Es ist nicht einfach, inmitten von Konsumangeboten die persönliche Freiheit oder in Krisen eine politische Orientierung zu bewahren – aber wichtig! Ein einfaches „Weiter so“ ist keine Option. Alternativen sind gefragt. Bücher helfen beim nonkonformen Denken.
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Das zum Einstieg wohl beste: Autonomie. Eine Verteidigung. Da wird ein nicht alltäglich verwendeter Begriff zuerst gründlich und doch verständlich unter die Lupe genommen, mit andern in Beziehung gesetzt. Etwa mit Freiheit, Sicherheit, Selbstkontrolle, Konformismus. Nach dem Abwägen von positiven wie negativen Seiten wird der Gewinn an persönlicher Autonomie als zentrale Errungenschaft einer modernen, demokratischeren Gesellschaft gewürdigt. Sie gilt es zu wahren, im privaten und im politischen Bereich. Den historischen, wissenschaftlich-theoretischen Betrachtungen folgt am Ende sogar ein lockeres Set von zehn Regeln, die in der Praxis hilfreich sein könnten. „Folgen Sie nie Politikerinnen und Politikern, die Ihnen mehr Sicherheit auf Kosten von Freiheit versprechen“, ist eine davon. Wem solche Gebote zu konformistisch erscheinen, soll sie im Zweifel streichen und sich seine eigene geben. Dies im Sinne einer Regel Nr. 11: „Demokratie bedarf der ständigen Übung in Autonomie.“
Totalitarismus im Konsumismus
Bei der Empfehlung für „digitale Askese, wo immer es geht“, nehmen wahrscheinlich viele den Rotstift zur Hand. Dass aber durch Weltkonzerne verknüpfte „soziale Netzwerke (wie immer sie heissen) keine sozialen Netzwerke“ bleiben, „sondern Produktionsstätten von informationeller Macht über Sie“, dürfte kaum noch leichthin bestreiten, wer die Analysen und Szenarien gelesen hat, mit denen die Autoren ihre Warnungen begründen. Harald Welzer als Sozialpsychologe und Michael Pauen als Philosoph, der sich auch intensiv mit Hirnforschung befasst hat, bringen dort viel Fachwissen ein. Ein vermeintlich einfacheres Abwickeln von Geschäften aller Art oder das automatisierte Entscheiden in immer mehr Lebensbereichen führt schleichend zur Entmündigung und zu totaler Kontrolle. Zumindest der derzeit auffallend offensiv propagierten Abschaffung von Bargeld, einer der „weiteren Expansionen des Zugriffs“, sollten sich selbst Netz-Freaks widersetzen.
Widerstehen kann allerdings keine und keiner völlig allein. Autonomie ist, wie auch eine Reihe von einschlägigen Experimenten belegten, „keine Persönlichkeitseigenschaft, die immer wirksam wird“; sie unterliegt „der Normsetzung im jeweiligen sozialen Gefüge“. In ihren Selbsteinschätzungen klar nonkonformistische Menschen beugen sich verblüffend rasch einer Mehrheitsmeinung, die sie als unrichtig taxieren. Das kann gute Seiten haben, denn ohne ein gewisses Mass an Konformismus funktioniert Gesellschaft nicht. Hier wird stets differenziert argumentiert. Anpassung ist nicht nur schlecht, Autonomie nicht nur gut. „Zum einen existieren Extremformen von Autonomie, die in ihrem Versuch, die individuelle Herrschaft über die Natur oder andere Menschen zu etablieren, geradezu totalitäre Züge annehmen. Zum zweiten kann Autonomie zu Entscheidungszwängen führen, die den Einzelnen schlichtweg überfordern.“
Günther Anders zum Beispiel
Welzer befasste sich in jüngster Zeit vor allem mit Fragen wie Klima und Konsumismus, eingreifend, praxisbezogen. Früher erforschte er als Wissenschaftler das Verhalten von Menschen in Diktaturen und in Kriegen. „Was aber, wenn der Totalitarismus gar nicht in Uniform auftritt?“ Wenn er den Rahmen der freien Gesellschaft nutzt und sich innerhalb dieses Rahmens entfaltet? Darum dreht sich dieses Buch. Als „hellsichtiger Theoretiker“ wird Günther Anders gerühmt, der schon vor einem halben Jahrhundert entsprechende Mechanismen beschrieben habe. Damals war das Fernsehen neu, kein Internet nirgends; zur Überwachung gab es „Wanzen“. Ein im Vergleich fast idyllischer Gesellschaftszustand. Nichts von „allgegenwärtigen Überwachungskameras, mithörenden und -sehenden Smartphones, Google, Facebook, NSA und gesundheitsüberwachenden Uhren und Armbändern“. Ausgangspunkt für Anders’ „sehr tiefe technikphilosophische Überlegungen“ war primär die Möglichkeit der atomaren Selbstvernichtung der Menschheit. Doch er erkannte das Potential derartiger Technologien: Dass eine Gesellschaft, welche sich auf sie einlässt, „die Gewohnheit annimmt und sogar annehmen muss, den Menschen als total auslieferbar zu betrachten“. Mächte können es sich leisten, auf Terror zu verzichten, wenn wir Privatheit und Autonomie zu opfern bereit sind. Dabei geht es um viel, „um den Erhalt eines mühsam erworbenen zivilisatorischen Standards. Man sollte ihn sich nicht für Tand abkaufen lassen, für Dinge, die das Leben unwesentlich bequemer, aber sicher nicht besser machen.“ Plötzlich sind wir in den „schönen neuen“ Horrorwelten, die uns Schriftsteller beschrieben.
Sind solche Befürchtungen übertrieben? Bei den Autoren gibt es hier Differenzen. Diese werden offen angesprochen. Pauen findet „manches weniger dramatisch“, er hält Anders nicht für „genial vorausblickend“, sondern für „überbewertet und pathetisch“. Doch gerade in der Reibung von Meinungen werden ja Erkenntnisse gewonnen. Eine allumfassende Konsenskultur, „in der jede und jeder widerspruchsfrei versorgt ist und dasselbe hört, sieht und denkt“, wäre das präzise Gegenteil einer „Kultur der Freiheit, in der möglichst viele in der Lage sind, ihr Leben möglichst weitgehend selbst zu bestimmen.“
Kritik als politisches Kampffeld
Womit ich zum zweiten, schon etwas älteren Buch wechsle: Denken im Widerspuch Susanne Martin. Sie leuchtet die „Theorie und Praxis nonkonformistischer Intellektueller“ aus. Dies mit drei Beispielen, von denen eines Günther Anders ist. Davor geht es um Jean Améry sowie um Theodor W. Adorno, den noch heute Bekanntesten der Porträtierten. Mir war Anders näher, auch weil ich ihn eher verstand. Er kritisierte nicht nur die Gesellschaft, sondern ebenso eine kritische Wissenschaft, die im universitären Elfenbeinturm verbleibe. Die in seinem Fach übliche „Unlesbarkeit“ mache philosophische Erkenntnisse weitgehend wirkungslos. Also bemühte er sich, „eine Sprache zu finden oder erfinden“, die, „obwohl präzis und unpopularisiert“, nicht nur für Universitäten taugte. In seinem Werk finden sich Reflexionen über Erfahrungen bei Brotjobs in den Exiljahren, Reportagen von Reisen nach Hiroshima, aktuelle Kommentare, Glossen, sogar Fabeln und Märchen. Damit verbaute er sich die akademische Karriere, wurde dafür freier bei seiner politisch-publizistischen Arbeit in der Anti-Atomwaffen-Bewegung der 1950er-Jahre. Später nahm die Opposition gegen den AKW-Bau seine grundlegende Technikkritik zumindest in Ansätzen auf. In der sich zuspitzenden Debatte um Gewalt und Widerstand vertrat er provozierende Positionen.
Es ist spannend, all das im Rückblick gerafft dargestellt zu sehen. Nein, „überbewertet“ scheint mir Anders nicht und sein Pathos ist der Sache angemessen. Wenn er das von anderen euphorisch gepriesene Atomzeitalter als „Endzeit“ bezeichnete, tat er dies gut begründet. Noch immer finde ich stark, was er einmal zum Handeln trotz allem bekannte: „Wenn ich verzweifelt bin, was geht’s mich an! Machen wir weiter, als wären wir es nicht!“ Schön, dass Susanne Martin das als Zitat vor die sorgfältige Betrachtung über „relevante Erfahrungen und ihre Verarbeitung“ stellt. Mit spürbarer Sympathie zeichnet die wie er politisch aktive Gesellschaftswissenschaftlerin dort die „vier Zäsuren“ im Leben des 1902 geborenen und 1992 ziemlich einsam in Wien verstorbenen Mannes nach, der eigentlich Stern hiess, sich aber Anders nannte.
Vielleicht findet seine nonkonforme Analyse der „Antiquiertheit des Menschen“ im Zuge technischer Revolutionen jetzt breiter Verständnis. Adorno, der quasi als ein Muster des „nonkonformistischen Intellektuellen“ porträtiert wird, prägte das Bild der „Flaschenpost“, die auf den Weg gebracht werden müsse, auch wenn kein vorherbestimmtes Publikum, kein Ziel in Sicht ist. Neckischerweise taucht im Schlussteil, wo es um „zeitgenössische Intellektuelle“ und deren mediales Auftreten geht, unter anderem Harald Welzer auf. Ihm hat der Spiegel attestiert, dass er als „Mann der unbequemen Analysen“ nicht bloss die Wissenschaftskollegen erreiche; „sein Fach mischt er ordentlich auf“. Kann sein, dass dessen Form der Tabubrüche zu modisch wirkt. Wenn die Aufklärung so gelingt …
Nur intellektuelle Krisendeutung?
Susanne Martin ist auch Mitherausgeberin eines neuen Debatten-Bandes, in dem nach der Rolle kritischer Theorie in unserer von Krisen geprägten Gesellschaft gefragt wird. Wieder taucht die Metapher der „Flaschenpost“ auf. Pierre Bourdieu, schreibt Christine Resch, habe sich als „Bewegungsintellektueller“ nicht auf unadressierte Botschaften beschränkt. Er wollte um die Jahrtausendwende mit seinen konkreten sozialpolitischen Interventionen gezielt mobilisieren, löste die globalisierungskritische Welle mit aus. Eine gute Art, als Soziologe gegen die Irrelevanz theoretischer Arbeit anzukämpfen. Heute – wie schon früher in der Geschichte – sind Intellektuelle „als Krisendeuter“ willkommen. Immerhin dauert „die (Banken-, Finanz-, Weltwirtschafts-)Krise“ seit 2008 an. Doch die vielfältigen Deutungen haben die „herrschenden Selbstverständlichkeiten nicht ins Wanken gebracht“. In der öffentlichen Debatte liess sich Nonkonformistisches zumeist marginalisieren. Noch funktioniert Thatchers TINA-Parole: Politisch gibt es keine Alternativen zum hektischen Management, das dem Finanzkapital dient.
Dabei liegt die anzustrebende Alternative bei nüchterner Analyse der globalen Lage auf der Hand. Ulrich Brand skizziert sie als „sozial-ökologische Transformation“. In der Linken brauchte es dazu „rotes Grün“, kein gegenseitiges Ausspielen vermeintlich unvereinbarer Ziele. „Zentral hierfür ist ein alternatives Wohlstandsmodell“; auch wenn oder gerade weil sie sich zurzeit weltweit ausdehnt, hat unsere „imperiale Lebensweise“ keine Zukunft. In mehreren Beiträgen werden feministische Ansätze eingebracht. Brand selbst verweist auf Frigga Haug, die mit ihrer „Vier-in-Einem“-Perspektive gut auf den Punkt gebracht habe, wie Arbeit und Lebenszeit neu aufzuteilen wären. Doch in der allgemeinen Debatte, auch in grossen Teilen der Wissenschaft, werde nur von einer kapitalistischen Marktökonomie ausgegangen. Haus- und Sorgearbeit, Formen von Subsistenz sowie andere Arten der materiellen gesellschaftlichen Reproduktion spielen da kaum eine Rolle. Obwohl sich in der Praxis einiges tut.
Bewegung, Parteien, Brüche …
Damals neue Bewegungen hätten in den 1970er Jahren noch zu stark auf parteiförmige Organisation gesetzt, ist in den „Anmerkungen zur linken Leidenschaft für den Staat“ von Joachim Hirsch zu lesen. Auch jüngere und parteifernere Gruppierungen wie Attac wollten mittels Massenmobilisierung und guten Argumenten vorab bei Regierungen eine andere Politik bewirken. Es geht selbst bei den Linken „heute eher um eine mehr oder weniger zivilisierte Form des Kapitalismus“. Aber eine radikale Emanzipationsbewegung müsste auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Lebensweise insgesamt ausgerichtet sein. Ist es, weil die Rosa-Luxemburg-Stiftung als parteinahe Organisation diese Publikation mitgefördert hat, dass ihre Unterstützung zivilgesellschaftlicher Initiativen mit staatlichen Mitteln gelobt wird? Für einige könnte das durchaus ein Motiv sein, „die Linkspartei zu wählen, auch wenn sie von deren parlamentarischen Aktivitäten wenig erwarten“. Ganz ausgeklammert wird diese Ebene also nicht.
In einem abschliessenden Gespräch wird Alex Demirović einbezogen, dem der Band gewidmet ist. Der deutsche Sozialwissenschaftler gilt als Miterbe der Kritischen Theorie von Adorno, Horkheimer et cetera. Doch im Vorwort wird die „kritische Theorie“ offener verstanden und mit Kleinschreibung versehen. Es gibt inzwischen zu viele Ausprägungen, um sie einer Theorieschule unterzuordnen. Auch die Debatte ist aktuell und entsprechend lebendig. Was bewirken gehäufte, sich verschärfende Krisen? Viele globale Probleme sind seit Jahrzehnten bekannt, die Lage ist offensichtlich dramatisch. Klima, Migration, Kämpfe um Ressourcen, wo zunehmend mit „organisierter Kriminalität“ operiert wird, „mit Gewalt statt mit den stummen Regelmässigkeiten der formellen kapitalistischen Ökonomie“. Wer glaubt noch an ein einfaches Weiter so? Das auf Gipfeln proklamierte Handeln bleibt aus. „Es wird auf Zeit gespielt.“ Allenthalben zeigen sich Risse, die aber möglicherweise erst langfristig zu Brüchen führen. Was folgt dem Neoliberalismus, der heute zwar politisch noch wirksam ist, aber nicht mehr hegemonial? „Kommt es zu einer grossen Zuspitzung? Mit welchen Folgen?“ Antworten gibt es keine, nur Abwägungen. Mit der Aufforderung an suchend Tätige, „sich von der eigenen Ohnmacht nicht dumm machen zu lassen“.
Hoffen lässt das Offene
Wer sich wie ich mit Interesse, aber als Nichtakademiker oft vom kritischen Theoriejargon behindert, durch so ein Buch kämpft, weil er die Wirren der Welt besser verstehen will, könnte frustriert sein: Ach, die Professoren wissen ja auch nix! Doch das ist eben keine Ratgeberliteratur. Ermutigend könnte sein, dass beim Nachdenken über ganz grosse Fragen häufig vom Handeln im Kleinen die Rede ist. Demirović etwa findet, die „Logik der Veränderung“ zeige, dass oft selbst das Fernste „sich als der nächste praktische Schritt vollzieht“. Was gut zur Dialektik der Aufklärung passt. Er erinnert an die Dynamik um und nach 1968, an die Brüche von 1989. Wer sah sie im Voraus? „Plötzlich erscheinen die Gewohnheiten, Haltungen, Einstellungen, Erwartungen, Regelmässigkeiten nicht mehr plausibel und ungeahnte Freiheit erscheint möglich.“ Auf solche Herausforderungen sollten sich Linke vorbereiten, „die Gewerkschaften“ werden speziell benannt.
Brand betont die Bedeutung von Basisbewegungen, mit denen sich Menschen vielerorts „gegen die Zumutungen aktueller Politik“ wehren. „Sie wollen längst anders leben und arbeiten: sozial, ökologisch und gemeinsam.“ Sie treiben einen Transformationsprozess voran, der im politischen Raum zwar zuweilen diskutiert, aber gleich wieder blockiert wird. Was etwa in Deutschland mit der Enquete-Kommission des Bundestages zu „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ mitten in der Krise begann, ging bald kaum beachtet im Parlaments- und Fraktionsalltag unter. Ohne offene, breite Bündnisse bleibt ein Umdenken beschränkt.
Besonders deutlich weisen Pauen und Welzer auf jüngste soziale Bewegungen hin, die wachstumskritisch auf die „Gestaltungsmöglichkeiten eines guten Lebens jenseits von Hyperkonsum und Naturzerstörung“ verweisen. Und auch praktisch handeln. Wie vor ihnen die Arbeiter-, Bürgerrechts-, Frauen- oder Schwulenbewegung schaffen sie neue Freiheitsspielräume. Darum sind die Autoren „alles andere als pessimistisch, was die Fortentwicklung unserer Gesellschaft in Richtung Freiheit und Autonomie angeht.“
Michael Pauen / Harald Welzer: Autonomie. Eine Verteidigung. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015, 328 Seiten.
Susanne Martin: Denken im Widerspruch. Theorie und Praxis nonkonformistischer Intellektueller. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2013, 262 Seiten.
Perspektiven und Konstellationen kritischer Theorie. Herausgegeben von Dirk Martin, Susanne Martin, Jens Wissel. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2015, 316 Seiten.
* Diese Rezension erschien erstmals im P.S. vom 12. Juni 2015.