«Allgemeine Geschichte»: Nur schon diese Bezeichnung! Wenn ich dieses Fach wählte – so mein zu Beginn des Studiums vor mir selbst verheimlichter und erst später eingestandener Gedanke –, würde ich endlich wissen, erstens, wie alles war, zweitens, wie alles gekommen ist, und demnach, drittens, weshalb alles so ist, wie es ist. Ein Gedanke, der eine ziemlich unverhohlene Variante einer ‹totalen Geschichte› im Sinne eines abschliessenden, umfassenden, ja vollständigen Wissens darstellt. Derart Unbescheidenes und Unerreichbares also schwebte mir bei meiner Studienfachwahl vor, nicht zuletzt zur nachhaltigen Überwindung sämtlicher dem Alltag entsteigender Irritationen, die eine Person von noch schlecht ausgebildetem lebensweltlichen Verständnis sowie von mangelnder Menschenkenntnis fortgesetzt erfuhr.
Während des Studiums der «Allgemeinen Geschichte» wurde diese Idee, so stillschweigend und unausgesprochen sie vorhanden gewesen war, allmählich gründlich und letztlich unmerklich restlos demontiert und getilgt. Die theoretische Entlarvung übernahm zu einem nicht geringen Teil der Text «L’illusion biographique» des französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Diesen Aufsatz las ich aber erst im Zuge der Findung eines Lizentiatsthemas, sozusagen als nicht intendierten Abschluss eines semesterüberspannenden Prozesses, der mit den ersten Lehrveranstaltungen eingesetzt hatte:
Nicht nur war der aufmerksamen Studentin bald klar geworden, dass das Material, worauf sich die Historikerzunft stützt, dem Zufall und zahlreichen Kontingenzen vielfacher (politischer, sozialer, ökonomischer, institutioneller, klimatischer, logistischer etc.) Natur geschuldete ‹Überreste› und daher nur eine arg dezimierte Auswahl des eigentlich Möglichgewesenen an Quellen ist, sondern sie begriff auch allmählich, dass das, was die Historikerin mit den Quellen macht, geprägt ist von ihrem eigenen Vorwissen, von persönlichen Interessen, wissenschaftlichen Moden und manchmal bewusster, manchmal intuitiver Auswahl. Was, wie sie schliesslich auch einsah, bloss in eine (1) argumentativ vorgetragene Interpretation der Vergangenheit mündet, die ungezählte andere, mit mehr oder weniger Aufwand erreichbare, Interpretationen nicht bedient. Kommt hinzu (dies aber erst eine Lektion für Fortgeschrittene), dass dann diese eine Variante entlang vorgegebener wissenschaftspublizistischer Strukturen vorgetragen, d.h. meist aufgeschrieben wird, und gefangen in Erzählkonventionen ist, ganz zu schweigen von den Zwängen linguistischer Tropen, deren herausragende Eigenschaft ihre zeitliche Beharrlichkeit ist, welche auch die Generation der Historikerinnen und Historiker, zu der die Studentin zählt, nicht brechen können wird.
Damit aber noch nicht genug: Denn im Weiteren lernte sie auch, dass im Umgang mit einem ganz bestimmten Quellenmaterial äusserste Vorsicht geboten ist. Nämlich dann, wenn es sich um persönliche Erinnerungen handelt, die zu den unzuverlässigsten Zeugnissen über die Vergangenheit überhaupt zählen. (In diese Gattung reiht sich, nebenbei bemerkt, auch die eingangs geschilderte Idee eines absoluten Verständnisses der Geschichte als Motivation für meine Studienfachwahl ein. Obgleich ich sicher bin, dass diese Erinnerung so stimmt. Ehrenwort!) Diese Erinnerungen also, insbesondere diejenigen, die einer Historikerin mündlich vorgetragen werden, leiden im Speziellen unter mannigfaltigen Beeinflussungen dessen, was den Namen einer Zeugenschaft verdient hätte. Zum Beispiel schafft die Fragerin eine ungewöhnliche Situation, indem sie – mit diffuser Autorität und ungewohntem Interesse – dazu auffordert, über Vergangenes Auskunft zu geben, was sie anschliessend geschichtswissenschaftlich auszuwerten verspricht. Ein klarer Fall von Unschärferelation: Sie stört das Experiment. Ebenso bedeutet die Bitte zur Erzählung der ‹eigenen Geschichte› schon die implizite – und natürlich nicht deklarierte – Vorannahme, dass es so etwas wie eine Lebensgeschichte überhaupt gibt. Dieses Problem hat Pierre Bourdieu in seinem vierseitigen Aufsatz «L’illusion biographique» von 1986 zeitlos, kurz, aber schmerzhaft beschrieben: «Parler d’histoire de vie, c’est presupposer au moins, et ce n’est pas rien, que la vie est une histoire (…).» Nicht nur kauft man sich die kohärente Einheit der Einzelerlebnisse durch die Hypostasierung ‹des Lebens› ein, sondern diese Erlebnisse fallen auch mit der Geschichte d.h. mit der Erzählung darüber zusammen.
Die Lebensgeschichte wird zum Lebensweg oder dem Werdegang, vielleicht auch zum Orientierungslauf und der Reise, die geprägt ist von Abzweigungen, Kreuzungen und zu überwindenden Hindernissen. Jedenfalls wird diese chronologisch in aufeinanderfolgenden Etappen bewältigt oder Station für Station abgehakt, die etwas Intentionales, Lineares und Logisch-Aufeinanderfolgendes transportieren. Nur so wird der Lebenswandel zum Erklimmen der Karriereleiter oder überhaupt zu einer (meist erfolgreichen) Laufbahn. Die Überführungen zwischen den erzählten Etappensiegen und Bergpreisen bilden dann Redewendungen wie «bereits in jungen Jahren» oder «immer schon», womit eine argumentative Strenge in die Schilderungen über das Leben eingeführt wird, welche keinen Zweifel an der Zielgerichtetheit, ja der Unausweichlichkeit der Abfolge vergangener Ereignisse lässt. (Für meinen Fall hiesse das: Ich habe Geschichte als Schulfach immer schon gemocht, von daher erklärt sich die Studienfachwahl, auch das Lizentiat in Geschichte und selbstverständlich die anschliessende geschichtswissenschaftliche Dissertation und selbstredend desgleichen meine Heirat mit einem Historiker. Biographischer Determinismus. Nach Wunsch jederzeit abrufbar.)
Nicht nur läuft man Gefahr, zur Advokatin der eigenen Geschichte zu werden, sondern wird notwendigerweise automatisch zum «idéologue de sa propre vie». Signifikante Begebenheiten werden ausgewählt, Konsequenzen und Abfolgen erläutert und Gründe und Ziele erklärt, wodurch ein artifizieller Sinn retrospektiver und prospektiver Art gestiftet wird. Das Reden über die eigene Vergangenheit wird zur Übung, eigene und fremde Erwartungen erzählenderweise zu erfüllen. Der Bericht über die vergangenen Erfahrungen wird zur logischen Basis des Heute (und Morgen). Das Subjekt und das Objekt der Biographie fallen in eins: der Sinn der Existenz.
Garantiert wird diese Sinnfälligkeit einer Lebensgeschichte durch die Selbstidentität der Person, deren Fundament laut Bourdieu mit der Namensgebung gelegt wird. Nicht zufällig bezeugen wir die Authentizität unserer Anwesenheit mit der Unterschrift. Der Name, Basis jeder Erzählung, fällt mit dem juridischen Selbst in eins, welches in polizeilicher und juristischer Manier Auskunft gibt (und letztlich keinen Verdacht erwecken möchte). Zunächst noch ohne Eigenschaften, knüpfen sich an ihn die offiziellen Zuschreibungen, bürokratisch erfassbare, staatlich kontrollierte und abgesegnete Informationen und somit auch die Eckdaten der Lebensgeschichte. Der Name ist die Quintessenz des Zivilstandes; er stiftet durch die Zeiten und sozialen Räume hindurch Ordnung, er erlaubt erst ein Curriculum Vitae. Als «identité pratique» wird er von der Gesellschaft eingefordert, womit gleichzeitig eine Wesenseinheit postuliert ist, die Konstanz und somit auch Verantwortung impliziert: «c’est à dire prévisible ou, à tout le moins intelligible, à la manière d’une histoire bien construite (par opposition à l’histoire contée par un idiot)». Der Name transzendiert die historischen Fluktuationen.
Eine soziologische Studie nun über die Geschichten, die das Leben schrieb, erschöpft sich laut Bourdieu nicht darin, die sozialen Prozesse zu analysieren, die sowohl die Forscherin als auch die Auskunftgeber und ihre Berichte prägen. Sondern die kritische Analyse selbst führt zu einer Vorstellung einer «série des positions successivement occupées par un même agent» in einem Raum, der wiederum unaufhörlichen Transformationen unterworfen ist. Viel mehr als um einen gewählten Lebensweg geht es also um – zwar immer noch zeitlich aufeinanderfolgende – eingenommene und verlassene, situativ gewählte Positionen in sich verändernden sozialen Zusammenhängen. Das Ensemble von gleichzeitig belegten Positionen durch ein biologisches Individuum funktioniert als Träger von wechselnden Attributen; und die Zuschreibung der Attribute macht den Träger/das Individuum zum effizienten Akteur in unterschiedlichen Räumen. Es ist das ‹konstruierte Ich›, das agiert, und dennoch ist dieses Ich – wie Bourdieu mit André Gide sagt – «le plus irremplaçable des êtres».
Das ‹Ich› als Akteur transportiert die emanzipatorische Idee von Wahlmöglichkeiten: einerseits gegen gesellschaftlich vorgespurte Nicht-Karrieren und abgeschriebene Chancen für die so genannt sozial Schwächeren oder Bildungsfernen; andererseits gegen ein bürgerliches Modell des Aufstiegs und die damit verbundenen Wertvorstellungen. Die Emanzipationslinien verlaufen zudem auch da, wo der allgemein unterstellte Wunsch, ‹Karriere machen› zu wollen, ebenso infrage gestellt wird wie die angebliche Berechtigung zu Ressentiments, wenn sie nicht gemacht wird.
Das Selbst: eine Konstruktion und eine Unabdingbarkeit. Situativ anpassbar, Mehrfachzuschreibungen möglich, Freiheitsgrad variierend, aber dennoch immer Agent, also handelndes Ich. Auch im Erinnern der eigenen Vergangenheit sind wir Akteure und haben eine Wahl, dürfen aussuchen, weglassen, besonders hervorheben, verschweigen, bei jeder Erzählgelegenheit aufs Neue. Das Ausgesprochene hat ebenso eine Geschichte wie das Weggelassene. Notwendig ist jedoch, dass es überhaupt eine Erzählung gibt. Ohne diese existierte auch niemand, der sie hören, lesen, der darauf reagieren und nachfragen könnte. Die Erzählung über die eigene Geschichte wird zur Unhintergehbarkeit der Konstruktion eines sozialen Ich.
Pierre Bourdieu: «L’illusion biographique», in: Actes de la recherche en sciences sociales 62/63 (1986), Seiten 69–72.
Franco Bellettini
Interressant wie sich dieser Erkenntnistheoretische
Kreis schliesst . Oder um es mit Terry Eagelton
zu sagen : alles ist ideologisch begründet . Auch
die eigene Existenz . Aber was damit machen ?
Erfahrungen ohne Konsequenzen vermitteln ?