Existenz findet immer im Raum statt und hat einen Ort: Sowohl physisch-materiell wahrnehmbare als auch mental-geistige Dimensionen von Seinsformen kommen ohne Räumlichkeit nicht aus. Vielleicht gerade deswegen erscheint uns die Kategorie Raum als etwas Selbstverständliches. Während er in den Naturwissenschaften schon lange beobachtet, vermessen und analysiert wird, blieb die Aufmerksamkeit innerhalb der geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung lange marginal. Spätestens seit dem sogenannten spatial turn der 1980er-Jahre wird Raum jedoch vermehrt auf die Forschungsagenda eben jener Wissenschaften gesetzt. Eine historisch-materialistische Herangehensweise ist aber nach wie vor selten. Gerade im deutschsprachigen Raum fehlt jenseits der Auseinandersetzung einer kritischen Geografie die Rezeption von Theorien, die Raum als Produkt sozialer Praxis erforschen, nahezu komplett. Dabei könnte die Aufnahme und Weiterentwicklung von Raumtheorien, wie sie etwa durch Henri Lefebvre entwickelt wurden, vermehrt dazu genutzt werden, individuelle und kollektive Handlungsspielräume von der räumlichen Praxis her im Rahmen eines systemischen Denkens zu untersuchen und Möglichkeiten der Wissensbildung zu befragen.
Während meiner religionswissenschaftlichen Forschung konnte ich an Lefebvres Ansatz anknüpfen, als ich einerseits religiöse Phänomene von ihrer Materialität her untersuchte und Fragen der Produktion und Repräsentation methodologisch klären wollte. Andererseits inspirierte mich Lefebvre zum kritischen Umgang mit meiner eigenen Forschungspraxis, da er die wissenschaftliche Analyse immer schon als Element der Raumproduktion und damit als Teil des Forschungsgegenstandes begreift. Der Begriff der Produktion steht bei ihm in direkter Verbindung zum (marxistischen) Praxisbegriff: All das ist Produktion, was Menschen hervorbringen. Entsprechend sind nicht nur materielle Güter, sondern auch Wissen oder gar Emotionen Produkte des sozialen Raums. Dieser weist den Mitgliedern einer (neokapitalistischen) Gesellschaft Orte der sozialen Reproduktionsverhältnisse (bio-physiologische Beziehungen zwischen den Geschlechtern, den Altersstufen sowie der jeweiligen Organisation der Familie) und der Produktionsverhältnisse (Aufteilung und Organisation von Arbeit) zu, sodass Raum strukturiert und bedeutet wird. Die „biologische Reproduktion“, die „Reproduktion der Arbeitskraft“ sowie die „sozialen Produktionsverhältnisse“ beinhalten also nicht nur eine materielle Praxis, sondern ebenso verschiedene Repräsentationsformen. Erst diese garantieren nach Lefebvre einen „Zustand der Koexistenz“ innerhalb der Gesellschaft, weil sie einerseits auf einer öffentlichen und kodifizierten sowie auf einer heimlichen und unterdrückten Ebene die gesellschaftlichen Verhältnisse und Beziehungen symbolisieren. Der soziale Raum wird folglich in Wechselwirkung von unterschiedlichen Raumdimensionen produziert, die Lefebvre als „räumliche Praxis“, „Raumrepräsentation“ und „Repräsentationsräume“ bezeichnet. Die Betrachtung dieser drei Dimensionen soll hier als erste Annäherung an Lefebvres Raumverständnis dienen, wie er es in La production de l’espace von 1974 ausführt.
Die erste Dimension umfasst nach Lefebvre die räumliche Praxis (pratique spatiale), welche auch unsere Wahrnehmung des Raums (espace perçu) beinhaltet. Ändert sich räumliche Praxis und Wahrnehmung, ändert auch die Struktur des sozialen Raums. Deshalb benötigen die Mitglieder einer Gesellschaft eine gewisse „Kompetenz“ und „Performance“, um den sozialen Zusammenhalt aufrechterhalten zu können. Ausdruck finden diese Fähigkeiten in der gemeinsamen Alltagssprache: Sie stellt unterschiedliche Raumcodes zur Verfügung, die einerseits erlauben, den Raum zu lesen und zu beschreiben; andererseits gibt sie Handlungen vor, welche an einem Ort getan werden und so die Bedeutung eines Raums (re)produzieren.
Die Raumrepräsentation (représentations de l’espace), für Lefebvre die zweite und dominierende Dimension, nimmt Bezug auf Diskurse einer Gesellschaft. Mit Diskurs meint Lefebvre jegliche Sprachsysteme, die der Raumrepräsentation dienen – nebst gesprochener Sprache sind ebenfalls Karten oder Zeichnungen und damit schliesslich materielle Gegenstände gemeint. Die Raumrepräsentation konzipiert den Raum (espace conçu), weil das Wahrgenommene und Gelebte eines Raums durch die Diskurse „zerschnitten“ und „zusammengesetzt“ wird. Diese abstrakte Auseinandersetzung mit dem Raum ermöglicht, zerstreute Details der Wirklichkeit miteinander zu verbinden und unterschiedliche Räume in ihrer Gesamtheit zu erkennen.
Als dritte und letzte Dimension nennt Lefebvre die Repräsentationsräume (espaces de représentation). Sie sind „vom Imaginären und vom Symbolischen durchdrungen und haben ihren Ursprung in der Geschichte eines Volkes sowie jedes Individuums, das zu diesem Volk gehört.“ Repräsentationsräume sind als erlebter Raum (espace vécu) zu begreifen, der auf ein anderes, Drittes aufmerksam macht: auf gesellschaftliche Werte, Traditionen, kollektive Erfahrungen und Erinnerungen, die sich im sozialen Raum manifestieren. Das Einschreiben dieser Symbolismen findet innerhalb einer grossen Diversität von sozialen Räumen statt. Sie alle haben unterschiedliche Ursprünge und lassen eine Unordnung entstehen, die es verunmöglicht, den Raum vollständig zu entschlüsseln.
Die Decodierung eines sozial produzierten Raums muss immer in einem spezifischen Kontext geschehen, der durch Konventionen charakterisiert ist und bei dem von konkreten Phänomenen ausgegangen wird. Für Lefebvre gibt es entsprechend keine explizite Wissenschaft des Raums, sondern viel eher eine connaissance. Er lehnt „Wissen“ insofern ab, als dass dieses mit Ideologie verbunden ist. Im Gegensatz zur „Erkenntnis“ basiert Wissen auf einer Strategie der Reduktion: Indem ein bestimmtes Raumverständnis gewusst und vermittelt wird, bleiben Veränderungen der sozialen Verhältnisse unberücksichtigt, zusätzliche Perspektiven auf konkrete Phänomene werden ausgelassen. Vor allem die zweite Raumdimension ist häufig von Macht besetzt und verschleiert Korrelationen zwischen unterschiedlichen Phänomenen. Lefebvre verzichtet deshalb bewusst auf eine Modellierung oder Typologisierung des Raums und fokussiert viel eher auf die Untersuchung der (Re)Produktionsverhältnisse. Auf diese Weise wird es möglich, Fragen der wissenschaftlichen Deutungshoheit oder Prozesse der Naturalisierung als Aspekte der Raumrepräsentation unter Berücksichtigung der Wechselwirkungen mit den anderen Dimensionen kritisch zu beleuchten. Meines Erachtens geht es dabei weniger um eine Dekonstruktion eines Objektivitätsanspruchs, sondern viel eher um eine Verortung der wissenschaftlichen Perspektive innerhalb des sozialen Raums. Das angebliche Ideal einer „kritischen Distanz“ der Wissenschaft gegenüber dem Forschungsgegenstand kann relativiert und die umstrittene Vorstellung einer Trennung zwischen „Subjekt“ und „Objekt“ aufgeweicht sowie Hierarchisierungen und implizierte Werturteile transparent gemacht werden. Für eine religionswissenschaftliche Ausrichtung, die ein solches Raumverständnis ernst nimmt, bedeutet dies Verschiedenes: Einerseits kann der Forschungsprozess in seiner Wechselwirkung mit dem wahrgenommenen und dem erlebten Raum reflektiert werden. Auf diese Weise würde meines Erachtens garantiert, dass die Auseinandersetzung mit Religion weder auf eine universalisierende Art betrieben, noch euro- oder androzentristische Perspektiven eingenommen werden. Andererseits hat dies für die Auswahl der Forschungsgegenstände insofern Konsequenzen, als dass materielle Gegenstände und deren Produktionsverhältnisse vermehrt in den Fokus rücken. Mit der Akzentuierung des Materiellen und seiner Verschränkung mit dem Sozialen kann einem konstruktivistischen Ansatz produktiv begegnet werden: Phänomene wie der menschliche Körper als Teil der räumlichen Praxis können beispielsweise im Wechselverhältnis mit Ritualen, die durch den Körper bestimmt sind und ihn zugleich bedeuten und symbolisch aufladen, in der materiellen Wirklichkeit und gleichzeitigen Produziertheit ernst genommen werden.
Henri Lefebvre, La Production de l’Espace, Paris: Anthropos 1974.
Schwerwiegende GWP-Verstöße an der TU Wien
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