In den Siebzigern habe sich eine ähnliche Theorie- und Publikationsflut über eine wachsende Leserschaft ergossen wie um 1800, schreibt Philipp Felsch in seiner historischen Aufarbeitung der Theorieaffinität der Zeit zwischen 1960 und 1990. Die Bedingung dafür findet er beide Male in einer veränderten Verlagslandschaft. Während Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts die zunehmende Industrialisierung auch eine Produktionssteigerung bei Druckerzeugnissen erlaubte – wobei das aufstrebende Bürgertum das nötige Publikum stellte –, erfüllten im 20. Jahrhundert der Offsetdruck und das aufkommende Paperback diese Funktion. Anfang der sechziger Jahre eroberte das Paperback den Markt und führte zu einer Popularisierung insbesondere der Theorielektüre. Die sogenannte Suhrkamp-Kultur war geboren.
Felsch folgt in seiner Aufarbeitung jedoch sinnigerweise den Spuren des Merve-Verlags, der gerade aufgrund dieser veränderten Bedingungen überhaupt erst Bekanntheit erlangen konnte. Die tiefen Lebenshaltungskosten in Westberlin und der angesagte Kampf gegen das bürgerliche Copyright ermöglichten einem Piratenverlag Phone Number Trace , der hauptsächlich Raubdrucke für ein theorieaffines Publikum produzierte, eine prekäre Existenz. Sammlungen essayistischer Kurztexte und Interviews waren charakteristisch für die Merve-Paperback-Theoriebändchen, die Kultstatus erlangen sollten. Im Wohnzimmerverlag Merve verbanden sich, durchaus zeittypisch, Arbeit (als publizistische Praxis im Bereich Theorie) mit privaten Sozialexperimenten und (öffentlicher) Agitation.
Der Entstehung des Merve-Verlags 1970 ging jedoch eine rund zehnjährige Geschichte voraus, welche die Veränderungen in der intellektuellen Landschaft der BRD spiegelt. Der Verlagsgründer und langjährige Leiter, Peter Gente, gehörte zu einer Studierendenschaft, die in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern auf die Schriften Adornos stiessen, der 1965 in Frankfurt wörtlich die „Zeit der Theorie“ (S. 49) gegen den „Akademismus der Philosophie“ (S. 59) ausrief. In einer Volte gegen Marx’ Revolutionshoffnungen in den Feuerbachthesen plädierte Adorno dafür, sich einstweilen der Theorie zuzuwenden. „Nur Theorie, darauf lief seine dialektisch vertrackte Argumentation hinaus, die nicht unmittelbar auf Veränderung abziele, sei zu Veränderung überhaupt in der Lage“ (S. 48), fasst Felsch den Grundgedanken von Adornos Vorlesung über negative Dialektik zusammen. Parallele Entwicklungen im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), der von seiner Mutterorganisation, der SPD, fallengelassen worden war, begünstigten diese Haltungsänderung. „Angesichts von Gewerkschaftsfunktionären, die stolz darauf seien, keine Bücher zu lesen, angesichts der SPD, die sich dem Kleinbürgertum an den Hals werfe, müsse der Weg der Neuen Linken in den Weinberg der Texte führen“ (S. 49), referiert Felsch die Rede der SDS-Delegierten Elisabeth Lenk an der XVII. ordentlichen Delegiertenkonferenz im Oktober 1962. „Keine Revolution, so lautete das Credo dieser Jahre, ohne Theorie der Revolution, die weder Marx noch seine Nachfolger geliefert hatten.“ (S. 50)
Der unbedingte Wille, sich mittels Theoriearbeit in den Dienst der Revolution zu stellen, bedeutete jedoch die „langsame Abwendung von der Kritischen Theorie“ der Frankfurter Schule und die Hinwendung zur „verschütteten Wahrheit der Arbeiterbewegung“ (S. 51). Dem besessenen Leser Gente, der selbst kaum publizierte, kam die Archiv-Arbeit gelegen: „Als ‚Enzyklopädist des Aufruhrs‘ versorgte er Berlins studentische Linke mit gefährlichen Lesestoffen.“ (S. 51) In dieser Zeit machte Gente, der seine „Sammelleidenschaft“ (S. 53) vor allem auch in Richtung Frankreich ausgeweitet hatte, erste Erfahrungen als Herausgeber. Den Grundstein für den späteren Merve-Verlag legte Gente mit seiner Frau, Merve Lowien, nach der der Verlag benannt ist, und den Gründungsmitgliedern Rüdiger Möllering und Michael Kwiatkowski 1970 mit der Publikation einer dünnen Schrift Louis Althussers: Wie sollen wir „Das Kapital“ lesen?. Im leergefegten Westberlin, das von vielen Bewohnern nach dem Mauerbau verlassen worden war, widmete sich das Verlegerkollektiv seiner asketischen Theoriearbeit. Dazu gehörten neben der verlegerischen Arbeit in einem Kollektiv, das „kein Profitunternehmen“ ist, unter anderem auch „Selbstagitation“, wie es auf dem Einband der frühen Merve-Bände (im Gegensatz zu den späteren) zu lesen ist. Im Sog der Neuen Linken verfolgte der Merve-Verlag das Ziel, „dem dogmatischen deutschen Kadermarxismus mit Impulsen aus Italien und Frankreich auf die Sprünge zu helfen“ (S. 74). Das führte sogar so weit, dass im Schlepptau des italienischen potere operaio Ausflüge in die Wolfsburger VW-Werke unternommen wurden, um die italienischen Gastarbeiter in Anlehnung an die Streiks in den Turiner Fiat-Werken zur Niederlegung und gar zur Ignorierung der Arbeit zu bewegen.
Einen Bruch markierte – neben privaten Veränderungen im Verlagskollektiv (Peter Gente trennte sich von seiner Frau, Merve Lowien, und lebte fortan mit Heidi Paris zusammen) – der Deutsche Herbst 1977 sowie die Zerschlagung des potere operaio und seiner Nachfolgeorganisationen. Der Import französischer Autoren, die sich aufgrund enttäuschter Hoffnungen besonders vehement an alten Überzeugungen abarbeiteten, fand in Deutschland nicht nur bei den Merve-Verlegern Anklang. Damit änderte sich auch das Erscheinungsbild des Merve-Verlags. Waren die Raubdrucke der frühen Siebziger noch grau gewesen, erschien der „Theorie-Bestseller“, den der Verlag mit Lyotards Intensitäten landete, in „Neonpink“ (S. 107). Die vielfältige „Kritik an der Repräsentation“ (S. 105), die das Denken ästhetisierte und den Weg von Frankreich über den Merve-Verlag nach Deutschland fand, ebnete auch dort das Feld für das „Ende der Geschichte“ (S. 157), das die französischen Apokalyptiker vom Hegel-Interpreten Kojève bis Baudrillard längst heraufbeschworen hatten. Damit fielen auch die revolutionären Hoffnungen, bevor sich die Theorie, das schwierige Denken, in den achtziger Jahren zusammen mit dem Merve-Verlag von dezidiert politischem Engagement weg endgültig in Richtung Kunst und Nachtleben verabschiedete.
Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990. München: C.H. Beck, 2015.