Was passiert, wenn sich »technophile« Eliten der Idee einer direkten Demokratie bemächtigen – mit dem Ziel, die Korrumpiertheit der politischen Machteliten zu bekämpfen? Das Resultat ist ein »antipolitischer« Reflex, wie Jacques de Saint Victor in seiner spannenden Studie »Die Antipolitischen« schreibt. Es handelt sich um eine Analyse des anti-institutionellen Populismus 2.0 und der Systemverdrossenheit im Zeitalter der »digitalen Polis«. Dazu kommt ein kurzes und äusserst prägnantes Nachwort von Raymond Geuss, das dem Büchlein dazu verhilft, nicht an der Oberfläche zu bleiben. Ein lesenswertes Buch.
Um den »technophilen« Populismus zu analysieren, wählt de Saint Victor das Beispiel Italien, das im 20. Jahrhundert ein politisches Ideenlabor (im guten wie im schlechten) ohne seinesgleichen darstellt, so der Autor: Was in Italien passiert, und bereits eine gut sichtbare Ausprägung angenommen hat, keimt auch im restlichen Europa. In der Tat haben die internetaffinen Piraten-Parteien nördlich der Alpen signifikant schwächeren Zulauf als der Internet-Populismus in Italien, und so könnte es wirklich sein, dass die Entwicklung der Protestkultur in Italien Lehren für den Norden bereithält.
Dazu beigetragen, dass der technophile Populismus in Italien zu einem mächtigen politischen Akteur wurde, hat vor allem Beppe Grillos seit den 80er-Jahren währender Kampf gegen das Establishment, und nicht zuletzt der Wahlerfolg von Grillos 2009 gegründeter Partei »MoVimento 5 Stelle« bei den Parlamentswahlen von 2011. Seit diesen Jahren prognostiziert Beppe Grillo eine Tabula rasa à la 1789, die hervorgehen wird aus der Zusammenkunft von der Krise des Kapitalismus, Grillo meint den post-Lehman’schen Kapitalismus, und einer sich abzeichnenden Internetrevolution, in welcher die sozialen Medien die existierenden politischen Diskussionsforen und Entscheidungsverfahren grundlegend verändern werden. Verändern bedeutet für Grillo verbessern, so wie »Google« oder »Apple« ebenfalls von sich behaupten, die Welt »verändern« zu wollen – eine Strategie, die, wie das Buch zeigt, aus verschiedenen Gründen fragwürdig ist.
Die grundlegende Veränderung, die Grillo herbeiführen möchte, ist erst einmal »alle Parlamentarier nach Hause zu schicken«. Für dieses Programm steht das V in MoVimento, »vaffanculo«. Grillo ist der am erfolgreichsten sich profilierende Akteur einer »Bewegung, die auf der Welle der Systemverdrossenheit surft«. Nach Jahren der Showpolitik sehnen viele der Protestwähler eine Veränderung herbei. Aber welche Veränderung? Die These von de Saint Victors Analyse lautet, dass »[s]elten seit dem Faschismus […] eine Bewegung, die die repräsentative Demokratie, gemäss ihrer theoretischen Konzeption ab 1789, infrage stellte, so viel Zustimmung erfahren« hat. Die »Antipolitischen« lehnen somit vor allem den Parlamentarismus, mit dem angeblich nur das Volk betrogen wird, ab. Aber wie Raymond Geuss im Nachwort betont: Die Antipolitischen lehnen das ganze gegenwärtige System ab, haben dabei aber eigentlich keine überzeugende Systemanalyse. Zum einen, so Geuss, sind die westlichen »Demokratien« vor allem eines: Republiken, in denen die Macht auf verschiedene Instanzen verteilt ist. Diese Republiken sind antiautoritär konstruiert, so dass die Macht in ihnen auf verschiedene Instanzen verteilt sein sollte, und zusätzlich verfügen sie über eine demokratische Komponente: dass in ihnen Wahlen durchgeführt werden. Andererseits, so Geuss, sind diese republikanischen Strukturen von den »Wirtschaftseliten« besetzt – die Frage ist nun, ob deswegen alle republikanischen Institutionen per se schlecht sind, nur weil bestimmte Institutionen in einem bestimmten Setting nicht funktionieren? Muss nun das Parlament geschlossen werden, Gerichte abgeschafft werden, zugunsten von mehr direktem Einfluss der Bürger oder nicht vielmehr an dieser Verstrickung von Politik und der gegenwärtigen Wirtschaftsform etwas verändert werden? Geuss’ Antwort ist eindeutig: Solange sich nichts an der Eigentumsordnung ändert, wird wenig passieren. Auch das Bestreben, mehr Transparenz und mehr direktdemokratische Unmittelbarkeit in die Politik zu bringen, würde das eigentliche Problem nicht wirklich tangieren.
Zurück nach Italien. Dort versucht der M5S unter Grillo den Weg zu gehen, der vielleicht alles nur noch schlimmer macht. Das von Jacques de Saint Victor zusammengetragene Material ist spannend und kann als Fallstudie durchgehen. Es zeigt, dass hinter der Fassade des Demokratisierers Grillo ein Autokrat mit Sinn fürs Geschäftliche steckt, von de Saint Victor treffend als »postmoderner Savonarola« bezeichnet. Zusammen mit dem Internetunternehmer Roberto Casaleggio hat Grillo das Buch »Siamo in guerra« (»Wir befinden uns im Krieg«) geschrieben und einen Blog ins Leben gerufen, auf dem er gemäss der interaktiven Devise seine Antipolitik formiert: Die Leser des Blogs, die wohl auch Grillos Wähler sind, weisen auf Probleme hin und Grillo betrachtet sich als deren Multiplikator. Ausgewertet wird der Blog von Casaleggios Internetfirma. Grillo ist Alleinbesitzer des Blogs, und demgemäss besitzt seine »Nicht-Partei« – wie Grillo seinen M5S nennt – auch »Nicht-Statuten«, was heisst: Grillo alleine kann sie definieren. Und der Blog bestimmt schliesslich über eine gesamte Fraktion. Wer von den Parlamentariern, die Grillos Partei angehören, vom Blog abweicht oder die undemokratischen Strukturen von M5S kritisiert, wird abgestraft und exkommuniziert. Die Wiedereinführung dieser sonderbaren Form des imperativen Mandats mag konsequent sein vor der Annahme des anti-institutionellen Populismus, welcher besagt, dass im politischen System des Parlamentarismus ein »souveränes Volk« vom »inneren Feind«, nämlich den Eliten verraten wird. Aber die Politik wird dadurch nicht demokratischer, im Gegenteil. Die »nicht überzeugende Systemanalyse« der Antipolitischen verleitet diese dazu, alle Macht(eliten) zu verurteilen – und so proklamieren sie »das Ende der Politik als Mittel zur Bekämpfung ihrer Auswüchse«. Mit dem Ende der Politik wäre aber eines immer noch möglich: über das eigene Vermögen zu schweigen, so wie Beppe Grillo, der bis heute nicht offengelegt hat, auf wie viele Millionen sich sein Privatvermögen beläuft und wie er seine »Nicht-Partei« finanziert. Am Schluss ist es Grillo, der über die Inhalte seiner Partei entscheidet.
Gegen die verkrusteten Eliten wird nun die vermeintlich positive Eigenschaft der Unmittelbarkeit der direkten Demokratie in Stellung gebracht. Dabei spielt die Fiktion »digitale Polis« oder »digitale Agora« eine entscheidende Rolle. Das Netz verkürze die Wege, was schliesslich zur »digitalen Agora« führe, in welcher endlich jeder seine Meinung äussern kann und diese auch erhört wird. Das Web 2.0 tritt als »Märchenprinz« auf, der Dornröschen – die schlummernde direkte Demokratie – weckt. Allerdings verschleiern die Antipoltischen, so de Saint Victors entscheidender Einwand, dass direkte Demokratie nicht nur ein Akt der Volksabstimmung ist, sondern ein »Wahlprozedere«, das mit Diskussionen, Stellungnahmen, weiterführenden Diskussionen usf. auf einen längeren Zeitraum hin ausgerichtet ist, als etwa das allabendliche Klicken und Häkchen-Setzen am Bildschirm. Aber grade auf diesen allabendlichen Klick hin soll der Akt der Volksabstimmung verabsolutiert werden. Die Antwort auf die politische Vermittlung durch korrupte Eliten ist hier ein vollständiger Diskussionsverzicht, zugunsten einer fragwürdigen Unmittelbarkeit des Urteils. Wer würde überhaupt die Fragen formulieren, über die abgestimmt wird, etwa Grillos Blog? Grillo jedenfalls schlug vor, dass die Wähler beispielsweise entscheiden könnten, ob sie lieber funktionierende Krankenhäuser haben möchten oder gegen Libyen in den Krieg ziehen wollen. So spricht de Saint Victor von der »Mausklick-Demokratie« als der schlimmsten Variante einer »kapriziösen Demokratie«, in welcher man sich aktuellen Stimmungslagen hingibt: Was passiert, wenn unmittelbar nach einem brutalen Mord eine Abstimmung darüber geführt wird, ob die Todesstrafe wieder eingeführt werden soll?
De Saint Victor hält fest, dass ungelenkte Debatten, in denen jeder und jede mitreden dürfen, sich entweder durch Apathie oder Hysterie auszeichneten, aber nicht dadurch, dass sie wesentlich besser sind (oder zwingend schlechter), als die an anderen Orten geführten Debatten. Zum einen ist es in vielen Netz-Debatten durch die »digital gesteuerte Endogamie« des Netzes kaum wahrscheinlich, dass differenzierte Meinungen vertreten werden. Es gibt kaum Durchmischung unter den Lesern von Blogs und den Followern von Tweets. Und wie die Kommentarmöglichkeit bei Tageszeitungen zeigt, führen die dort ausgetragenen Kämpfe direkt in eine »hochturbulente Konfliktzone«, in welcher fast alles gesagt werden kann, aber kaum so etwas wie ein produktiver Meinungsaustausch oder Reflexion stattfindet.
Das Internet vermag die Revolution vielleicht nicht herbeizuführen. Auch mag durch das Internet noch keine institutionell relevante Verbesserung der politischen Wirklichkeit möglich sein. Ernst genommen werden müssen aber die Tendenzen, welche sich in der Bewegung der Antipolitischen und Technophilen realisieren. Die zentrale Frage stellt am Ende seines Aufsatzes Raymond Geuss: Wenn es wahr ist, dass die Erfolge der antipolitischen Bewegungen in Europa auf einer »gewissen, wenn auch verkürzten und verzerrten, Wahrnehmung wirklicher Missstände beruhen, und dass sie gewisse menschliche Energien freisetzen« so lautet die entscheidende Frage, »wie können diese potenziell politischen Energien und Affekte in die Lage versetzt werden, fortschrittliche, gesellschafts- und systemkritische Dynamiken zu initiieren?«
Was dieses lesenswerte Büchlein zeigt, ist vor allem, wie unklar die Bedeutung von Demokratie in unseren demokratisch oder zu wenig demokratisch organisierten Gesellschaften eigentlich ist. In der gegenwärtigen Situation ist wenig geholfen damit, sich auf »fragwürdige Restbestände« der griechischen Demokratie zu berufen und das demokratische Märchen von der erstrebenswerten Unmittelbarkeit und Freiheit des Volkswillens in der modernen Gesellschaft weiterzuerzählen. Gleichwohl die Autoren keine Lösungen anzubieten vermögen, das Büchlein schafft es, eine Debatte, die von der Verwendung unscharfer Begriffe lebt, etwas zu klären und mag den Leser vor einer unvorsichtigen Inanspruchnahme von politischen Ideen in Zukunft bewahren. Das ist nicht zuletzt das Verdienst von Raymond Geuss’ Beitrag »Republik, Markt, Demokratie«. Ohne dieses Nachwort würde de Saint Victors Text weniger Tiefe besitzen, denn de Saint Victor begnügt sich oft mit der Reihung von haarsträubenden Anekdoten und mit Andeutungen von ideengeschichtlichen Exkursen, die aber manchmal unfertig wirken. Man muss diese beiden Texte als zusammengehörig betrachten, denn Geuss’ vergleichsweise abstrakte Argumentation funktioniert besonders gut vor dem Hintergrund von de Saint Victors materialreicher Studie.
Jacques de Saint Victor: Die Antipolitischen. Mit einem Kommentar von Raymond Geuss. Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt. Hamburger Edition, 2015, 110 Seiten.