„Care Revolution“?! Mit dem Begriff „Care“ meint Gabriele Winker Sorgearbeiten – d.h. sich um sich selbst oder sich um andere kümmern. Care meint gleichzeitig auch einen Teil gesellschaftlicher Arbeit in den Bereichen von Hausarbeit, Erziehung, Gesundheit, Pflege, Assistenz, Bildung, Wohnen oder Sexarbeit. Gesellschaftliche Arbeit, die oft unsichtbar ist, meist von Frauen geleistet und häufig nicht oder schlecht entlohnt wird. Für Winker geht es in diesem Buch darum, die Organisation dieser Arbeit und die damit verbundenen sozialen Ungleichheiten im Kapitalismus zu beschreiben. Winker argumentiert, dass viele Menschen beim Versuch, für sich und andere zu sorgen, an die Grenzen ihrer Kräfte geraten und dieses Scheitern oft als individuelles Versagen empfinden. Zentraler Bezugspunkt dieses Buches ist die Analyse, dass diese Geringschätzung der Sorgearbeit keine persönliche Fehlleistung ist, sondern immanenter Teil kapitalistischen Wirtschaftens und Folge einer neoliberalen Krisenbearbeitung. Für Winker ist es daher notwendig einen grundlegenden Perspektivenwechsel im Umgang mit menschlichen Bedürfnissen zu vollziehen – „nicht weniger als eine Care Revolution“ (Klappentext). In diesem Buch entwickelt Winker aus unterschiedlichen Perspektiven Schritte in eine solidarische Gesellschaft, die nicht auf dem Mechanismus der Profitmaximierung basieren, sondern auf dem Wohlbefinden aller. Die Perspektive stellt die Sorge umeinander ins Zentrum. Ziel dieser Care Revolution sei eine Welt, „in der sich Menschen nicht mehr als Konkurrent_innen gegenüberstehen, sondern ihr je individuelles Leben gemeinschaftlich gestalten“ (Klappentext).
Dieses Buch ist allerdings weniger als ein ideologischer Aufruf zur Revolution zu verstehen, sondern vielmehr als eine Analyse der derzeitigen kapitalistischen Krise und der daraus abzuleitenden Konsequenzen. Daher bezieht sich dieses Buch auf empirisch gestützte Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Tätigkeit der Autorin und auf ihre politischen Erfahrungen.
Zur Autorin
Von 1994 bis 2003 war Winker Professorin für Arbeits- und Sozialwissenschaften an der FH Furtwangen. Seit 2003 leitet sie als Professorin für Arbeitswissenschaft und Gender Studies der TU Hamburg-Harburg den Arbeitsbereich „Arbeit–Gender–Technik“. Darüber hinaus ist sie Mitbegründerin des Feministischen Instituts Hamburg, welches sich als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis, Theorie und Politik versteht. 2009 entwickelte sie zusammen mit Prof. Dr. Nina Degele einen in der deutschsprachigen Wissenschafts-Community viel beachteten und rezipierten intersektionalen Mehrebenenansatz. Dieser Ansatz macht es theoretisch und methodologisch möglich, die Verwobenheit von Geschlecht und anderen Differenzierungskategorien wie Klasse, Ethnie, Körper oder Alter zu beschreiben und die damit verbundenen Diskriminierungen z.B. gegenüber Erwerbslosen, Alleinerziehenden oder ethnischen Minderheiten offenzulegen. Im März 2014 organisierte sie mit vielen weiteren Mitstreiter_innen die internationale Aktionskonferenz „Care Revolution“ in Berlin mit insgesamt über 500 Teilnehmer_innen. Eingeflossen sind in das Buch daher auch die umfassenden Diskussionen und Ergebnisse der dreitägigen Konferenz.
Zum Inhalt
Im ersten Teil des Buches arbeitet Winker heraus, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (u.a. prekäre Arbeitsbedingungen, Ökonomisierung des Sozialen), häufig zur mangelnden Selbstsorge und zu einer grossen Belastung in der Sorge um andere führen. Winker zeigt auf, dass die derzeitige Familien-, Pflege- und Sozialpolitik konsequent neoliberal ausgerichtet und Mittel einer kapitalistischen Wirtschaftspolitik ist. Winker hebt hervor, dass das Scheitern von Sorgearbeitenden kein individuelles Scheitern ist, sondern die Folge kapitalistischer Arbeitsorganisationsmodelle und einer neoliberalen Krisenregulation, die in Sparmassnahmen und in der Verschlechterung der Bedingungen in KiTas 615-544-0631 , Schulen, Krankenhäusern, Altenheimen sowie in einer schlechten Entlohnung, in rechtlosen Arbeitsbedingungen, im Rationalisierungsdruck und in inhumanen Arbeitsbedingungen zu Ausdruck kommen (33-81). Deutlich wird in Winkers weiteren Analyse, dass der Zeitdruck, welcher in der Erwerbsarbeit vorherrscht, sich auch auf Sorgearbeiten überträgt und dass Sorgearbeiten, wie zuhören, streicheln, zärtlich sein, Freundschaften pflegen oder Zeit für Musse haben, sich allerdings nicht einfach rationalisieren oder wie am Fliessband erledigen lassen (82-89). Hier beleuchtet Winker einen oftmals unsichtbaren Bereich in den derzeitigen sozialpolitischen Debatten und Analysen: erschöpfte Sorgearbeitende. Denn in dem Prozess des profitgeleiteten Wachstums wird nicht nur das „Ökosystem der Erde zerstört, sondern gleichzeitig der Mensch“, schreibt Winker. Die Musse ist hierbei „zum Fremdwort geworden“, so Winker.
Das folgende Kapitel zur Krise der sozialen Reproduktion beschreibt eine Kapitalismusanalyse aus intersektionaler Perspektive (91-118). Hierbei verbindet Winker die Kritik der politischen Ökonomie mit feministischen und intersektionalen Theorieansätzen und belegt die Transformation kapitalistischer Krisenerscheinungen mit empirischen Untersuchungen. Im Wesentlichen beschreibt sie in diesem Kapitel, dass in einer kapitalistischen Gesellschaft nur dort investiert und gegen Lohn gearbeitet wird, wo Profite erwartet werden, und dass Sorgetätigkeiten aus kapitalistischer Verwertungslogik scheinbar nicht gewinnträchtig sind und als Kostenfaktor aufgefasst werden. Auch hier beleuchtet Winker einen weiteren blinden Fleck in der aktuellen Kritik der politischen Ökonomie: Dadurch, dass Sorgearbeiten nicht entlohnt werden, tragen sie zur Gewinnmaximierung bei, weil Kindererziehung, Kochen, Waschen, Putzen oder Pflegen „gratis“ oder prekär geleistet wird. Eine effiziente Produktion von Waren ist nur möglichen, wenn die Lohnabhängigen gesund, ausgeruht und mit der nötigen Disziplin zur Arbeit erscheinen. Das heisst, dass ohne Reproduktion keine Produktion möglich ist. Paradoxerweise scheint die derzeitige kapitalistische Krisenregulierung ihre eigene Existenzgrundlage durch Sparmassnahmen im Erziehungs-, Bildungs- und Gesundheitsbereich zu unterminieren. Diese Entwicklung hat für Winker ein Ausmass erreicht, bei dem die Reproduktion der Arbeitskraft selbst leidet, und daher bezeichnet sie diese Entwicklung als Krise sozialer Reproduktion. Mit dieser Denkweise knüpft Winker an den feministisch-marxistischen Debatten in den 1960er, 1970er Jahren zur Arbeitswerttheorie von Reproduktionsarbeit an und aktualisiert deren Bezugsrahmen.
Diese politisch gedachte Theorie kommt vor allem im letzten Teil des Buches zum Ausdruck, in dem Winker derzeitige „Care-Initiativen“, Chancen eines solidarischen Handelns und die „Care Revolution“ als Transformationsstrategie beschreibt (119-178). Konzeptuell entwickelt Winker hierbei die Idee, Sorgearbeiten ins Zentrum einer gesellschaftlichen Alternative zu stellen. Eckpunkte dieser Strategie sind die Vernetzung von Care-Aktivist_innen, die Realisierung von Zeitsouveränität und Existenzsicherheit mittels Arbeitszeitverkürzungen und letztlich einer Demokratisierung und Selbstverwaltung des Care-Bereiches sowie gesellschaftlicher Produktionsmittel. Diese Überlegungen sind, laut Winker, „als Anregung für weiterführende Diskussionen gedacht“. Denn bei der derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklung wird deutlich, „dass der krisenhafte Kapitalismus selbst die Systemfrage und den Übergang in eine solidarische Gesellschaft auf die Agenda setzt, indem er unfähig ist, die Befriedigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse zu ermöglichen“ (14).
Zur gesellschaftlichen Rezeption des Buches
Scheinbar nimmt die Krise der sozialen Reproduktion nicht nur Winker mit ihrer Analyse wahr, sondern ausgehend von der 2014 in Berlin stattgefundenen Aktionskonferenz „Care Revolution“, unter dem Motto „Her mit dem guten Leben! Für alle weltweit!“, hat sich inzwischen ein internationales Netzwerk mit über 70 Initiativen, Gewerkschaftsgruppen, Vereinen, NGOs usw. zusammengeschlossen. Gemeinsam strebt dieses Netzwerk neue Modelle von Sorge-Beziehungen und eine Care-Ökonomie an, welche die Bedürfnisse der Menschen ins Zentrum stellen. Spannend bleibt die Frage, ob ein solcher Zusammenschluss die gesellschaftliche Wirkmächtigkeit entfalten kann, um Rahmenbedingungen des Zusammenlebens mitzugestalten.
Fazit
Dieses Buch liefert nicht nur Argumente, warum eine kapitalistisch organisierte Gesellschaft ihre eigene Existenzgrundlage unterminiert, weshalb das kapitalistische Wirtschaften ein absurdes Theater ist und warum wir uns nicht mehr weiter so wie bisher (ver)sorgen können, sondern Winker zeigt auch ein Denkmodell auf, das die Grundlagen des kapitalistischen Profitmachens von der Seite der Reproduktion in Frage stellt. Insofern sei dieses Buch all jenen empfohlen, welche versuchen möchten, den Kapitalismus von der Reproduktion her zu denken.
Ein Leitfaden, wie eine Revolution anzuzetteln sei, ist dieses Buch gewiss nicht. Das wäre auch vermessen, denn eine grundlegende Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse kann nur aus dem Begehren ihrer Mitglieder heraus resultieren. Gabriele Winker bezieht sich auf das, was Rosa Luxemburg 1918 sagte: „Die revolutionäre Tat ist stets, auszusprechen das, was ist.“ Und dies gelingt Winker anschaulich, denn sie zeigt auf, dass die Krise sozialer Reproduktion, die gefühlte Vereinzelung, die Erschöpfung durch Erwerbs- oder Sorgearbeiten kein individuelles Problem ist, sondern grundlegender Mechanismus der Vernutzung von Arbeitskräften in der kapitalistischen Produktionsweise.
Gabriele Winker: Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft, Bielefeld: Transcript Verlag, 2015, 208 Seiten, ISBN 978-3-8376-3040-4.