„… aber des Ärmsten Schädel war ganz zerschmettert, und hing, da er sich das Pistol in den Mund gesetzt hatte, zum Teil an den Wänden umher.“ – Kleists Die Verlobung in St. Domingo und die Gewaltfrage.
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In unserem unregelmässig erscheinenden Theorie- und Debattenprojekt Respektive thematisieren wir aus linker Perspektive drängende Fragen unserer heutigen Gesellschaft. Die zweite Nummer haben wir vor einigen Jahren ganz dem Thema Gewalt gewidmet. Warum? Nun, weil Gewalt zum Leben gehört und jede gesellschaftliche Formation damit einen Umgang finden muss; weil Gewaltdiskurse innerhalb und ausserhalb der Linken ebenso spannend und befruchtend wie nervtötend und statisch sein können, uns aber doch immer wieder aufs Neue beschäftigen, und nicht zuletzt auch deshalb, weil Gewalt uns auch als ästhetisches Phänomen in ihrer filmischen, literarischen oder aktionistischen Darstellung interessiert. Kleist ist ein Autor, der sich dem Phänomen Gewalt immer wieder unbeschönigend und vorurteilsfrei angenommen hat. Gerade deswegen gilt er vielen als suspekt. Für uns Grund genug, genauer hinzuschauen.
Das Ideal der Gewaltfreiheit auf der einen Seite, und die Idealisierung einer von der Gewalt des Gegners klar abgegrenzten „anderen“, „revolutionären“ Gewalt auf der anderen Seite sind wiederkehrende Muster im linken Diskurs. Beide Haltungen entspringen letztlich demselben Bedürfnis: das eigene Handeln zu rechtfertigen, zu entschulden und den eigenen Reinheitsanspruch gegen allen Schmutz abzudichten. Dass Gewalt ein zentrales Thema für die Linke darstellt, die sich die Veränderung der bestehenden Verhältnisse auf die Fahne geschrieben hat, ist naheliegend. Je mehr man in seinem politischen Anspruch mit dem, was ist, nicht einverstanden ist und es zu verändern unternimmt, desto schneller ist man mit Gewalt konfrontiert, der Gewalt des Bestehenden und der Gewalt der Veränderung. Natürlich hat man es je nach politischem Ansatz mit sehr unterschiedlichen Fratzen und Masken der Gewalt zu tun, doch ohne Gewalt ist niemand, der etwas verändern will: nicht die Guerillakämpferin, nicht der engagierte Parlamentarier, nicht die Greenpeace-Aktivistin, nicht der Gewerkschafter.
Ist man im theoretischen wie praktischen linken Diskurs damit beschäftigt, das Gespenst der Gewalt zu bannen oder zu bändigen, es in grössere Zusammenhänge zu stellen und ihm damit ein stückweit zumindest auszuweichen, so vermögen literarische Texte offenere Begegnungen mit ihm zu arrangieren. Heinrich von Kleists Erzählung Die Verlobung von St. Domingo aus dem Jahr 1811 ist ein solcher Text. Er provoziert und konfrontiert uns mit einer Rohheit von Gewalt, die zur vertieften Auseinandersetzung herausfordert.
Heinrich von Kleists Erzählung ist bis heute ein anrüchiger Text geblieben. Die Erzählung ist voller Gewalt und Brutalität, gilt als rassistisch und ist in ihrer verschachtelten Dichte erst noch schwierig zu lesen. Tatsächlich wird man als Leser_in mit einem aggressiven, verstörenden Text konfrontiert, einer Schrift, die etwas abverlangt und zumutet. Die beschriebene Gewalt überträgt sich auf uns Lesende, auch wir sind ihr ausgesetzt, sei es durch das ständige Vielzuviel an Informationen in jedem der langen Sätze, sei es durch die Achterbahnfahrt der Emotionen, auf die die Handlung uns mitnimmt und während der wir mit den Protagonisten ständig aus der Bahn geworfen und zerschmettert zu werden drohen. Ein ungebändigter, wilder und gerade deswegen so ungeheuer faszinierender Text.
Die Erzählung handelt im Jahr 1803 auf Haiti, während des Sklavenaufstandes, der da seit zehn Jahren tobte. Die weissen Herren, welche die Insel bis dahin beherrscht und ihre schwarzen Sklaven mit brutalster Gewalt unterdrückt hatten, sahen sich nun in der Rolle der Verfolgten, Gejagten und Gemordeten. Congo Hoango, „ein fürchterlicher alter Neger“, hat in Kleists Geschichte gleich nach dem Aufflammen des Aufstands seinen früheren Herrn erschossen und dessen Pflanzungen übernommen. Getrieben von Rachegefühlen ist es sein Ziel, so viele Weisse wie möglich zu ermorden. Dazu beauftragt er seine Lebensgefährtin, die alte Mulattin Babekan, und deren 15-jährige Tochter, die Mestizin Toni, während er mit seinem Haufen im Umland Jagd auf Weisse macht, Flüchtlinge in die Pflanzung zu locken und sie unter dem Vorwand, sie da verstecken zu wollen, bis zu seiner Rückkehr aufzuhalten.
Ein Klima der Gewalt grundiert Kleists Erzählung. Blutdurstige Rache ist allgegenwärtig, aber auch die unverheilten Wunden der Gewalt der früheren Herren prägen das Land. Wie sind diese Ausbrüche und Verletzungen im Kontext der revolutionären Erhebung, die den geschichtlichen Hintergrund der Handlung bildet, zu verstehen?
Walter Benjamin beginnt seinen frühen, 1921 veröffentlichten Essay Zur Kritik der Gewalt mit der Unterscheidung zwischen rechtssetzender und rechtserhaltender Gewalt. Beide Arten der Gewalt stehen im Zusammenhang von gesellschaftlichen Zweck-Mittel-Relationen. Die erste rechtfertigt sich mit ihrem Ziel, die zweite damit, eine bereits bestehende Ordnung zu erhalten. Im weiteren Verlauf des Textes fragt Benjamin jedoch nach weiteren Formen der Gewalt, die von keiner Rechtstheorie erfasst werden. Dabei stösst er auf die Möglichkeit einer Gewalt, die sich bloss manifestiert, ohne dass sie in Zweck-Mittel-Relationen zu bringen ist. Benjamin nennt sie die mythische Gewalt.
Wenn wir nun zurückkehren zu Kleists Erzählung, zeigt sich, dass hier Gewalt in dieser dritten der von Benjamin vorgeschlagenen Formen auftritt. Eine manifeste Gewalt, die sich nicht in Zweck-Mittel-Relationen auflösen lässt, denn als die Gewalt der ehemaligen Herren ist sie vergangen und nur noch schwelend in den Wunden, die sie hinterlassen hat. Und als Gewalt der Sklaven erübrigt sie sich in einem Furor der Rache, der nur sich selbst und damit die Gewalt als einzigen Zweck setzt.
Doch verbleibt die sich manifestierende Gewalt in Die Verlobung von St. Domingo wirklich in dieser von Benjamin mythisch genannten Art?
Kleist lässt durch eine geheime Liebesbeziehung zwischen einem ins Haus gelockten Schweizer und der Mestizin Toni den im Hause Hoangos gewohnten Verlauf der Ereignisse in Frage stellen. Doch nun zeigt sich, wie sehr sich die manifeste Gewalt der Rache bereits verfestigt hat, so dass sie sich bereits in mündlichen wie schriftlichen Gesetzestexten niedergeschlagen hat: Tonis Aufgabe ist es zwar durchaus, die Fremden zu verführen, doch – so heisst es – ist es ihr bei Todesstrafe verboten, bis „zur letzten Liebkosung“ zu gehen. Und an anderer Stelle heisst es, dass die Rache das bestehende Landesgesetz sei. Ein an der Türe zur Küche angeschlagenes Mandat verbietet allen Schwarzen, Weissen Schutz zu geben.
So mündet die mythische Gewalt in eine rechtssetzende, halb verschämt zwar noch – verborgen hinter der Türe, nur zu sehen, wenn diese geschlossen wird –, doch unbestreitbar. Dies entspricht genau dem, was Benjamin in seinem Essay sagt: jede rechtssetzende Gewalt habe einen mythischen Ursprung und jede mythische Gewalt werde in ihrer Setzung zur rechtssetzenden. Hier nun deutet sich die Aufgabe an, die sich die revolutionäre Linke gesetzt hat: „Weit entfernt, eine reinere Sphäre zu eröffnen, zeigt die mythische Manifestation der unmittelbaren Gewalt sich im tiefsten mit aller Rechtsgewalt identisch und macht die Ahnung von deren Problematik zur Gewissheit von der Verderblichkeit ihrer geschichtlichen Funktion, deren Vernichtung damit zur Aufgabe wird.“ Benjamin lässt so auf den letzten Seiten seines Essays der mythischen Gewalt eine „reine unmittelbare Gewalt“ entgegentreten. Der in dieser Phase seines Lebens noch stark in der jüdischen Theologie verhaftete Benjamin nennt sie die Göttliche. „Mit dem blossen Leben hört die Herrschaft des Rechts über den Lebendigen auf. Die mythische Gewalt ist Blutgewalt über das blosse Leben um ihrer selbst, die göttliche reine Gewalt über alles Leben um des Lebendigen Willen.“ Ihrem Wesen nach ist diese göttliche Gewalt revolutionär. Sie ist das, was die Linke für sich beansprucht, wenn sie die Umwerfung aller Verhältnisse, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Karl Marx), fordert.
In Kleists Erzählung findet sich keine Hoffnung auf eine solche rettende Gewalt. Auf die Liebenden wartet nur Verrat, Mord und Selbstmord. Der chaotische Strudel nackter Gewalt frisst sie auf. Nichts lässt sich daran beschönigen und genau darin liegt die Provokation. Der Text verdammt nicht die Gewalt. Sie ist da als Faktum, als Schicksal. Aber er rechtfertigt sie auch nicht, nicht als rechtssetzende oder -erhaltende und nicht als revolutionäre. Sie bleibt ebenso unentrinnbar wie unfassbar.
Wenn wir die Kleist’sche Provokation nun abschliessend rückübersetzen in den linken Diskurs, so erinnert sie daran, dass alles Leben und Handeln den Makel der Gewalt und zwar der schmutzigen, rohen, ungeschönten Gewalt trägt. Das ist brutal und man hätte es vielleicht gerne anders, doch ein Zustand ganz ohne Gewalt wäre nicht mehr lebendig. Man sollte der Gewalt, die man bekämpft, aber auch der eigenen Gewalt ins Auge zu sehen versuchen, sie ständig kritisch hinterfragen, ohne aber ihre faktische Existenz auszumerzen trachten. Ein Zustand, in dem alles korrekt, versöhnt und „friedlich“ ist, ist kein Ideal von dieser Welt, sondern ein Trugbild, das gerade deswegen verlogen und in seiner Konsequenz repressiv wirkt.
Die Auseinandersetzung mit Schriften wie solchen tragen dazu bei, wegzukommen von der Vorstellung eines paradiesisch schuldlosen und reinen Zustands. Sie tragen dazu bei, Politik als etwas zu verstehen, das sowohl in ihrem Mitteln als auch in ihren Zwecken mit Widersprüchen beladen ist, die es nicht nur auszuhalten, sondern vielmehr zu begrüssen gilt.