am Stalinismus warf er vor, immer noch die Annahmen jener Tradition zu teilen. Für die nach ’68 neugegründeten maoistischen Organisationen, die an marxistischer Theorie kaum interessiert waren und sich auf die Lektüre der „Klassiker“ von Marx bis Mao und die Volkszeitung beschränkten, war Althusser zu theoretisch, zu intellektuell, zu innovativ. Aus dem Blickwinkel der radikalen Linken betrachtet, war Althusser einer der Intellektuellen der westeuropäischen kommunistischen Parteien, die als revisionistisch und zudem mit ihrer Perspektive eines historischen Kompromisses als zu wenig militant galten.
b) Damit verbunden war eine theoretische Ablehnung. Denn Althusser griff nicht nur den orthodoxen Marxismus-Leninismus an, sondern auch genau diejenige Theorietradition, die für die undogmatische Linke und ihre Theoriebildung zunehmend wichtig wurde – sofern sie nicht ohnehin die marxistische Theorie mit Argwohn bedachte –, also einen Hegelmarxismus, für den Namen wie Lukács, Korsch, Bloch, Kofler, Adorno und Horkheimer und Jüngere wie Alfred Schmidt und Oskar Negt oder in Frankreich Lucien Goldmann, Jean Paul Sartre oder Henri Lefèbvre standen. Im Zentrum dieser Tradition standen Begriffe wie Erfahrung, Subjektivität, Spontaneität, Alltag, Entfremdung, Verdinglichung, Ware und Fetisch. Der Bezug auf Hegel sollte ermöglichen, dialektische Begriffe auszuarbeiten, die es erlaubten, von der unmittelbaren Erfahrung der Oberfläche kapitalistischer Verhältnisse, der Welt des konsumistischen Spektakels, zu jenem Wesen vorzudringen, das die Synthesis der Verhältnisse gewährleistete, dem Wert und der ihm gemäßen Vergesellschaftung. Es sei also der Schein zu durchschlagen und eine Theorie der revolutionären Praxis zu entwickeln, von der angenommen wurde, daß sie bei Marx nicht zu finden sei, weil dieser aufgrund der Bedingungen des Kapitalismus keinen Zweifel daran haben mußte, direkt auf der systemischen Ebene schon das Moment der Praxis finden zu können. Deswegen mußte er auch sein Verständnis seiner Vorgehensweise und seiner Konzeption der Dialektik – des Zusammenhangs von Wesen und Erscheinung, von Struktur und Geschichte, von Theorie und Praxis – im „Kapital“ nicht näher erläutern. Gerade aus diesen Gründen wurde auf die „Grundrisse“ von 1858 zurückgegriffen, die wegen ihrer hegelianisierenden Denkfiguren näher an den ursprünglichen Intentionen Marx’ zu sein scheinen als insbesondere der erste Band des „Kapitals“, in dem Marx, wie er dann sagen sollte, seine Methode versteckt und seine Darstellung popularisiert habe. Deswegen auch genoß das erste Kapitel des „Kapitals“ besondere Aufmerksamkeit, weil sich hier die dialektische Bewegung von der Erscheinung – der Ware – zum Wesen – der Wertsubstanz – und zurück zur vermittelten Oberfläche des Fetischs darlegen ließ, den fetischisierten Formen von Geld, Kapital, Profit, Zins, Konkurrenz, die mit ihrer verstellenden Kraft wesentlich dazu beitragen, daß sich ein revolutionäres Bewußtsein nicht einstellt.
Es gab einen zweiten theoriepolitischen Aspekt, der über die Frage der Marxschen Theorie hinausging. Althussers Texte wurden als strukturalistischer Marxismus abgelehnt. Der Strukturalismus war von Sartre als das letzte ideologische Bollwerk der Bourgeoisie gekennzeichnet worden. Als Strukturalisten wurden seinerzeit viele Autoren bezeichnet, die dann auch dem Poststrukturalismus zugerechnet wurden, also vor allem Deleuze, Derrida, Kristeva oder Foucault. Ganz allgemein wurde dem Strukturalismus und Poststrukturalismus vorgeworfen, daß sie Subjektivität, individuelle Autonomie, moralisches Handeln oder Geschichte nicht angemessen berücksichtigen, Vernunft nicht begründen könnten und sich letztlich auf eine neutrale und externe Rekonstruktion solcher Strukturen – in Analogie zum System sprachlicher Zeichen – beschränken würden. Die Kontroversen, die zwischen vielen dieser Autoren stattfanden, wurden unterschlagen. Wenn heute „Das Kapital lesen“ als strukturalistisch bezeichnet wird, dann auch deshalb, um es im Rahmen des weit herum akzeptierten Poststrukturalismus mit seinen vielen anerkannten Vertretern wie Deleuze, Derrida, Foucault, Badiou, Rancière nicht nennen zu müssen – so wie wenn ein marxistischer Anteil den Poststrukturalismus kontaminieren würde. Doch läßt sich leicht feststellen, daß das Buch durchaus in den Zusammenhang des sog. Poststrukturalismus gehört. Hier finden sich implizit und teilweise explizit viele theoretische Überlegungen, die von Lacan, Barthes, Foucault, Derrida oder der Tel-Quel-Gruppe um Kristeva vertreten wurden, noch in einem marxistischen Zusammenhang, bevor dieser sich dann in den 1970er Jahren desartikulierte und jene Theorien vieles von ihrer Radikalität verloren.
c) Schließlich trug auch Althussers Tötung seiner Ehefrau Hélène im November 1980 – er war jahrelang immer wieder in psychiatrischer Behandlung – dazu bei, Vorbehalte der Theorie gegenüber zu reproduzieren. Für manchen bestätigte sich, daß der theoretische Antihumanismus, die Kritik am konstitutiven Subjekt und an der Vernunft schließlich auch im Privaten zu zerstörerischen Folgen führen mußte.
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„Das Kapital lesen“, das wenige Jahre vor den ’68er Protestbewegungen erstmals veröffentlicht wurde und danach mehrere Auflagen hatte, erlangte (in der gekürzten Fassung von 1968, die nur Althussers und Balibars Texte enthielt) für die internationale marxistische Diskussion eine enorme Bedeutung. Es unterstützte jene kritische Tendenz – in manchmal enger Beziehung zu den politischen Praktiken –, sich mit den Marxschen Texten zu beschäftigen, sie wirklich auf anspruchsvolle Weise theoretisch zu lesen und sie nicht nur bekenntnishaft und dogmatisch zu zitieren; und es stellte eine Provokation dar, weil es geläufige Deutungen des Marxschen Werkes verwarf. Das gilt zum einen für den von den Kommunistischen Parteien vertretenen Marxismus-Leninismus, zum zweiten für Lesarten, die sich in starkem Maße auf Marx’ Frühschriften beziehen und den Einfluß von Hegel und Feuerbach auf Marx zur Geltung bringen. In diesem Fall wird für einen einheitlichen Marx plädiert, dessen Identität als Autor die Gewähr für eine kontinuierliche Theorieentwicklung geben soll. Diese Theorie findet die Grundlage der Kritik durch den Bezug auf ein Wesen des Menschen und in der Hegelschen Dialektik. In der späteren Entwicklung werden solche Begriffe wie Arbeit, Entfremdung oder Verdinglichung mit ihren durchaus normativen Gehalten dann materialistisch in der Ökonomiekritik ausgeführt.
In einer seiner vielen, durchaus ressentimentgeladenen Seitenbemerkungen zu Marx und zur marxistische Tradition kritisiert Pierre Bourdieu im Rahmen einer 1991 gehaltenen Vorlesung, daß der Althusserianismus zum großen Teil eine Restauration des Priestermonopols auf die Lektüre der Texte von Marx gewesen sei, die im Übrigen außer den Marxologen niemand mehr lese. Bourdieu hat sich hinsichtlich der Bereitschaft, Marx zu lesen, gründlich getäuscht. Seine These zur Bedeutung des Althusserianismus – die den Einwand von Rancière wiederholt, ohne sich auf diesen zu beziehen – läßt sich empirisch kaum prüfen, aber sie geht an den Zielen von Louis Althusser selbst vorbei. Das Bemerkenswerte des Ansatzes der Gruppe um Althusser ist ja gerade, daß sie eben jenes Priestermonopol aufbrechen möchte. „Das Kapital“ soll gerade nicht als die Verkündigung der reinen Wahrheit gelesen werden: also als Schrift, der die Wahrheit innewohnt, als das gesprochene Wort, der Logos, der das wirkliche Sein zur Geltung bringt (26). Deswegen geht es über lange Passagen um solche Fragen, was der Gegenstand des „Kapitals“ sei und wie es gelesen werden muß. Noch vor Derrida oder Foucault lehrt „Das Kapital lesen“, daß Lektüre kein neutrales Unternehmen ist, und daß es eine lange, jahrtausendealte, in Theologie und Philosophie eingeübte theoretische Praxis gibt, sich in ein hermeneutisches Verhältnis zu Texten und gar zu heiligen Texten zu setzen, um einen letzten Sinn, eine verborgene Wahrheit offen zu legen, die im Text zwar zu finden sein soll, aber von allen früheren Lesern immer verkannt wurde.
Aus der Sicht Althussers bricht Marx in „Das Kapital“ mit jener Tradition, indem er auf eine eigene und zu rekonstruierende Art und Weise die Texte der bürgerlichen Ökonomen liest und ein bestimmtes Verständnis von Theorie und Wissenschaft ausarbeitet. Deswegen stellt sich als entscheidende Frage die nach der Philosophie von Marx. Doch der große Einschnitt, der sich mit dem Text von Marx in der Geschichte des Theoretischen vollzieht, kann Althusser zufolge eben gerade nicht zurückgeführt werden auf irgendeine andere Philosophie, sei es Spinoza, Rousseau, Kant, Hegel, Feuerbach, Saussure, Freud oder Critical Realism. Im „Kapital“ ist eine völlig neue und eigenständige Form der Philosophie am Werk, die Marx allerdings nicht expliziert. Doch über sie genaueres zu wissen, ist deswegen notwendig, weil dies dazu beitragen würde, die wissenschaftliche Revolution von Marx besser zu verstehen, also die Konstruktion eines neues Gegenstands und die Eröffnung eines neuen Kontinents der Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Auch alltagspraktisch und politisch ist dies von Bedeutung, da es für jedes einzelne Individuum darum geht, mit den herrschaftlichen Kategorien zu brechen und aus dem Imaginären des bürgerlichen Weltverständnisses herauszutreten – und diesen Einschnitt nicht einmalig zu vollziehen, sondern ihn immer wieder von neuem zu praktizieren.
Um also diese neue, revolutionäre Philosophie zu begreifen, bildet die Auseinandersetzung mit Hegel in „Das Kapital lesen“ ein wiederkehrendes Moment, denn Marx hatte ja im Nachwort zur zweiten Auflage des „Kapitals“ 1873 geschrieben, daß er sich als Schüler jenes großen Denkers bekannt und im Kapitel über die Werttheorie mit der ihm eigentümlichen Ausdrucksweise kokettiert habe. Was genau Marx’ Aussage bedeutet, wonach die Hegelsche Dialektik umzustülpen sei, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken, beschäftigte Althusser schon in „Für Marx“. Das ist nicht nur ein philosophisches oder ein methodisches Problem, das um die Frage kreist, ob Marx mehr gemacht habe, als die Dialektik auf die Ökonomie Ricardos anzuwenden und deswegen die Dialektik als Methode auch für sich verändernde gesellschaftliche Verhältnisse von größerer Relevanz sei als die Analysen von Marx, die trotz ihres wertvollen soziologischen Charakters zeitbedingt und deswegen überholt seien. Nicht nur gegen diesen Historismus wendet sich Althusser. Ihm geht es auch um den genuin gesellschaftstheoretischen Gehalt der Marxschen Theorie. Deswegen steht die Frage im Zentrum, welchen Gegenstand die von Marx eröffnete Wissenschaft hat. Althusser zufolge entfaltet Marx mit seiner Kritik der politischen Ökonomie die Theorie der kapitalistischen Produktionsweise und damit verbunden die Theorie der verschiedenen Bereiche innerhalb dieser Produktionsweise – also etwa Ökonomie, Recht oder Kunst. Darüber hinaus entfaltet er damit auch die Wissenschaft der Geschichte, also die Theorien der verschiedenen Produktionsweisen, die Theorie der Produktion von Erkenntnis, die Geschichte der Theorie der Produktion von Erkenntnis und eine eigene Philosophie. Althusser und seine Kollegen wenden sich gegen die philosophische Vorstellung von Methode. Als von entscheidender Bedeutung für die Argumentation wird die Marxsche Überlegung aus der „Einleitung“ von 1857 gehalten, die das Gedanken- und das Realobjekt voneinander trennt. Marx wird als radikaler Anti-Empirist verstanden: die Begriffe sind keine Abstraktionen aus der Wirklichkeit, keine Idealtypen, Forschungsheuristik oder gar bloße Namen für ein Bündel von Tatsachen, also Wörter, durch die man wie durch Löcher auf einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit schauen könnte. Das Gedankenobjekt besteht aus den Begriffen, die die kapitalistische Produktionsweise als Gegenstand erschließen. Marx hat eine spezifische theoretische Praxis entwickelt, die ihren Gegenstand durch die kritische Bearbeitung der geläufigen ideologischen Denkformen hindurch erzeugt und konstituiert. In der Darstellung der Begriffe findet der Prozeß der Produktion von Erkenntnis statt; der Gegenstand der Erkenntnis, das Gedankenobjekt, existiert also nicht vor der Darstellung und unabhängig von ihr.
Kritisch gegenüber dem philosophischen Konzept der Methode, ist also für Althusser und seine Kollegen der aus der Hegelschen Tradition stammende Begriff der Darstellung von vergleichbarer großer Wichtigkeit wie für die neue Marxlektüre im Anschluß an Helmut Reichelt oder Hans Georg Backhaus. Zwar ist Althusser dafür bekannt, daß er die Leseempfehlung gegeben hat, den ganzen ersten Abschnitt des „Kapitals“ zunächst einmal auszulassen (663). Doch in den Beiträgen von Pierre Macherey und Roger Establet findet eine ausführliche Diskussion der Marxschen Darstellung statt. Die Frage der Darstellung sei für Marx deswegen so wichtig, so Macherey, weil sie eine gewisse Art und Weise impliziert, Wissenschaft zu praktizieren (218), aber sein Begriff der Darstellung sei von dem Hegels zu unterscheiden: der Text also nicht zu verstehen als ein Prozeß der Selbstentfaltung des Begriffs des Werts durch die Widersprüche hindurch bis zur Konkurrenz. In einer detaillierten Analyse zeigt Macherey 615-544-2684 , daß Marx auf den ersten Seiten des „Kapitals“ gerade keine wesenslogische Widerspruchsbewegung der Begriffe in Gang setzt. Dies würde nämlich bedeuten, daß er die Widersprüche von Reichtum-Armut, Tauschwert-Gebrauchswert und Ware-Wertausdruck, also relativer Wertform und Äquivalentform als Ausdruck des Verhältnisses zweier Waren, zur Entfaltung bringen würde. Doch Marx produziert ein Objekt anderer Art, den Begriff des Werts. Dieser liege nicht im Tauschverhältnis wie der Kern in einer Frucht, sondern könne nur begrifflich in der Analyse der Wertform produziert werden (244). Establet widmet sich dem Aufbauplan des „Kapitals“. Anders als in der deutschen Diskussion üblich, geht es ihm dabei nicht um die unterschiedlichen Pläne von Marx zur Anlage der zu schreibenden Kritik der politischen Ökonomie, sondern um die innere Gliederung der drei Bände des „Kapitals“. Auch hier wird gegen Hegel argumentiert. Marx folgt nicht der wesenslogischen Entfaltung eines Begriffs; das Ganze der drei Bände des „Kapitals“ bilde keine Totalität, in der das Ende des Kreises der Begriffe den Anfang vermittelt und begründet. Vielmehr handele es sich bei der Abfolge um Artikulationen von theoretischen Elementen (z.B. erster und zweiter Abschnitt des I. Bandes mit der Gesamtheit des „Kapitals“ (608)).
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Es wurde Althusser oft Theoretizismus und Akademismus vorgeworfen. Aber dieser Einwand verkürzt die Problematik. Es stimmt zwar, daß Althusser entlang der Unterscheidung von einerseits Wissenschaft und Philosophie, auf der anderen Seite Ideologie operiert. Damit wird das wissenschaftlich Falsche immer als Ideologie angesehen und nicht der Frage nachgegangen, nach welcher Macht man strebt, wenn man den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt. Umgekehrt kann Althusser die im Alltag der Subalternen zu findenden Momente einer neuen Rationalität und Weltkonzeption nicht dechiffrieren. Die Überlegung von Gramsci, daß die Philosophie der Praxis die in den Praktiken enthaltenen Denkformen ausarbeitet, lehnt Althusser ab. Trotz dieser Einwände ist der Begriff der theoretischen Praxis ein wichtiger Beitrag, der der endlosen Diskussion über Theorie und Praxis einen ganz neuen Dreh gibt und die konkreten Aktivitäten in den Blick zu nehmen hilft, die mit Theorie oder Wissenschaft verbunden sind. Dabei ist nicht zwingend erforderlich, daß die theoretische Praxis in der Form universitärer Arbeit stattfindet; und es ist bedauerlich, daß Althusser in dieser Frage die Überlegungen Gramscis zur Bedeutung von Hegemonieapparaten, also der Verhältnisse, unter denen die theoretische Praxis stattfindet, nicht aufgegriffen hat. Ihm ging es um die wissenschaftstheoretisch zu bestimmende Geltung der Marxschen Theorie, die Neuartigkeit ihrer Wissenschaftlichkeit – während er die Gefahr sah, daß sie, in Gramscianischen Begriffen gedacht – nur eine weitere Philosophie sein würde, die Menschen in ihrem ideologischen Alltag leben. Die Geltung als wissenschaftliche Theorie soll sich demgegenüber aus einer präzisen begrifflichen Arbeit ergeben. Eine solche Überlegung stellt eine Herausforderungen dar für eine in der Linken ebenso wie in den Fachwissenschaften verbreitete Annahme, die besagt, daß die Wissenschaftlichkeit und Wahrheit einer Theorie durch die Methode gewährleistet und durch ihren praktischen Erfolg bewiesen werde. So kann es in diesem pragmatistischen Sinn dann auch in der materialistischen Theorietradition heißen, daß im Werkzeugkasten der sozialwissenschaftlichen Theorien die Marxsche Theorie einfach ein besseres Instrument sei als andere, um wichtige Aspekte der bürgerlichen Gesellschaft erklären zu können. Darunter werden dann materielle Prozesse verstanden; und materielle Prozesse mit politökonomischen Vorgängen identifiziert.
Aber ist die politische Ökonomie der Gegenstand der Marxschen Theorie? Althusser verneint das, Marx bewege sich nicht in der klassischen Tradition der politischen Ökonomie fort. Vor allem aber: Auf welcher Grundlage könnte man überhaupt einen solchen Vergleich zwischen verschiedenen theoretischen Instrumenten anstellen? Gibt es den neutralen Standpunkt, der es erlaubt, aus der Distanz die verschiedenen Theorieangebote neutral mit der Wirklichkeit zu vergleichen, also zwei oder drei Theorien als Instrumente in die Hand zu nehmen, ganz vor-theoretisch am Gegenstand anzusetzen und sie solange auszuprobieren, bis eine von ihnen passt und einen praktischen Erfolg zeitigt? Althusser äußert sich, gestützt auf die Epistemologie Bachelards und Canguilhems entschieden kritisch. Ein solcher distanzierter Standpunkt steht nicht zur Verfügung. Denn der wissenschaftliche Erkenntnisprozeß vollzieht sich als eine spezifische theoretische Praxis. Diese stellt eine Arbeit mit Begriffen an ideologisch-begrifflichem Rohmaterial unter bestimmten Verhältnissen dar; sie verläßt also nie den begrifflichen Raum, sondern bearbeitet ideologische Begriffe und erzeugt dadurch Erkenntniseffekte (88). So verstanden, macht Althussers Begriff der theoretischen Praxis deutlich, daß die Theorie von Marx sich nicht subaltern zu Fachwissenschaften und deren vielfach ideologischen Gegenständen, noch zu Methoden noch gar zu bestimmten empirischen Entwicklungen verhält.
Die Zurückweisung von Hegel und die Überlegung, daß der Gegenstand des „Kapitals“ die kapitalistische Produktionsweise ist, veranlasst Althusser, auch die Unterscheidung von Wesen und Erscheinung zu problematisieren (316f). Das ist folgenreich für die marxistische Theorie und ihr Verständnis von Dialektik. Denn häufig wird angenommen, daß es so etwas wie eine zugrunde liegende und invariante Struktur gibt: das Kapital und seine Logik des sich selbst verwertenden Werts. Dieses Wesen, das üblicherweise als determinierende Ökonomie verstanden wird, entfaltet sich durch eine Reihe von Vermittlungen zu einer Totalität, deren Oberfläche aus verkehrten, verdinglichten, fetischisierten Erscheinungen besteht, die nicht-ökonomisch sind: Religion, Recht, Staat, Philosophie, schließlich auch die Normen und Werte oder Bewußtsein der Individuen, die entsprechend handeln. Jedes dieser Überbauphänomene bringt das Wesen zu Ausdruck. Deswegen spricht Althusser von einer expressiven Totalität. Diese hegelmarxistische Konzeption bleibt reduktionistisch und ökonomistisch, obwohl sie viel komplizierter ist als jene des Marxismus der sozialdemokratischen und stalinistischen Tradition, die von einfachen, linearen Ursache-Wirkungsverhältnissen ausgeht. Denn die gesellschaftliche Totalität ist immer durch eine homogene Zeit bestimmt: an den einzelnen Phänomenen läßt sich wie mit einem „Wesensschnitt“ das Ganze vollständig begreifen. Alle Teile des Ganzen müssen immer dem ökonomischen Wesen entsprechen und sich auf den einen „Begriff bringen lassen“, der die eine Gegenwart ergreift. (292ff) Da es bei Hegel kein Wissen von Zukunft geben könne, also ein Wissen, das sich auf die künftigen Auswirkungen gegenwärtiger Erscheinungen beziehe, könne es keine hegelianische Politik geben (294f). Allenfalls kann die Veränderung nur als systemischer Zusammenbruch der Totalität in ihrer Gesamtheit oder als Überwindung von einem Moment zum anderen gedacht werden.
Demgegenüber betonen Althusser und seine Kollegen, daß Marx die Hegelsche Dialektik von Wesen und Erscheinung nicht nur einfach vom Kopf auf die Füße stellt, sondern einen völlig anderen Begriff von Dialektik entfaltet, den der Überdetermination. Das bedeutet zunächst, einen theoretischen Begriff des gegliederten Ganzen mit den spezifischen Verhältnissen der Ökonomie, der Politik und der Ideologie zu produzieren. Jedes dieser Verhältnisse ist durch eine spezifische Wirksamkeit, Handlungslogik und Zeitlichkeit gekennzeichnet, die sie zwar nicht unabhängig von den Produktionsverhältnissen machen, ihnen aber doch eine relative Autonomie verschaffen. Zwei Beispiele: Heterosexuelle Paarbeziehungen mögen eng mit dem Vertragsgedanken einer erwerbsorientierten und Reichtum sichernden Familienbildung zusammenhängen, doch konstituieren sie mit der spezifischen Balance von generativem Verhalten, Geschlechterverhältnis, Gefühlsbindungen zwischen PartnerInnen oder Eltern und Kindern eine eigene Dynamik, die sie durchaus auch in Widerspruch zu Verwertungsimperativen geraten läßt; politisches Handeln läßt sich nicht eindeutig dem Interesse des Kapitals als solchem zurechnen, weil die bürgerliche Klasse, die das Kapitalverhältnis personifiziert, verschiedene Interessen und Strategien der Mehrwertproduktion verfolgt, ihr Verhältnis zu den ArbeiterInnen auf verschiedene Weisen personifiziert und zwischen allen diesen Kräften Kompromisse formiert werden müssen, die den Kapitaleigentümern Handlungszwänge auferlegen.
Es gibt keine diesen Bereichen gemeinsame, homogene Zeit, sie sind in ihrem Verhältnis zueinander immer ungleichzeitig, weil sie ihrem autonomen Rhythmus folgen. Zusammen bilden diese besonderen Bereiche das gegliederte Ganze der kapitalistischen Produktionsweise. Die Art und Weise, wie diese Bereiche sich überdeterminieren, begreift Althusser als Konjunktur. Diese konkrete Konstellation ist Gegenstand einer konkreten Analyse. Im Rückblick und vor allem nach der Veröffentlichung von Althussers späten Texten in „Materialismus der Begegnung“ wird deutlicher noch als in seinen Aufsätzen in „Für Marx“, daß er als ein Theoretiker der Kontingenz verstanden werden muß. Denn entscheidend ist für ihn, daß der Begriff einer spezifischen Konjunktur sich nicht theoretisch ableiten läßt, sondern das kontingente Ergebnis der Verschiebungen und Verdichtungen ungleichzeitiger Kräfte und Dynamiken im Prozeß ihrer Überdetermination bestimmt. Die Begriffe, die Marx im „Kapital“ entwickelt hat oder auf diese Vorarbeiten gestützt für die Bereiche des Politischen und Ideologischen noch weiter zu entwickeln wären, sollen es ermöglichen, einen Begriff des komplexen gesellschaftlichen Ganzen und der besonderen Konjunktur zu erzeugen, um gerade die besondere Verdichtung und die Möglichkeiten verändernder Praxis auszuloten.
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Althusser hat keine Gesellschafstheorie ausgeführt. Doch seine Überlegungen haben Konsequenzen für die materialistische Auffassung der bürgerlichen Gesellschaftsformation, die durch Abgrenzung von zwei anderen Lesarten der Marxschen Theorie verdeutlicht werden können. In einer ersten Lesart kann der Gegenstand der Theorie von Marx als Kritik der politischen Ökonomie bestimmt werden. So verstanden, befasst sich die Theorie mit den Gesetzen der Verwertung von Kapital und den Formen, die das Kapital dabei durchläuft. Über andere Bereiche der bürgerlichen Gesellschaft scheint das „Kapital“ keine Aussagen zu erlauben. Soweit dies in der Tradition doch versucht wurde, handelt es sich um eine Überdehnung der Theorie von Marx hin zu einem „-ismus“, zu einer Lehre und Weltanschauung. Zum zweiten schlägt der Herausgeber Frieder O. Wolf in seinem Nachwort eine weniger ökonomiezentrierte als politische Lesart des Marxschen „Kapital“ vor. Demnach wäre der Gegenstand des „Kapitals“ die Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise in der bürgerlichen Gesellschaftsformation. Über andere Formen der Herrschaft wie Sexismus oder Rassismus könne die Theorie zwar nichts aussagen, aber mit dem Begriff der Überdetermination die ökonomische Herrschaft und Ausbeutung mit anderen Formen von Herrschaft und Ausbeutung in ein Verhältnis wechselseitiger Kausalität bringen, so daß sich Althussers Theorie fruchtbar machen lasse für vielseitige politische Bündnisse. Es ist leicht zu erkennen, daß in beiden Lesarten eine Art kantianisierende Geste praktiziert wird, nämlich eine Art Kritik der Marxschen Theorie, um zum einen die Reichweite ihrer Begriffe rational und von innen her zu begrenzen, zum zweiten aber auch, um Ansprüche von außen abzuwehren. Vorwürfe vonseiten der politischen Ökologie, des Feminismus oder des Postkolonialismus, Marx habe ihren jeweiligen Gegenstand nicht bedacht, gehen dann ins Leere, wenn eben gezeigt werden kann, daß sie auch gar nicht in den Gegenstandsbereich der Kritik der politischen Ökonomie fallen.
Ich möchte demgegenüber die Ansicht vertreten, daß die Bedeutung von Althussers Ansatz darin besteht, daß er die Herausforderung des Hegel-Marxismus annimmt und versucht, diesen Ansatz einer kapitalismuskritischen Theorie der Totalität mit besseren begrifflichen Mitteln fortzusetzen. Er entwickelt schon in „Für Marx“ und dann gemeinsam mit den anderen Autoren in „Das Kapital lesen“ die Grundlagen für einen Begriff des komplex strukturierten Ganzen. Für das Verständnis des komplexen Ganzen entscheidend ist der Begriff der Gliederung, der Artikulation. Diesem Begriff widmet Althusser große Aufmerksamkeit, er stellt ihn dem Begriff der Reduktion auf einen Bereich des Ganzen direkt entgegen. Die Art und Weise ihrer Gliederung (Artikulation) ist entscheidend für die Bestimmung der kapitalistischen Produktionsweise. Dem Anspruch von Althusser zufolge hat deswegen die von Marx initiierte Wissenschaft von der Geschichte die Aufgabe, zahlreiche Bereichstheorien wie die des Rechts, der Politik und des Staates, der Literatur und Kunst, der Schule und Bildung, des Geschlechterverhältnisses oder des gesellschaftlichen Naturverhältnisses auszuarbeiten und ihre überdeterminierenden Dynamiken in Konjunkturanalysen zu bestimmen.
Aus heutiger Sicht wird man sich fragen müssen, ob solche Überlegungen nicht doch zu szientifisch waren, ob sie nicht doch noch zu sehr unter dem Eindruck des Hegel-Marxismus und des Programms einer Totalitätserkenntnis standen. Gleichzeitig ist es aber auch möglich, rückblickend sich über den Stand des Althusserschen Forschungsprogramms zu verständigen. Denn im Anschluß an seine Theorie haben, um nur einige wenige zu nennen, Nicos Poulantzas eine Theorie des kapitalistischen Staates entwickelt, Bernard Edelmann eine Theorie des Rechts, Michel Pêcheux eine diskursanalytische Ideologietheorie. Die vermutlich bedeutendste Fortentwicklung von Althussers Theorie findet sich schließlich in den Arbeiten Michel Foucaults, die meines Erachtens völlig verrätselt werden, wenn sie nicht im Kontext und als eine kritische Weiterentwicklung der marxistischen Gesellschaftstheorie gelesen werden. Ein Beispiel für die verrätselnde Praxis bietet das Nachwort von Bernard E. Harcourt zu Foucaults Vorlesung „Die Strafgesellschaft“. Harcourt weist auf das Unübersehbare hin, daß nämlich diese Vorlesung ihrem Tonfall nach stark marxistisch geprägt und stärker marxistisch angehaucht sei als andere, um dann um so nachdrücklicher zu betonen, daß es aber keinesfalls um einen marxistischen Text handele (387), sondern jenseits des Marxismus und Althussers anzusiedeln sei. Erstens, so legt Harcourt nahe, würde Althusser einen Marxismus vertreten, demzufolge die Gefängnisstrafe aus der Strafrechtstheorie abzuleiten sei (391). Mit seinem Ideologie-Aufsatz hat Althusser jedoch die grundlegende und an Gramsci anschließende Überlegung entfaltet, daß sich die Ideologie in der Form von Praktiken und Ritualen entfaltet, also auch in diskursiven Praktiken innerhalb strategischer Felder. Gerade dem folgt Foucault, wenn er in seinen Untersuchungen zum Ergebnis kommt, daß die Gefängnisstrafe sich aus den Machttaktiken des Bürgertums und seinen Bemühungen erklären lasse, die Illegalismen der ArbeiterInnen in Illegalitäten zu transformieren, ihre Körper an den Produktionsapparat zu binden und den Delinquenten zu schaffen, der dann auch gegen die Arbeiterbewegung eingesetzt werden kann. Zweitens betont Harcourt zu Recht – aber ohne in diesem Zusammenhang Althusser zu erwähnen –, daß man gegen einen anthropologischen Marxismus, der das Wesen des Menschen in der Arbeit erblicke, das Subjekt neu denken müsse. Doch gerade dieser Vorschlag kam von Althusser ebenso wie sein Theorem zur Subjektivierung des Individuums durch Anrufung–Wiedererkennung, das Foucault dann so ausführlich zu einer Hermeneutik des Subjekts und den Techniken der Selbstregierung weiterentwickeln sollte. Drittens wird Althusser für die These kritisiert, daß es beim politischen Klassenkampf um die Eroberung und Verteidigung der Staatsmacht gehe. Nachdem er ausführlich die Abgrenzungen vom Marxismus und von Althusser vorgenommen hat, kann Harcourt dann (401), ohne zu zögern, Foucault mit dem Satz zitieren: „Um den Produktionsapparat zu schützen, verschafft sich das Bürgertum einen starken Staat.“ Es wäre theoretisch konsistenter gewesen, wenn Harcourt Foucaults Analysen schlicht als kritische Fortsetzung der marxistischen Theorie begriffen hätte.
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Zu Recht weist Frieder O. Wolf darauf hin, daß die Marx-Lektüre der Althusser-Gruppe heute auch im Lichte der Ergebnisse der Marx-Engels-Gesamtausgabe und darin insbesondere der Abteilung II betrachtet werden muß, die die Marxschen Vorarbeiten zum „Kapital“ und dessen verschiedene Versionen enthält. Daraus ergibt sich, daß Marx’ Projekt nicht systematisch geschlossen war, sondern vielmehr suchenden Charakter hatte, daß sich, um es mit Derrida zu sagen, der Signifikant der endgültigen Formulierung des „Kapitals“ immer wieder aufschiebt. Genau genommen entspricht diesem philologischen Forschungsstand die Lektüre der Althusser-Gruppe und Althussers eigene weitere, suchende Auseinandersetzung mit der marxistischen Theorie des gesellschaftlichen Ganzen. Das Buch der Autorengruppe viele Jahre nach seinem ersten Erscheinen heute erneut zu lesen, schreibt sich in eine Konjunktur ein, die nicht nur hinsichtlich der Marxschen Arbeiten am „Kapital“ eine neue Grundlage hat. Seit 1975 liegen Gramscis „Gefängnishefte“ textkritisch vor, und so läßt sich zeigen, daß Althussers Kritik an dessen Historizismus wenig plausibel ist. Auch die philologische Grundlage für die ältere kritische Theorie der Gesellschaft – also die Theoriebildung insbesondere Theodor W. Adornos – ist heute um vieles besser als zu Beginn der 1970er Jahre. Dies ermöglicht zu sehen, daß es doch auf überraschende Weise vergleichbare Suchbewegungen gab: eine Neufassung der Dialektik und die Kritik am Hegelmarxismus, eine Kritik an einem systemischen Totalitätsbegriff, die Kritik am konstitutiven Subjekt und an solchen philosophischen Begriffen wie Entfremdung, einen herrschaftstheoretischen Begriff des Kapitals, ein neues Verständnis des Ideologischen – Suchbewegungen, die durch die Adepten unsichtbar gemacht wurden. Für eine künftige und ohne jeden Eklektizismus fortzusetzende kritisch-marxistische Theorie der kapitalistischen Gesellschaftsformation birgt dieser Bestand an theoretischen Ansätzen ein immer noch unausgeschöpftes Potenzial.
Die gegenwärtige Konjunktur ist aber auch bestimmt durch eine historisch spezifische Niederlage und Krise der marxistischen Theorie, die, so sehr sie abgelehnt und totgesagt wird, paradox genug auf „gespenstische“ Weise immer wiederkehrt – wobei Marx’ Bücher in bestimmten Phasen reißenden Absatz finden (mit dem 150jährigen Jubiläum galt das für das „Kommunistische Manifest“, nach dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 für das „Kapital“) –, was dafür spricht, daß die Theorie historisch rational ist und sich auf neuem Niveau re-formieren wird. Wenn auch unter erschwerten Bedingungen. Denn nicht nur wird immer wieder erklärt, die Theorie sei unbrauchbar für die Analyse der Geschlechterverhältnisse, des Rassismus, der ökologischen Krisenlage – was zwar nicht stimmt, aber doch verhindert, daß das „Brauchbare“ getan wird, eine Analyse der Gesamtheit der kapitalistischen Verhältnisse. Auch das materielle epistemische Terrain, die Hochschule, an der sie über mehrere Jahrzehnte wie selbstverständlich einen Ort der Wirksamkeit finden konnte, ist ihr weitgehend entzogen worden. Kaum ist es möglich, neben der Beschäftigung mit einer großen Vielzahl von kritischen Ansätzen umfassende und systematisch zusammenhängende Fragestellungen mit erklärendem und umwälzendem Anspruch auszuarbeiten und zu verfolgen. Dieses Ziel gilt als erledigt. „Das Kapital lesen“ erinnert an diesen uneingelösten Anspruch und aktualisiert ihn mit einer Vielzahl von immer noch innovativ wirkenden Begriffen. Wie das „Kapital“ auf andere Weise gelesen und die Theorie auf andere Weise zur Geltung gebracht werden kann, das läßt sich aus „Das Kapital lesen“ lernen.
Zum Schluß sei die Hoffnung geäußert, daß der Herausgeber alsbald weitere Bände der Gesammelten Schriften folgen läßt und in sie auch Texte aufnimmt, die in jüngerer Zeit aus dem Nachlaß Althussers herausgegeben wurden („Initiation à la philosophie pour les non-philosophes“, 2014; Être marxiste en philosophie, 2015).
* Erweiterter und überarbeiteter Text auf der Grundlage der Rezension.