I.
Einem Buch von diesem Umfang den Titel „Weniger als nichts“ zu geben, braucht Mut. „Es ist drin, was drauf steht.“ Egal wer sein Buch rezensieren würde, Žižek musste wissen, wie gross die Versuchung dieses ersten Satzes sogar noch vor der Lektüre sein würde. So hat das Buch schon Anlass zu ablehnenden Rezensionen in leserstarken Publikationen gegeben, Ablehnungen, die sich auf Žižek selbst zu beziehen scheinen (oder auf das Phänomen Žižek, den symbolischen Žižek) und die seinem Wälzer zumeist wenig Beachtung schenken. Das Buch aber stellt den ernstzunehmenden Versuch einer Reanimierung oder Reaktualisierung Hegels dar (im Lichte der lacanianischen Metapsychologie und damit im Sinne dessen, was Žižek „materialistisch“ nennen will), und den begrenzten Raum, der mir hier zur Verfügung steht, möchte ich wahrnehmen, um Žižeks Vorschlag zusammenzufassen und dasjenige anzusprechen, womit ich nicht einverstanden bin.
Die Frage nach der möglichen Relevanz Hegels für zeitgenössische Anliegen unterteilt sich in zwei Fragen und ist umgehend mit zwei Einwänden konfrontiert, die schon lange eine tiefe Anziehungskraft auf viele bezeugen. Es gibt da erstens die Frage danach, was über Hegels „System“ gesagt werden kann. Dieses gilt als Ausdruck eines hypertroph rationalistischen Holismus, dessen zentrale These in der Behauptung besteht, das Absolute (in etwa das, was Kant das Unbedingte nannte) sei die Idee und dass alles, was es gibt, als Aktualisierung der Idee, in der Natur und im Verlauf der Geschichte, verstanden werden kann. (Und, natürlich, gegen Kant, behauptet Hegel dabei just das zu wissen, von dem Kant behauptet hatte, dass es unmöglich zu wissen sei.) Zweitens gibt es da die Frage nach Hegel als dem Versöhnungsphilosophen. Es gibt einige, die diese Seite von Hegels Projekt als die Überzeugung Hegels auffassen, „das Ende der Geschichte“ sei erreicht – sowohl in der Philosophie (Hegels eigene Position habe erfolgreich alle möglichen philosophischen Positionen in ihrer gegenseitigen Verwiesenheit erfasst), als auch in der Politik, der Kunst und der Religion. Freiheit sei realisiert im dogmatisch eher blassen protestantischen Humanismus, den Hegel favorisierte, durch den modernen Staat, wie Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts ihn beschreiben, und in der romantischen Kunst, als einer Form der Kunst im Prozess der Überschreitung ihrer selbst, durch die sich Kunst in einer Weise aktualisiert, die ihr Ende als bedeutendes Mittel menschlichen Selbstwissens anzeige. (Der Zusammenhang zwischen den zwei Aspekten von Hegels Position wird als seine Theodizee aufgefasst, die Rolle der Selbst-Aktualisierung des Absoluten [oder Gottes] in der Zeit als Rechenschaft für die Rationalität und Kulmination der politischen und intellektuellen Geschichte.)
Die Einwände gegen diese beiden Versionen von Hegellektüren oder Hegelianismen sind wohlbekannt. Gegen den hegelianisch-rationalistischen Holismus gibt es eine Unmenge an Einwänden von empiristischen, wissenschaftlich-naturalistischen und (sprach-)analytischen Ansätzen in der Philosophie. (Die angelsächsische Version der letzteren Schule entsprang bekanntlich einer Zurückweisung von Hegel.) Demgegenüber waren die Einwände auf dem europäischen Kontinent gegen Hegels kompromisslosen und angeblich „totalisierenden“ Rationalismus gerichtet: dessen Unvermögen, so lautete die Anklage, der konkreten Besonderheit {concrete particularity} menschlicher Existenz, der menschlichen Einzelheit {individual}, die sich jedem Versuch, sie begrifflich zu fassen, entzieht, der Rolle des Unvernünftigen als menschlichen Antriebs, der Kontingenz historischen Wandels und den interessantesten Entdeckungen in der Psychoanalyse, wie Wiederholungszwang und Todestrieb, hinreichend gerecht werden zu können. Einwände der zweiten Art sind facettenreicher und interessanter, weil es Hegel gelungen war, sogar viele seiner Kritiker (wie z. B. die Junghegelianer) davon zu überzeugen, dass die Philosophie im Wesentlichen ein historisch-diagnostisches Ziel verfolgt (sie muss „ihre eigene Zeit in Gedanken erfassen“), obwohl viele im gleichen Zug Hegels „idealistische“ Variante eines solchen Projekts und seine Schlussfolgerung, wo wir uns in diesem Prozess befänden, zurückwiesen. Andere verwiesen ganz einfach auf die Tatsache, dass es niemandem gelungen sei, die Phänomenologie des Geistes, zweiter Teil zu schreiben. Die historische Welt, die sich nach 1831 entwickelt hatte, und das 20. Jahrhundert – die Welt der Massenkonsumgesellschaften, der postkolonialen Staaten, des globalisierten Kapitalismus und der damit stark geschwächten Nationalstaaten, der Kulturindustrie, der durchschlagenden Abhängigkeit von Technologie in allen Lebensbelangen und so weiter – könne, so die Annahme, in Hegelscher Begrifflichkeit nicht richtig verstanden werden. Darüberhinaus, wird argumentiert, sei es nicht möglich, die Hegelsche Analyse auch nur näherungsweise auszuweiten auf derart versöhnungslose, vernunft-abschaffende Erscheinungen wie den Nationalsozialismus, den Holocaust, die Verbrechen Stalins oder ein kommunistisches China voller Milliardäre.[1]
Um es einfach zu sagen: Es ist Žižeks ambitiöses Ziel, dafür zu argumentieren, dass jene Charakterisierung von Hegel einen Strohmann angreift und dass, wenn man sich das nur genau genug vor Augen hält, der vermeintliche europäische Bruch mit Hegel von der Art Schellings, Kierkegaards, Nietzsches, Deleuzes und der Freudianer ein ganz anderes Gesicht zeigt, mit deutlich mehr Gemeinsamem als Fremdem. Das erlaubt eine vom Hegel zugeschriebenen Triumphismus sehr verschiedene historische Diagnose. (Eine der Überraschungen dieses Buchs ist, dass Žižek trotz dessen Umfangs darin zu grossen Teilen mehr an den theoretischen Voraussetzungen einer solchen Diagnose interessiert ist denn am Detail der Diagnose selbst.)[2]
Der Aufbau des Buchs ist ungewöhnlich. Er beruht auf dem Spruch, dass die zweit- und drittschönsten Dinge auf der Welt der Drink davor und die Zigarette danach sind. Folglich kriegen wir „Den Drink davor“, den vor-Hegelschen Kontext fürs Verständnis von Hegels Vorschlag (viel Aufmerksamkeit erhalten Platons Parmenides, das Christentum, der Tod von Gott und Fichte); „Die Sache selbst“ (zweimal! Einmal mit Hegel, einmal mit Lacan); und „Die Zigarette danach“ (Heidegger, Levinas, Badiou und ein abschliessendes Kapitel über „Die Ontologie der Quantenphysik“). Vieles davon, besonders gelegentliche Abschweifungen über Buddhismus und die Interpretation der Quantenphysik, ganz zu schweigen von den Feinheiten bei Lacan, überschreitet meine Lohnstufe deutlich, so dass ich mich im Folgenden beschränken will auf die Interpretation von Hegel und die Schlüsse, die Žižek aus ihr zieht.
II.
Stellen wir als erstes das Grundproblem heraus, das Žižeks Buch als ontologisches Problem der „Subjektivität“ anspricht: Was bedeutet es, ein denkendes, wissendes und ebenso handelndes und interagierendes Subjekt in einer materiellen Welt zu sein? Žižek eröffnet mit der Behauptung, dass das gängige „ideologisch-philosophische Feld“ vier Hauptarten der Beantwortung dieser Frage enthält: (i) wissenschaftlicher Naturalismus (Neurowissenschaften, Darwinismus); (ii) diskursiver Historizismus (Foucault, Dekonstruktion); (iii) der ‚New Age Buddhismus‘ des Westens; (iv) eine Art von transzendentaler Endlichkeit (kulminierend in Heidegger).[3] Es ist Žižeks These, dass diesen Optionen die richtige Wahl entgeht, die er die Idee eines „vortranszendentalen Spalts/Bruchs, dessen freudianischer Name ‚Trieb‘ lautet“, nennt, und dass dieser theoretische Rahmen eigentlich „den innersten Kern der modernen Subjektivität {kennzeichnet}.“ (19)
Das alles wird der Erörterung ein sehr hohes Abstraktionsniveau abverlangen und eine schwierige Zusammenfassung der Grundpositionen der ‚Viererbande‘ (Kant, Fichte, Schelling und Hegel) erforderlich machen, die Žižek nötig zu haben glaubt, um die zentralen Themen präsentieren zu können, die er behandeln will. In der von dieser Tradition entwickelten Sprache, auf diesem hohen Niveau der Abstraktion, ist das Problem dasjenige des ontologischen Stellenwerts der „Negativität“, das Nichtsein, das, was nicht ist (oder nicht einfach die Fülle oder Präsenz, positiv zu sein, ist). Auf einer ersten Ebene sprechen wir vom intentionalen Bewusstsein, beispielsweise in der Wahrnehmung oder in empirischen Urteilen, und dem ontologischen Stellenwert praktischen Handelns {agency}. Bewusstsein ist kein durchgängig „positives“ Phänomen aus dieser (kantischen oder nach-kantischen) Sicht. Wenn es das wäre, dann wäre es nur so etwas wie eine Einrichtung zu komplexem Registrieren und Reagieren (vom selben ontologischen Stellenwert wie ein Thermometer). Aber ein empirisches Urteil über die Welt („Da ist ein rotes Buch auf dem Tisch“) wird einem nicht einfach durch eine Wahrnehmungsepisode abgerungen. Man ist nicht einfach durchgängig absorbiert in der Gegenwart der Welt und dieses „nicht“ ist der Anfang all der deutschen Probleme, die Žižek aufspüren will, um zu seiner eigenen Deutung zu gelangen. Dadurch, dass ich irgendein derartiges Urteil fälle, „negiere“ ich die blosse Unmittelbarkeit oder Gegebenheit des Wahrnehmungsgehalts, negiere ihn als unmittelbar und vermeintlich gegeben und nehme eine Haltung dazu ein, was da ist.[4] Und in meinem praktischen Handeln reagiere ich nicht einfach kausal auf Neigungen und Wünsche; auch hier gibt es keine Fülle positiven Seins. Ich unterbreche oder verneine bloss positives Sein (was ich mich zu tun geneigt fühle oder was ich als das erfahre, was ich will) indem ich erwäge und entscheide, was zu tun ist. Keine solche Neigung kann als ein Grund {reason} für eine Handlung zählen, wenn sie nicht in eine Maxime – eine allgemeine Verfahrensweise, über die jemand für Handlungen dieser Art verfügt – „integriert“ ist.[5] Wenn Hegel uns also in der Einleitung der Phänomenologie des Geistes daran erinnert, dass wir die „Substanz“ „auch als Subjekt“ denken müssen, dann scheint das nicht zu bedeuten, dass wir Subjekt nur als Eigenschaft von Substanz zu denken haben oder als eine Erscheinung davon, was, als Substanz, im Grunde zurückbleibt, oder als ein Epiphänomen von Substanz.[6] Der ganze Witz des spekulativen Idealismus besteht darin, Substanz als Nicht-Bloss-Substanz zu denken, als die Negation blosser Substanz als solcher; und das Subjekt als Substanz zu denken, als das, was Nicht-Bloss-Subjekt ist, sondern, letztlich, immer wieder Substanz. Ein ziemlicher Anspruch. Die erstbeste Annäherung an das, was er damit meint, ist aristotelisch: Subjektivität (regelfolgendes {according to norms} Denken und Handeln) ist die spezifische Arbeitsweise (being-at-work, energeia, Hegelsche Wirklichkeit) derjenigen biologischen Lebensform, die menschliche Substanz ist. Im selben Sinne sagt Aristoteles, dass, wenn das Auge ein Körper wäre, das Sehvermögen {seeing} seine Form wäre, seine spezifische Arbeitsweise. (Spontan vermitteltes Bewusstsein ist die spezifische Arbeitsweise der menschlichen Substanz, ihre Aktualisierung.) Diese Arbeitsweise ist die Form, in der diese substanzielle Lebensform erscheint, und nicht irgendeine Selbstbeglaubigung des selbst-negierenden Spalts/Bruchs {gap}, der Substanz ist. (Hier stimme ich nicht überein mit Žižeks lacanianischer Interpretation, wie, inter alia, auf Seite 522/3).[7]
Schon Žižeks Fragestellung enthüllt also von Anfang an eine zutiefst schellingianische Ausrichtung, die sich durch das ganze Buch zieht. (Das wird niemanden überraschen, der Tarrying with the Negative oder The Parallax View gelesen hat.) Will sagen, die durch diese Beobachtung aufgeworfene Frage lautet: Was könnte ein solches Subjekt, mit einer solchen Fähigkeit zu negieren, sein? Und noch etwas dramatischer: Was muss das Sein sein, so dass es „positive“ Seiende und solche „Negierende“ gibt, geben kann? Für den frühen Schelling führte dies zur Schlussfolgerung, dass die Unterscheidung zwischen Subjekten und Objekten weder eine objektive noch eine subjektive Unterscheidung sein könnte, womit der „Grund“ der Möglichkeit der Unterscheidung ein „Indifferenzpunkt“ sein muss, weder Subjekt noch Objekt (was Hegels berühmte Bemerkung veranlasste, dass „in der Nacht alle Kühe schwarz“ seien, die der beiden Freundschaft zerstörte).[8] Und in dem, was man eine schellingianische Tradition nennen könnte, gab es lange die Vermutung, dass weder Kant noch Fichte eine passende Antwort auf diese Frage hatten, ja haben konnten, weil für sie „Sein“ „sekundär“ sei und nicht primär (eine „Erscheinung“ oder ein gesetztes „Nicht-Ich“) und das „Absolute“ solch ein „grundlos“ oder vermeintlich (aber unmöglich) selbst-gründendes Subjekt.[9] Die interessante Frage war immer, wie der reife Hegel in diesem Feld von Möglichkeiten zu verorten sei.[10] Wie schon erwähnt beinhaltet für Žižek jene Position das Bekenntnis zu einem „Spalt“ {gap} oder einem „Bruch“ {rupture} im Sein. „(D)ie Sprache {setzt} einen Mangel/ein Loch in der positiven Seinsordnung (voraus).“ (109) „Die Leere unseres Erkennens korrespondiert mit einer Leere im Sein selbst, mit der ontologischen Unvollständigkeit der Realität.“ (208) Es gibt viele solcher Formulierungen.[11]
Das alles unterhält tiefliegende Verbindungen mit dem ursprünglich eleatischen Problem des Nicht-Seins (wie ist es möglich, dass ich sage, „was nicht ist“, wenn ich Falschheiten äussere; ein Problem, das entsteht, weil das, was nicht ist, nicht ist, demnach nicht möglich ist), woraus sich Žižeks anhaltende Aufmerksamkeit für die zweite Hälfte von Platons Parmenides ergibt. Aber in seiner deutschen Version hat das Problem eine einzigartige Dimension, und diese Dimension ist der Ausgangspunkt meiner tiefstliegenden Meinungsverschiedenheit mit Žižek. Um das Problem zu sehen (oder es so zu sehen, wie ich es sehe), sollte man in Betracht ziehen, worauf Hegel unsere Aufmerksamkeit zieht, wenn er sein eigenes Verständnis seiner tiefstliegenden Beziehung zu Kant herausstellt:
„Es gehört zu den tiefsten und richtigsten Einsichten, die sich in der Kritik der Vernunft finden, dass die Einheit, die das Wesen des Begriffs ausmacht, als die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption, als Einheit des: Ich denke, oder des Selbstbewusstseins erkannt wird. – Dieser Satz macht die sogenannte transzendentale Deduktion der Kategorie aus; sie hat aber von jeher für eines der schwersten Stücke der Kantischen Philosophie gegolten …“[12]
Aus diesem Grund – der apperzeptiven Natur des Begreifens, der Tatsache, dass Begreifen Apperzipieren (mit Bewusstsein erfassen) ist –, können Wahrnehmung {perceptual awareness}, Urteil, praktische Handlungen, jegliches bestimmte intentionale Gewahrwerden nicht als ein Bewusstseinszustand beschrieben werden, in dem man bloss ist (als eine Fülle oder Positivität des Seins von der Art, in der wir sagen würden, dass ein Computer „rechnet“). Denn in der Wahrnehmung {in perceiving} bin ich mir auch meines Wahrnehmens, meiner selbst als eines Wahrnehmenden, bewusst. Darin, von etwas überzeugt zu sein, bin ich mir bewusst, überzeugt zu sein, bin ich mir meiner selbst als auf eine Überzeugung festgelegt bewusst. In praktischen Handlungen wäre ich nicht handelnd, wenn ich mir nicht meiner selbst als handelnd bewusst wäre. (Eine praktische Handlung ist nicht etwas, das anhält, ob ich mir dessen bewusst bin oder nicht, wie etwa kochendes Wasser. Sie ist nur dann Handlung, wenn ich mir selbst als handelnd bewusst bin.)
Für eine solche Sichtweise ergeben sich dann die folgenden beiden Komplikationen, die zwar nach ausführlicher Erörterung verlangen, aber hier nur erwähnt werden können. Die erste: Wie Sebastian Rödl in seinem Buch über Selbstbewusstsein öfters bemerkt, soll das Obige nicht suggerieren, wie es die Grammatik möglicherweise tut, dass hier zwei Geistesakte involviert sind.[13] Es gibt nur einen. Praktisches Handeln ist Bewusstsein praktischen Handelns; es gibt keine Handlung, ausser ich bin mir meiner selbst als handelnd bewusst.[14] Die zweite: Die Apperzeption ist keine zweistellige Relation. Ich bin nicht selbstbewusst in der Art, wie ich mir der Gegenstände bewusst bin (oder es würde ein offensichtlicher Regress drohen). Man könnte sagen, dass ich mir der Gegenstände apperzeptiv oder selbstbewusst bewusst bin; niemals, dass ich mir der Gegenstände bewusst bin und auch mir selbst als eines zweiten Gegenstands bewusst bin.[15] (Deshalb ist direkte Selbstkenntnis nicht beobachtend oder inferenziell [nicht von einem Gegenstand handelnd, der „bereits da ist“], sondern konstitutiv.[16] In allen für meine praktische Identität relevanten Hinsichten [und nicht, was etwaige empirische Eigenschaften angeht] bin ich das, für das ich mich selbst nehme [Professor, Bürger, Sozialdemokrat]. Zumindest bin ich das vorläufig; ich muss auch darstellen, für was ich mich halte, oder es wird zu blossem Geschwätz oder einem unerprobten Eid darauf, was ich zu tun gedenke. In Žižekscher Sprache gesprochen: Es gibt kein Selbst ausser als gesetztes und aufgeführtes, und das offenbare Paradox hier [wer vollzieht das Setzen?] ist kein Paradox.)[17]
Wenn Žižek sich in seiner eigenen Begrifflichkeit der Apperzeptions-Forderung zuwendet (476-8), bemerkt er, wie unplausibel es ist, zu denken, dass jeder Bewusstseinsakt ein Akt des Selbstbewusstseins ist. Das scheint empirisch ganz einfach falsch zu sein. Aber dem ist nur so, weil von zwei Akten ausgegangen wird, Bewusstsein des Gegenstandes und Bewusstsein des den Gegenstand gewahrenden Subjekts, und die wichtigste Forderung in der idealistischen Behandlung dieser Sache ist, dass dies nicht der Fall ist. Es gibt nur einen Akt. Selbstbewusstsein ist kein Bewusstsein eines Objekts. Wir brauchen keine deleuzianische „Virtualität“ oder eine Ontologie mit einer „Aktualität des Möglichen“, um dem Rechnung zu tragen. Und es gibt keine Verbindung von der Behandlung dieser Sache bei Kant, Fichte und Hegel zu Žižeks eigener negativen Ontologie, seiner Forderung, dass, „was es letztlich ‚gibt‘, {…} nur die absolute Differenz {ist}, die sich von sich selbst abstossende Lücke {Gap}“ (520).[18] Was es gibt, im Sinne dieser Untersuchung, ist ein möglicher Raum der Gründe, worin Personen, vielleicht, sozialisiert werden und in dem beständige Selbstkorrektur, Selbst-„Negation“, möglich ist.
Das mag bereits „zu viel Information“ sein für einen Leser, der daran interessiert ist, wie Žižeks Vorschlag einer erneuerten Variante des dialektischen Materialismus und damit einer kritischen Theorie des modernen Spätkapitalismus aussieht. Aber dieser Zugang durch den Deutschen Idealismus ist der Zugang, den er gewählt hat, und es ist wichtig zu erfahren, ob seine Variante gangbar ist. Hätten wir mehr Platz zur Verfügung, wäre zu zeigen, dass die Pointe der obigen Formulierung darin bestünde, ein anderes Verständnis des Problems der „Negativität“ in jener Tradition nahezulegen, das uns nicht zu Lücken oder Leeren oder Löchern im Sein führen wird (oder „grundlosen Handlungen“ in der Abwesenheit „des grossen Anderen“). Ich verstehe Behauptungen über Löcher im Gewebe des Seins nicht wirklich und, so viel ist sicher, wir brauchen diese Behauptung nicht, wenn wir die von mir vorgeschlagene Richtung einschlagen. Denn wenn jene Formulierung der Apperzeption korrekt ist, dann bedeutet das, dass wir in der Lage sind, über die Unangebrachtheit psychologischer oder naturalistischer Auffassungen jener geistigen Zustände Rechenschaft zu geben, und zwar ganz ohne lückenhafte Ontologie (in dem Sinne, wenn nicht sogar derselben Art und Weise, wie Frege und der frühe Husserl den Psychologismus kritisiert hatten, ohne eine alternative Ontologie zu beanspruchen). Wenn eine Überzeugung zu haben dasselbe ist, wie sich dessen bewusst zu sein, eine Überzeugung zu haben, dann ist es unmöglich, einfach und bloss in dem Zustand zu „sein“, eine Überzeugung zu haben. Denn: Mir meines Überzeugtseins von etwas bewusst zu sein ist dasselbe, wie mir bewusst zu sein, warum ich davon überzeugt bin, wovon ich überzeugt bin (wie fragmentarisch, verwirrt oder unwissentlich ungereimt meine Gründe dafür auch immer sein mögen). Wann immer ich wissen will, wovon ich überzeugt bin, werde ich darüber nachdenken, wovon ich überzeugt sein sollte.[19] Solche Gründe mögen unvollständig sein oder einen auf Behauptungen festlegen, derer man nicht gewahr gewesen ist, und ein Vieles an Überzeugungen ist gewohnheitsmässig und zum Grossteil unreflektiert, doch kann dies niemals ganz und durchgängig der Fall sein. Andernfalls hätte ich keine Überzeugung, sondern bloss eine Meinung, der ich anhinge. Das Gleiche gilt für den Fall praktischer Handlungen. Für Handlungen ist es konstitutiv, dass deren Autor {agent} empfänglich ist für das „Weshalb“ seiner Handlung und das ist gleichbedeutend damit, in der Lage zu sein, einen Grund für meine Handlung anzugeben. (Wiederum gilt, dass ein Austausch von der Art „Weshalb hast Du das getan?“ „Ich weiss nicht, einfach so.“ keine Möglichkeit darstellt. Wenn so etwas der Fall ist, dann mag sich dein Körper bewegt haben, aber du hast gar nichts bewegt.)[20] Aus diesem Grund sind Zustände des Meinens, des Erkennens und des Beabsichtigens {doxastic, cognitive, and intentional states} „im Raum der Gründe“ angesiedelt, und das Verlangen nach, sagen wir, neuro-psychologischen Ursachen {causes} für solche Zustände und die Tatsache, dass wir uns in ihnen befinden, kommt einem Kategorienfehler gleich; zeigt das Nichtverstehen der Frage; heisst etwas anbieten, von dem wir keinen Gebrauch machen können. Solche Ursachen haben keinerlei Relevanz für mein Verfügen über die Gründe, die ich habe, (bei Hegel das „Für-Sich“ in jedwedem „An-Sich“) und dein Verstehen meiner Gründe, die sämtlich erstpersonal ausgedrückt und hinterlegt sein müssen. Keine Lücken im Sein brauchen hier Anwendung zu finden; genauso wenig wie die Möglichkeit für Menschen, Bridge zu spielen, indem sie den Regeln des Bridges folgen und Gewinnstrategien ergründen, uns nötigt, irgendeine lückenhafte Ontologie anzunehmen, um dem Regelfolgen im Bridgespiel {norm-responsive bridge following} Rechnung tragen zu können. Jegliches Spielen des Spiels heisst, nicht nur auf Stimuli zu reagieren, sondern während des Spielens und Zügemachens sich immer die Möglichkeit „offen zu halten“, seine Strategie zu überprüfen, die Auslegung der Regeln in Frage zu stellen und so weiter. Das ist es, was es heisst, Regeln zu folgen und nicht durch Regelmässigkeiten bloss determiniert zu sein {not to be instantiating laws}.[21] Dieses Vermögen ist möglich, denn seine Ausübungen sind gewiss aktual, und das bedeutet, dass materiell verkörperte Seiende {materially embodied beings} fähig sind, komplexe, regelgeleitete Praktiken auszuüben, zu deren Erklärung nichts gewonnen ist durch die Berufung auf neurologische Eigenschaften. (In seiner Phänomenologie formuliert Hegel die Art logischer Negativität, von der Bewusstsein ist, als etwas, das „immer über sich selbst hinaus“ ist, und er charakterisiert Bewusstsein aus diesem Grund regelmässig als Selbstnegation.)[22]
Nun hat Žižek die Möglichkeit zu sagen, dass eben dies, diese Möglichkeit eines Empfänglichseins für Normen, die Unmöglichkeit, eine materiell verkörperte Fähigkeit in materialistischen Termini auszudrücken, nichts anderes ist als die Kluft oder Leere oder Selbstnegation, die er Hegels Ontologie zuschreiben will, das „mehr als materiell, ohne immateriell zu sein.“[23] Das aber scheint zu analgetisch zu sein für das, was er sagen will, und für die Verbindung, die er zu Lacan schlagen will. Denn es gibt aus dieser Perspektive keinen Grund für eine paradoxe negative Ontologie. Es ist natürlich möglich und wichtig, dass Forscher eines Tages entdecken werden, weshalb Tiere mit menschlichen Gehirnen jene Dinge tun können und Tiere ohne menschliche Gehirne nicht, und irgendeine Kombination von Astrophysik und Evolutionstheorie wird zu erklären in der Lage sein, weshalb menschliche Wesen die Gehirne haben, die sie haben. Aber das sind keine philosophischen Probleme und sie erzeugen keine philosophischen Probleme.[24] (Solche Probleme wären: Was ist ein einnehmender Grund und weshalb? Unter welchen Bedingungen sind die Gründe, die von den Leuten dafür angegeben werden, was sie tun, „ihre eigenen“ Gründe, Gründe und Vorgehensweisen, mit denen sie sich aufrichtig „identifizieren“ können?)[25]
Um es anders auszudrücken: Žižek liegt ganz richtig damit, den Stellenwert der Verlagerung vom frühen auf den späten Hegel herauszustreichen, deren Kern in Hegels Einsicht besteht, dass „Logik“ keine Vorbereitung für „Metaphysik“ darstelle, sondern dass Logik Metaphysik sei. Aber das bedeutet, dass eine Erwägung des Seins als in sich Intelligiblen die einzig mögliche Art der Metaphysik ist (zu sein bedeutet begreifbar, intelligibel zu sein – so etwas wie das Motto der griechischen Philosophie und damit des Anfangs der Philosophie).[26] Aber das bedeutet auch, dass die „Bewegung“ in Hegels Enzyklopädie von einer „Logik der Natur“ in eine „Logik des Geistes“ nichts mit irgendeinem „materialistischem Evolutionismus“ (329) zu tun hat. Hegels Metaphysik ist eine Logik und die Begreifbarkeit der Natur, lax gesprochen, läuft irgendwann aus, ist aus sich selbst heraus nicht in der Lage, der komplexen, regelgeleiteten {rule-governed} Tätigkeit, derer materiell verkörperte Wesen mächtig sind, Rechnung zu tragen. Das ist kein neues, nicht-natürliches Vermögen, das über Zeit hervorgebracht wird, sondern ein Vermögen, das hervorgebracht wird in einer systematischen Erwägung der Ressourcen des Begreifens, die, wenn auch limitiert, in naturwissenschaftlichen Ansätzen vorhanden sind.
Es gibt bei Hegel einen phänomenologischen Ansatz für den Rahmen, in welchem materiell verkörperte organische Wesen, lebendige Wesen, die in einem minimalen Selbstverhältnis stehen (ein Selbstgefühl, das benötigt wird für die Selbsterhaltung des Lebens), als interagierend vorgestellt werden können in einer Art und Weise, dass ihr „Für-sich“ blosse Selbstversorgung überschreitet. Ein „Schritt“, der nicht verstehbar sein wird als Fortkommen in der zweckhaften Aktivität blossen tierischen Lebens. Das ist der berühmte Ansatz aus Kapitel IV der 1807er Phänomenologie des Geistes. Die Schwierigkeit besteht darin, sich solche lebendige Wesen vorzustellen als in einem, wenn nötig, Kampf bis auf den Tod begriffen, um Lebensmittel vielleicht, und gleichzeitig die Möglichkeit einzuführen, dass die Indifferenz einer Partei ihrem eigenen Leben gegenüber in den Dienst eines Bedürfnisses nach Anerkennung (einer „nicht-natürlichen“ Norm) gestellt wird, wobei das, wonach einem verlangt, nicht blosse Unterwerfung ist, sondern ein Gelöbnis zu dienen, die Bestätigung der Berechtigung des anderen. „Geist“ entsteht in dieser vorgestellten sozialen Auseinandersetzung, in dem, was wir voneinander bedürfen, nicht in den Zwischenräumen des Seins. Das entspricht einer phänomenologischen Auffassung (der Frage, was es bedeutet, „Geist“ zu sein und zu werden) und nicht einer enzyklopädischen Logik, aber es führt zugleich die Hegelsche Auffassung von Vernunft ein. Wir sehen, dass diese nicht verstanden werden kann als blosses Vermögen der Berechnung oder strategischen Überlegung, sondern als eine gesellschaftlich-geschichtliche Praxis – etwas, das Brandom das gegenseitige „Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen“ nennt[27] – und sie führt die zentrale Frage von Hegels historischem Narrativ ein: Ist es plausibel, zu behaupten, dass wir besser darin werden, uns gegenüber einander zu rechtfertigen, oder nicht?[28]
Dies und dass der obige Zugang nicht der von Žižek eingeschlagenen Richtung entspricht, lässt sich sehen an seiner detaillierten Behandlung von Fichte.[29] Žižek folgt eng derjenigen Auffassung von Fichte, die Dieter Henrich in seinen kürzlich veröffentlichten Vorlesungen im Harvard der 1970er Jahre für Studierende gehalten hat (Between Kant and Hegel), und das erzeugt zwei Probleme.[30] Erstens bringt Henrich das Problem des apperzeptiven Bewusstseins in der Erfahrung und im Handeln durcheinander mit dem Problem reflexiver Selbstidentifikation, der Frage, wie mein einziges Selbst zu finden und zu identifizieren sei. Das sind zwei verschiedene Probleme und es gibt keine Hinweise dafür, dass Fichte sie durcheinandergebracht hätte, aber haufenweise Belege dafür, dass er sich ihrer Differenz bewusst war.[31] Zweitens akzeptiert Žižek Henrichs Anklage, Fichte habe „logische“ und „reale“ Opposition durcheinandergebracht, vom einen zum anderen springend und also daran scheiternd, einen befriedigenden Zugang zum Verhältnis des Ichs zum Nicht-Ich zu liefern. Aber Fichte war ziemlich klar, was jene Differenz angeht, und seine Bemerkungen führen nahe an die Bemerkungen von oben zum Stellenwert des Normativen bei Kant und den frühen Idealisten. Einige wenige Beispiele müssen hier genügen. Hier ist Fichte in einer seiner typischen Darstellungen oberster Grundsätze:
„Die Grundbehauptung des Philosophen, als eines solchen, ist diese: So wie das Ich nur für sich selbst sei, entstehe ihm zugleich notwendig ein Sein ausser ihm; der Grund des letzteren liege im ersteren, das letztere sei durch das erstere bedingt: Selbstbewusstsein, und Bewusstsein eines Etwas, das nicht wir selbst – sein solle, sei notwendig verbunden; das erstere aber sei anzusehen als das Bedingende, und das letztere als das Bedingte.“[32]
Aber wir wissen daraus nicht schon, was „Bedingung“ bedeutet und vor allem, in welchem Verhältnis sie zum Schlüsselbegriff steht: „Setzen“ {positing}, dem Setzen des Nicht-Ich.
Wenn er aber zu erklären versucht, was er meint, kehrt er zurück zur „Autonomie des Normativen“-Terminologie, auf die oben zurückgegriffen wurde. Aus den 1797er Einführungen in die Wissenschaftslehre:
„Überhaupt, welches ist denn der Inhalt der Wissenschaftslehre in zwei Worten? Dieser: die Vernunft ist absolut selbstständig; sie ist nur für sich; aber für sie ist auch nur sie. Alles sonach, was sie ist, muss in ihr selbst begründet sein, und nur aus ihr selbst, nicht aber aus etwas ausser ihr erklärt werden, zu welchem, ausser ihr, sie nicht gelangen könnte, ohne sich selbst aufzugeben, Kurz: die Wissenschaftslehre ist transzendentaler Idealismus.“[33]
Aus der „zweiten Einleitung“ zur 1798/1799er Wissenschaftslehre (nova methodo):
„{D}er Ideal[ist]. bemerkt[,] dass die ganze Erfahrung nichts sei als ein Handeln des Vernunftwesen[s].“
Dann folgt eine Glosse zum „Gesichtspunkt des Idealismus“:
„{D}er Idealist sieht, wie dem Individuum die Dinge werden müssen, die Sache ist also für das Individuum anders als für den Philosophen; für das Individuum nun sind die Dinge[,] Menschen u.s.w. unabhängig von ihm vorhanden. Der Ideal[ist] aber sagt[:] Dinge[,] ausser mir, und unabhängig von mir vorhanden[,] giebt es nicht. Beide sagen also das Gegentheil und widersprechen sich doch nicht, denn der Idealist zeigt von seinem Gesichtspuncte aus die Nothw[endigkeit] der Ansicht der Individuen, wenn der Ideal[ist] sagt[:] ausser mir, so heisst dies[:] ausser der Vernunft, bei dem Individuum heisst es[:] ausser der Person.“[34]
Oder in einem sogar noch zusammenfassenderen Ton aus Fichtes Aufzeichnungen: „Das Ich ist die Vernunft.“[35]
Eben diese rationale Selbstbefriedigung ist etwas, das wir gemäss Fichte nur unendlich „erstreben“ {strive for} können, aber der grössere Zusammenhang geht auf die Triftigkeit von Žižeks Lesart. Betroffen ist die notwendige Verbindung zwischen dem selbstbewussten Charakter von Erfahrung und Handlung, so verstanden, und der „Vernunft“, einer Norm, die keinerlei prominente Rolle spielt in Žižeks schellingianischem Ansatz. (Die andere Hegelsche Sache, die keine grosse Rolle für Žižek spielt, ist Gesellschaftlichkeit, „Geist“, und diese Dinge hängen, wie ich im nächsten Abschnitt zeigen werde, zusammen.) Die Bedingung des modernen Atheismus bedeutet für Žižek, dass es, in lacanianischer Begrifflichkeit, einen „grossen Anderen“, irgendeine Art von Garanten für, zumindest, die Möglichkeit einer Auflösung normativer Skepsis oder Konflikte nicht gibt und nicht geben kann. Aber keinen transzendentalen Garanten zu haben bedeutet nicht dasselbe wie kein möglicher Verlass auf die Vernunft unserer eigenen Selbstverständigung und unserer Ansprüche an andere. Sogar eine Position, die (wie z. B. diejenige Nietzsches) das meiste unserer bewussten Berufungen auf Vernunft für Symptome hielte unter der Behauptung, dass die wahre Vernunft anderswo läge (nicht die Tugendhaftigkeit des Sklaven, sondern sein Ressentiment motiviert die Unterwerfung), bekennt sich zu der Verbindung. (Ressentiment ist sein Grund, von ihm – im Akt einer Selbsttäuschung – genommen als erforderliche Handlung {warranting action}, Unterwerfung und moralistische Verurteilung des Herrn; andernfalls läge keine Befriedigung in dem, was er tut.) Etwas zu behaupten oder etwas zu tun bedeutet, Gründe für die Behauptung oder die Tat anzugeben, und wenn es Gründe gibt, entweder die Gründe oder die Behauptung ihrer Wahrhaftigkeit zurückzuweisen, dann befinden wir uns noch immer im Raum der Gründe, den wir nicht verlassen können. (Eine unmittelbare Konsequenz davon: Der erste Satz von Žižeks Schluss [„Die politische Suspension des Ethischen“] – „Die Nichtexistenz des grossen Anderen signalisiert, dass jedes ethische beziehungsweise moralische Gebäude auf einem abgründigen Akt gegründet werden muss, der im radikalsten Sinne politisch ist.“ – ergibt null Hegelschen Sinn. Das Handeln eines Akteurs, verstanden als „abgründiger“ Akt, ist ein Trugbild, das Pathos aufgeblasenen und aufgesetzten Heroismus, ein Gestus, der in den Hegelschen Zoo gehört zusammen mit der schönen Seele, dem Ritter der Tugend und insbesondere dem Wahnsinn des Eigendünkels.[36] Falls der Akt „abgründig“ ist, dann bedeutet „Politik“ ganz einfach „Macht“, Macht, die auf nichts anderem beruht als auf Entschlossenheit und Willkür {will} und der aller Wahrscheinlichkeit nach mit nichts anderem begegnet wird als Entschlossenheit und Willkür.)
Um, im Gegensatz hierzu, die Bedeutung der Verbindung zwischen Selbstbewusstsein und Vernunft für Žižeks Projekt im Buch zu sehen, müssen wir uns seiner langen, expliziten Besprechung von Hegel zuwenden.
III.
„In diesem Sinne ist die nachhegelianische Wende zur ‚konkreten, nicht auf begriffliche Vermittlung reduzierbaren Realität‘ eher als verzweifelte späte Rache der Metaphysik zu sehen, als Versuch, diese zu reinstallieren, wenn auch in der umgekehrten Form des Primats der konkreten Realität.“ (331)
Wahreres wurde nie gesprochen in Hegels Namen. Žižeks Ausführungen jener Behauptung enthalten eine Anzahl triftiger Aussagen. Zum Beispiel ist es etwas vom Bemerkenswertesten an Hegels Grundposition, dass sie bruchlos zusammengefasst werden kann mit dem Satz, dass es keine unabhängige, rein positive Position geben kann. Vielmehr ist sie das richtige Verständnis aller anderen logisch möglichen Positionen. Žižek stellt diesen Aspekt von Hegel völlig richtig dar (vgl. 532 ff.) und hat mehrere hilfreiche Worte über ihn zu verlieren und darüber, was er mit sich bringt. Darüberhinaus führt ihn sein Interesse an Lacan zu drei weiteren Aspekten von Hegel, die ziemlich wichtig sind und häufig vernachlässigt werden, sowohl in gängigen Interpretationen (die Žižek ‚Lehrbuch‘-Interpretationen nennt) als auch in mehr ‚auf den Stand gebrachten‘, zeitgenössischen Rekonstruktionen. Gemeint ist erstens die Dimension der „Retroaktivität“, manchmal auch Nachträglichkeit {belatedness} genannt, oder dessen, was Žižek zu Recht beschreibt als Hegels Insistenz auf der Logik der Tat {deed} oder der Beanspruchung {claim} oder des Ereignisses {event}, von der gesagt werden kann, dass sie „ihre eigenen Voraussetzungen setzt“. (Die Bedeutung eines Traums wird von dessen Erzählung konstituiert; sie ist nicht „wiederhergestellt“. Ein Trauma wird zu dem Trauma, das es ist, erst retroaktiv in seiner Erfragung.) Am meisten Bedeutung hat der Begriff bei Hegel in seinem Zugang zu Handlungsbeschreibungen und Intentionen. Es gibt keine Rückwärtsverursachung im buchstäblichen Sinne, aber was es ist, das wir taten, und warum wir es taten, von dem kann gesagt werden, dass es zu dem wird, was es ist, einzig nachdem wir es getan haben (nachdem wir gesehen haben, was zu tun wir uns eigentlich verpflichtet hatten; das, was getan zu haben andere uns zugestehen oder nicht).[37] Zweitens und damit zusammenhängend nimmt Žižek die ungewöhnliche und erst einmal paradoxe These, dass der Geist als „Produkt seiner selbst“ verstanden werden muss, viel ernster als die meisten anderen Kommentatoren. Žižeks Ausführungen all dieser Themen sind, meiner Meinung nach, angebracht und wertvoll.[38] Darüberhinaus kann er, drittens, gerade weil er diesen Themen, insbesondere dem zuletzt erwähnten, gerecht wird, dasjenige Bild einer Hegelschen historischen Tat zurückweisen, das so bekannt ist aus der Kritik seitens der Kritischen Theorie, insbesondere von Adorno und den Adorniten. Es ist das Bild des Geistes als sich in seinen Erzeugnissen Entäusserndes (seiner „Selbst-Negation“), sich dabei von innen entfremdend, bis er „in sich zurückkehren“ kann in seiner Äusserlichkeit, seine Andersheit verneinen und damit versöhnt werden mit sich selbst in einer aufgehobenen Selbstidentität (der Negation der Negation). Es ist auch das Bild Hegels als des „grossen narzisstischen Verschlingers“, die Andersheit fressend und vereinend in einem verrückten Vorhaben, alles zu werden, das überzeichnete und überwiegend ungerechte Bild, das Adorno so lieb war in seiner Absage an Hegel als der Verkörperung des „Identitätsdenkens“. (Vgl. 413) Aber wie berechtigt auch immer seine Zurückweisung dieser Karikatur ist, so scheint mir Žižeks eigenes Verständnis doch zu sehr beeinflusst zu sein durch sein Verständnis von Lacan (ganz zu schweigen vom mittleren Schelling), so dass es der wahrhaft Hegelschen Alternative unter diesen sehr abstrakten Möglichkeiten nicht erlaubt, hervorzutreten, insbesondere was das Problem der Vernunft (von Hegels „grossem Anderen“) und der Gesellschaftlichkeit (der Sittlichkeit, einer weiteren Version von Hegels grossem Anderen, der „verwirklichten Vernunft“ {actualized reason}) angeht.
In Anbetracht des bisher Gesagten können wir dieses Hegel-Lacan-Problem zusammenfassen, indem wir uns Hegels aussergewöhnliche (und wenn man will lacanianische) Behauptung in Erinnerung rufen, dass Geist eine „Bresche“ oder „Wunde“ sei, aber eine selbstzugefügte (d. h. sie ist Resultat; kein ontologischer Riss im Gewebe des Seins als solchem), und eine, die der Geist heilen kann, sogar ohne „Narben“ zu hinterlassen.[39] (Ein in keinster Weise freudianischer Gedanke. Über den Hegelschen Begriff der Versöhnung müsste ein Vieles mehr gesagt werden als hier möglich ist.) Etwas allgemeiner ausgedrückt: Der Eintritt in den Bereich des Bezeichnens {signifying}, den Raum der Bedeutungen, ist für Hegel notwendigerweise zugleich der Einritt in den Raum der Gründe, weil er der Einritt ist in die grundlegende Gesellschaftlichkeit der Bedeutungen; weil diese in einer grösseren sozialen Ökonomie zirkulieren müssen, einer Ökonomie, die immer eine Ökonomie der Beanspruchungen, Zurückweisungen, Herausforderungen, Kämpfe und Lösungen (selbstzugefügter Wunden) ist und nicht nur ein persönlicher oder libidinöser Haushalt. Und das ist eine Ökonomie, die zutiefst historisch ist und also nicht einzufangen in einer mythischen/archetypischen Meta-Psychologie, die sich auf eine primär individuelle Ontogenese beschränkt.[40]
IV.
Das bringt uns mit anderen Worten zur mehr praktischen und „kritischen“ Frage nach der, wie Žižek sich ausdrückt, „Möglichkeit heute Hegelianer zu sein“, der Frage also, ob das möglich ist, was Žižeks Interpretation desjenigen Begriffs impliziert, den er im Zentrum seines Hegelianismus platziert: den Begriff einer „selbst-negierenden“ oder „lückenhaften“ {gappy} phänomenalen Wirklichkeit. Vor dem Hintergrund dieser Ontologie soll Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfasst sein. Unsere Zeit ist immer noch die Zeit des bürgerlichen Kapitalismus und seiner zentralen Institutionen: Privateigentum, Handelsrepubliken, auf individuellen Rechten basierende rechtliche Institutionen, die Privatisierung der Religion und das Ideal religiöser Toleranz, romantische Liebe, Liebesheirat, Kleinfamilien und die (angebliche) Trennung von Staat und Zivilgesellschaft. Was „umfasst“ das „begreifende Denken“ – in diesem Fall „dialektische“ Denken?
Ein von Žižek und den meisten „Hegelianern“ breit geteilter Ausgangspunkt für einen so verstandenen Hegelianismus wäre das Bekenntnis zur Geschichtlichkeit von Normen, aber ohne historischen Relativismus, als ob wir in besonderen Annahmen gefangen wären und nicht unseren Weg aus ihnen hinausdenken könnten. Das Allgemeine {universal} – dessen klarster Name einfach die „Freiheit“ wäre – ist bei Hegel aber immer nur als „konkretes Allgemeines“ zugänglich, ein Allgemeines verstanden als flektiert von einer Zeit und einem Ort, partiell und unvollkommen der Interpretation und Re-Interpretation und dialektischen Erweiterung bedürftig. Wollen wir beispielsweise verstehen, warum die geschlechterbasierte Teilung der Arbeit im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts zu einer so unglaubwürdigen Norm geworden ist, und das ausschliesslich in den technologisch fortgeschrittenen Wirtschaftsrepubliken des Westens, dann beginnt man „Hegelianer“ zu werden durch die simple Einsicht, wie unplausibel das Beharren darauf wäre, die Ungerechtigkeit der Grundlage einer solchen Arbeitsteilung, also die Gründe, eine solche Praxis zurückzuweisen, sei im Prinzip seit Anbeginn der menschlichen Versuche, ihre Praktiken zu rechtfertigen, immer zugänglich gewesen und irgendwann in den frühen 1970ern „entdeckt“ worden. Trotzdem ist unser Bekenntnis zur Zurückweisung einer solchen Praxis weitaus stärker als „eine bloss neue Entwicklung dessen, wie wir weitergehen“. Die vergangene Praxis ist unvernünftig und damit ungerecht, wie auch immer historisch indiziert die „Fassbarkeit“ {grip} eines solchen Anspruchs klarerweise ist.
Žižeks Vorschlag ist es, einen Hegel zu verteidigen, für den jedwede Behauptung über geschichtliche Rationalität (wie die obige) immer retrospektiv und niemals prospektiv und voraussagend ist, und er liegt mit diesem nach vorne hin offenen Hegel sicher richtig. (Häufig wird übersehen, dass Hegels berühmte Behauptung, dass die Eule der Minerva ihren Flug erst bei Dämmerung beginne, dass die Philosophie ihr Grau in Grau erst zu malen beginnen könne, wenn eine Lebensform gealtert hat, die Ankündigung bedeutet, dass die „in Gedanken erfasste“ Lebensform der Philosophie des Rechts gealtert hat, im Sterben liegt und nur deshalb jetzt von Hegel begriffen werden kann. Wollte man behaupten, dass wir eine Utopie der verwirklichten Vernunft erreicht hätten, würde schwerlich dieses Bild vorgeschlagen. [Vgl. 366]) Kommt hinzu, dass die retrospektive Dimension ziemlich wichtig ist. Erst nach dem weltgeschichtlichen Einfluss des Christentums konnte die griechische Philosophie dazu unfähig erscheinen, die Ressourcen für ein Verständnis dessen zu enthalten, was einmal die christliche Innerlichkeit, Subjektivität und damit ein sehr verschiedener Blick auf praktisches Handeln {agency} werden würde. Es gibt in diesem Bild keinen Weltgeist als Puppenspieler.
Allerdings muss die Alternative zu jedem „Schatten des dialektischen Materialismus“ so etwas wie ein „dialektischer Idealismus“ sein. Das heisst freilich schlicht, dass es keinerlei „materielle Widersprüche“ gibt.[41] Widersprüche sind das Resultat der Selbstentgegnung {self-opposition} in einer Handlung oder Praxis, die von einem Subjekt dirigiert wird. Sie können die Form „performativer Widersprüche“ in Sprechakten oder praktischer Widersprüche in Handlungen annehmen. (Hobbes hat uns für letztere ein gelungenes Beispiel gegeben: Im Naturzustand führt die Verfolgung dessen, was vom individuellen Gesichtspunkt aus maximal rational ist, durch jeden Einzelnen – nämlich die anderen präventiv anzugreifen – zu dem Ergebnis, welches das für alle schlimmstmögliche ist. Akteure widersprechen sich selbst, indem sie rational handeln.) Unter der Annahme kollektiver Subjektivität (Geist) kann man sich vorstellen, wie es zu zeigen möglich wäre, dass die instrumentelle Praxis einer Lebensform in den von ihr rationalerweise gewählten Mitteln den übergreifenden Zwecken, die diese Gesellschaft ihrem Wesen nach verfolgt, „widerspricht“. All dies hängt davon ab, was sich zeigen lässt und was nicht; ob sich von einer sozialen Folgeform sagen lässt, dass sie erfolgreicher darin ist, zu erreichen, was eine vorangehende soziale Form zu erreichen versucht hat, oder nicht: bestimmte Negation also, interne Kritik, all die Hegelschen Desiderata. (Geschlechterbasierte Arbeitsteilung wurde allmählich als inkonsistent mit dem bereits existierenden Ideal der Gleichheit vor dem Recht und meritokratischer sozialer Mobilität verstanden, und zwar zu einer Zeit, wo Veränderungen in der Technologie der Produktion und der Bedarf an viel mehr Arbeitskraft in der grössten Periode wirtschaftlicher Prosperität, die die Geschichte gesehen hat, eine solche Einsicht möglich machten.)
Wir sind mit Sicherheit weit genug entfernt von der („toten“) besonderen historischen Form bürgerlicher Gesellschaft, die Hegel vermeinte in Gedanken erfasst zu haben, und unsere eigene Lebensform kann vor unseren Augen plausiblerweise ihrerseits als „gealtert“ genug bezeichnet werden (als dysfunktional genug zumindest), um uns fragen zu lassen: Was ist der Hegelsche Zugang zum Zusammenbruch im grossen Stil der Unterscheidung zwischen Staat und Zivilgesellschaft, an der ihm so viel lag, zur Desintegration der Stände und ihrer Ordnung, die so zentral ist für sein Verständnis von politischer Partizipation, zum Aufkommen von Gesellschaften des Massenkonsums, so ganz und gar verschieden von allem in Hegels politischer Philosophie, zu Veränderungen der Kriegstechnologie, die die Idee gelegentlicher Kriegsführung, um uns aus unserer prosaischen Beschaulichkeit aufzurütteln, als selbstmörderisch erscheinen lassen (ganz zu schweigen vom Ende der Bürgerarmeen), zur Erzeugung eines globalen Finanzsystems, das sogar die Idee von „Eigentümern“ der Produktionsmittel obsolet werden lässt, und weiter und weiter in diesem Ton?
Žižeks Antwort ist nicht überraschend, und diese Antwort lässt die weitestreichende Frage von allen aufkommen, die zugleich diejenige ist, die ich am unbefriedigendsten angesprochen fand. Wie viele andere will er sagen, dass die bürgerliche Gesellschaft wesentlich selbstwidersprüchlich sei, und ich gehe davon aus, dass das ihre „Unreformierbarkeit“ bedeutet. Wir brauchen eine völlig neue ethische Ordnung und das läuft auf das hinaus, was „die Tat“ ist. Das Vorgeben der bürgerlichen Gesellschaft, eine vernünftige Form zu sein, wird von der Existenz eines bloss Partikulären unterwandert, einer Galionsfigur an der Spitze, dem Monarchen. (Eine bessere Frage schiene mir zu sein, warum das Hegel überhaupt kümmert, angesichts dessen, wie rein symbolisch und gar sinnlos ein solcher Tupfen auf dem i letztlich ist.)[42] Und wie viele andere behauptet Žižek, dass die zugegeben aporetische Rolle, die „der Pöbel“ bei Hegel spielt als etwas, das eine permanente Unterklasse der Armen zu sein scheint, ein weiteres Merkmal der wesentlichen Irrationalität der Hegelschen Darstellung modernen ethischen Lebens (Sittlichkeit) ist. Er stimmt der Analyse eines Autors jüngeren Datums, Frank Ruda, zu und sagt, dass Ruda „vollkommen Recht {hat}, wenn er Hegels kurze Passage über den Pöbel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts als symptomatisch für dessen gesamte Rechtsphilosophie, wenn nicht sein ganzes System deutet.“ (592) In anderen Zusammenhängen behauptet Žižek, dass die moderne säkulare Kultur und der Spätkapitalismus ihre eigenen Gegenteile, zum Beispiel den evangelikalen Fundamentalismus, erzeugen, für die es keine „Aufhebung“ gibt, keine Rückkehr zu einer erhöhten Form bürgerlicher Politik und reformierten Kapitalismus. (Dies alles verhält sich ganz lacanianisch, indem das, was unterdrückt wird, durch eben diesen Akt der Repression „erzeugt“ {created} wird.)
Ob diese vergleichsweise kurzen Zwischenspiele zeigen können, dass bürgerliche Gesellschaft und ein kapitalistisches Produktionssystem selbst im oben skizzierten idealistischen Sinne wesentlich widersprüchlich sind und damit alles Rufen nach Reform von der geleichen Absurdität wäre wie das Verbleiben im Naturzustand bei gleichzeitiger „Reformierung desselben“ unter Hobbesschen Vorzeichen, ist ein für diese kurze Besprechung zu weites Feld. Ich kann nur sagen, dass ich, zumindest angesichts der hier gelegentlich auftauchenden Bemerkungen, keinen Grund dafür sehe, dies anzunehmen, wenn die grundlegende Norm einer solchen Gesellschaft, Hegel gemäss, ein institutionell gesicherter Zustand gleichberechtigter Anerkennung ist, wobei das zugleich direkte politische Aufmerksamkeit gegenüber den materiellen (familiären, kulturellen, wirtschaftlichen) Bedingungen für deren Ermöglichung oder eine Art egalitärer Idee von Freiheit heisst (niemand kann frei sein, solange nicht alle frei sind). Die Tatsache, dass der politische Wille zur Sorge um solch ein gemeinsames Gut, wie beispielsweise in den Vereinigten Staaten, immer mehr zu schwächeln beginnt (und das sogar im Fall von öffentlichen Schulen, die langsam, aber sicher zu einer Zielscheibe der immer mächtigeren extremen Rechten werden), ist mit ziemlicher Sicherheit eine Pathologie, die der Erklärung bedarf.[43] Vielleicht brauchen wir die Hilfe der Lacanianer, um das zu leisten (obwohl Hegel selbst sich damit zufrieden gab, einfach auf die Gefahren und die Irrationalität des romantischen Nationalismus seiner Tage hinzuweisen), aber der grosse Traum der Sozialdemokratie aller Herren Länder – „Das Schweden der 60er!“ – scheint mir nicht etwas zu sein, das unvermeidbar seine eigene irrationale und unversöhnbare Unvernunft, oder sein eigenes Anderes, produziert. Mehr Anwälte für die Armen in Texas, zahlbare Kinderbetreuung, allgemeine Krankenversicherung, weniger Flugzeugträger, mehr Kontrolle der Arbeiter über ihre eigenen Arbeitsbedingungen, unter Umständen reguliert durch Nationalbanken, sind allesamt Ausdehnungen jener bürgerlichen Idee selbst, wie krank und oftmals entstellt die bürgerliche moderne Gesellschaft auch immer geworden ist. (Citizens United war kein logisch unentrinnbares Ergebnis kapitalistischer Logik. Es war das Resultat des irren Geredes mehrerer durchgedrehter Richter. Wir sind die einzige fortgeschrittene kapitalistische Demokratie auf der Erde, die legalisierte Erpressung erlaubt.) Aber diese Themen sind für einen anderen Zusammenhang (und für die Tribüne eines Strassenredners) bestimmt. Ich werde mit einer Reflexion in Žižekschem Geiste schliessen.
V.
Žižek liefert uns zwei Bilder, ein literarisches und ein cineastisches, die uns dabei helfen sollen, die in seinem Reaktualisierungsversuch von Hegel für zeitgenössische Anliegen eingebrachte dialektische Gymnastik zu verstehen. Das erste betrifft das Problem Hegelscher „Versöhnung“ und das Beispiel ist das des rätselhaften und bewegenden Endes von J. M. Coetzees Roman Disgrace. Žižek stimmt die basale logische Struktur an, die er sein ganzes Buch hindurch verwendet, um „Negativität“ begreiflich zu machen. David Lurie scheint den Stand der Dinge „negiert“ zu haben, den grossen Anderen der Vernunft, das Vertrauen in die Polizei, die die Einzelnen haftbar macht für ihre Taten und an Einzelnen getanes Unrecht zu entschädigen sucht (Gerechtigkeit/Recht {justice}), weil er einsehen musste, wie unangebracht ein solcher Glaube in der bestehenden Nach-Apartheid-Wirklichkeit Südafrikas ist. Seine „Negation“ all dessen besteht darin, einfach zu tun, was immer er kann, um die den euthanasierten Hunden zugefügten Entwürdigungen zu minimieren, zufrieden mit seiner Geste der Bereitstellung einer respektvollen Beseitigung. Das ist natürlich bemitleidenswert und auf keinem Weg zur Versöhnung. Er scheint die schuldbeladene Aussöhnung seiner Tochter mit der Komplizenschaft ihres Nachbars an ihrer eigenen Vergewaltigung akzeptiert und auf seine eigene Weise verinnerlicht zu haben als den Preis, den es zu zahlen gilt, um sein Leben in Südafrika mit (in Žižeks Ausdruck) „ethischer Würde“ fortführen zu können. In der Welt unvermeidbarer Komplizenschaft mit dem Verbrechen in Südafrika ist der Verlust von Allem der Wetteinsatz dafür, dass „dieser vollständige Verlust selbst in eine gewisse Art von ethischer Würde verwandelt werden wird.“ (448)
Aber Žižek behauptet, dass in diesem Ende „etwas fehlt“, eine Geste des Trotzes und der Revolte, die „Negation der Negation“ genannt werden könnte, irgendeine „kaum wahrnehmbare Geste des Widerstands {…}, eine reine Figur des untoten Triebes“ (448), womit er eine „Versagung“ meint, eine Zurückweisung, die uns nicht zurückwürfe in den Status quo ex ante, sondern woraus eine Verwirklichung entspränge und „der phantasmatische Status des objet a (der Fantasierahmen, der das Begehren des Subjekts aufrechterhält) verlorengeht, sodass die Versagung dem Akt des Durchquerens des Phantasmas gleichkommt und den Freiraum schafft, durch den der reine Trieb jenseits des Phantasmas hervortreten kann?“ (448) Die natürliche Entgegnung auf diese Suggestion ist, dass eine jedwede solche Geste, die erfüllen würde, worum es Žižek geht, voraussetzte, dass alles an Davids ursprünglicher Position aus einem „Fantasierahmen“ bestünde, dass es keinen grossen Anderen gibt und dass eine Aufklärung unserer selbst über diese Täuschung uns in die Position brächte, dem Erscheinen eines „reinen“ Triebs jenseits des Phantasmas Raum zu geben. Das aber klingt nachgerade wie Davids ursprüngliche romantische Fantasie selbst, dass er ein Byronscher Diener des Eros sei, dass er die Hypokrisie und Gefälschtheit der konventionellen Moral des grossen Anderen durchschaue usw. Das ist das Phantasma, dem er sich selbst entrissen hat und dessentwegen seine Geste gänzlich symbolischer Grosszügigkeit zugleich so affirmativ und anmutig und so schwülstig und so begrenzt ist. Es gibt da keinerlei Žižeksche Geste des Trotzes, weil David die gefährliche Selbsttäuschung durchschaut hat, die in der Annahme liegt, man sei „der, der es wissen sollte“. Seine Mithilfe an Bevs Euthanasierung der Hunde und der Pflege ihrer Überreste ist in einer anderen als der von Žižek erwarteten Weise eine „Negation seiner ersten Negation“, eine Zurückweisung blosser Akzeptanz seines und seiner Tochter Schicksal. In der letzten Geste des Romans „gibt er auf“, anstatt wie von Bev erwartet den Hund zu retten, so wie er sich sein Schicksal selbst „aufgegeben“ hat und es nicht nur erleidet. Mit anderen Worten gibt es letztlich nichts un-Hegelscheres als die Idee eines Hervortretens „des reinen Triebs jenseits des Phantasmas“. Davids Geste bedeutet, dass er das Subjekt dessen bleibt, von was auch immer er getrieben wird, diesem eben nicht unterworfen. Die Idee von „reinen“ Trieben (oder von irgendetwas „Reinem“) gehört in den vorher erwähnten Hegelschen Zoo.
Das zweite Beispiel ist ebenso interessant: Hitchcocks Vertigo. Hier ist die Idee einer Negation, und einer Negation der Negation, leichter zu verfolgen. Scottie verliert Madeleine, oder die Frau, die er für Madeleine hielt; sie stirbt. Doch das war alles nur eine Inszenierung von Elster, um seine Frau zu ermorden. Madeleine war nicht Madeleine, sondern Judy, eine Frau aus der Arbeiterklasse, die von Elster in seine Inszenierung eingeweiht war. In dem Moment, wo Scottie das herausfindet, kann von ihm behauptet werden, dass er seinen Verlust verloren hat, dass er die Bedeutung seines Verlusts verloren hat. Er hatte nicht Madeleine verloren, denn Madeleine war Judy. Er muss die bitter ironische Wahrheit entdecken, dass die Frau, die er sich zur falschen Madeleine „zurechtzumachen“ versuchte, in Wirklichkeit die eigentliche Madeleine war (ist), weil seine ursprüngliche Madeleine eine Fälschung war. Wie in Disgrace ergibt sich ein ambiges Ende: Scottie blickt „in den Abgrund“, der gefallenen Judy nachsehend, und ist entweder ein gebrochener Mann, all den Idealisierungen und Fantasien entrissen, die die Liebe nähren, oder ein „neuer“ Mann, befreit von seinen Illusionen und versöhnt mit seinem neuen Realismus. Žižek benutzt diese Struktur, um die Begrenztheit einer Hegelschen „Negation der Negation“ zu suggerieren, derart, dass die beiden nahegelegten Lesarten von Scottie etwas vermissen lassen, dass sie den in Frage stehenden „Antagonismus“ noch immer zu „formell“ verstehen (was ich zuvor als „dialektischen Idealismus“ eingeführt und verteidigt hatte). Žižek drängt hier darauf, dass wir demjenigen gerecht zu werden haben, das „aus“ beiden Auflösungen herausfällt, einem „Überschuss“, einem „kontingenten Überbleibsel“, einem „kleinen Stück Realität“.
Wenn Žižek zur Erklärung übergeht, was er damit meint, scheint er mir in die Art von Positivismus und pseudo-realistischer Metaphysik zurückzufallen, die er zurecht zurückgewiesen hatte. (Man vergleiche das Zitat zu Beginn von Abschnitt II oben). Und die Rede von Exzess und Überbleibseln lässt es irrelevant werden, dass Žižek nicht etwas meint, das „der dialektischen Vermittlung einfach entgeht“, sondern ein „Produkt dieser Vermittlung“ ist. (658). Solch ein Exzess oder Überbleibsel fungiert in seiner Kritik noch immer „unvermittelt“ und dieser Begriff bleibt zutiefst unhegelisch, aus Gründen, um deren Darstellung ich mich die ganze Zeit bemüht habe.
Aber, möchte ich behaupten, etwas an der Vertigo-Struktur ist durchaus von Relevanz für die deutsche Tradition, wie Hegel sie sehen würde. Denn sicherlich ist der Begriff der Modernität selbst in dieser Tradition als „Verlust“ enthalten. Es fallen einem Hölderlin und Schiller ein und die Trauer um die verlorene „Schönheit“ der griechischen Welt, ein trefflicher Spiegel für Scotties Gram über die verlorene Madeleine-Version von Judy. Jetzt lässt sich sagen, dass Hegel zu Hegel wurde, als für ihn jener Verlust verloren war, jene Negation negiert, in einem viel prosaischeren Blick auf die griechischen Errungenschaften. Ich meine die Einsicht, zu der er, unter dem Einfluss der Denker der schottischen Aufklärung, kam, dass kein simpler Verlust im Ende des griechischen Ideals läge und dass der Verlust dieses Begriffs des Verlusts ein Gewinn sei, in dem Moment, als er die Entwicklung der modernen bürgerlichen Gesellschaft zu schätzen und das Fehlerhafte im Fantasieren über den Verlust einer natürlicheren Harmonie einzuschätzen lernte.[44] Die Helen-gleiche „Madeleine“ war die ganze Zeit über in Wirklichkeit „Judy“. (Dies bestätigt auf eigene Weise Žižeks Pochen darauf, dass Hegelsche Vermittlung keine „dritte“, synthetische Position ins Spiel bringt, sondern auf einem richtigen Verständnis des Antagonismus zwischen der „Negation“ und der „Negation der Negation“ beruht.) Das lässt sich sogar in der Begrifflichkeit von Hegels säkularisiertem Christentum ausdrücken – Madeleine war in Wirklichkeit Judy, oder Judy ist erfolgreich, für Scottie, zur Madeleine geworden, ganz ihr klagendes „Wieso kannst Du mich nicht für das lieben, was ich bin?“ veranlassend. Jedes „Judy“ ist ebenso ein „Madeleine“; jedes „Madeleine“ in Wirklichkeit ein „Judy“ in dieser egalitären, christlichen Vision.
Das kann von Scottie natürlich nicht geschätzt werden aus Gründen, die auch für Hegel relevant sind. Denn es ist just die Struktur von Judys Erscheinung als Madeleine, die von Elster zu dessen Vorteilsnahme manipuliert wurde in einer Art und Weise, die parallel läuft zu den ideologisch verzerrten und so falschen Vorgaben der erreichten Gleichheit in den zeitgenössischen bürgerlichen Gesellschaften („Gerechter Tausch zwischen Arbeit und Kapital auf dem Marktplatz“). Die Wahrheit der Identität war ruiniert, unwahr gemacht, weil sie inszeniert war. Was Hegel für die grösste Errungenschaft moderner Gesellschaft hielt – ihre Fähigkeit, ihre Bürger heranzubilden zu Gleichwertigkeit und grundlegender gegenseitiger Abhängigkeit und sie damit zu bilden in den Tugenden der Zivilisiertheit und Vertrauenswürdigkeit –, ist zu einer Lüge geworden (wenn jemals sie die Wahrheit war) und die Reedereibesitzer und Magnaten von der Art Elsters „steuern“ diese Bildung auf eine letztlich völlig theatralische Art, vergleichbar dem „Madeleine-Theater“, das speziell für Scotties Wohlbefinden aufgeführt wurde, um ihn zu täuschen. Wegen dieser Verdrehung kann er nicht zur Wahrheit des spekulativen Satzes herangebildet werden, dass „Judy Madeleine ist“, dass das Wesen seine eigene Erscheinung ist. Dementsprechend entpuppen sich Scotties Versuche, Judy in Madeleine zurückzuverwandeln als genauso manipulativ und verdinglichend wie die von Elster, anstatt dass sie zu realisieren vermöchten, dass Judy bereits Madeleine ist. (Nur eine weitere, noch deprimierendere Identität: Scottie und Elster, Schöpfer einer falschen Madeleine.)
Das erzwingt die Frage, ob da noch etwas übrig ist in der zeitgenössischen Gesellschaft, das auf irgendeine Weise die materielle Basis zu liefern vermöchte für Hegels Ansprüche an jene potentiell transformierenden und bildenden Fähigkeiten moderner bürgerlicher Gesellschaft. Niemand kann diesbezüglich etwas anderes sein als zutiefst pessimistisch, aber das Forschen nach solchen möglichen „Spuren der Vernunft“ scheint mir eine genuin Hegelschere und noch immer mögliche Aussicht zu bieten als alles, was sich zu ergeben vermöchte aus „abgründigen Akten“.[45]
Slavoj Žižek: Weniger als nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus, Suhrkamp 2014.
[1] Vgl. Žižeks Bemerkungen zu Hegel und dem zeitgenössischen Finanzkapitalismus (336). Zadie Smiths messerscharfe Zusammenfassung ist vielleicht die beste: Staaten sind nun dabei „zu de-regulieren, um Gewinne zu re-privatisieren, und zu re-regulieren, um Verluste zu nationalisieren.“ NYR BLOG, http://www.nybooks.com/blogs/nyrblog/2012/jun/02/north-west-london-blues/, June 2, 1012.
[2] Es gibt eine nüchterne und klare Aussage dazu, was wir aus einer Hegelschen Perspektive jetzt benötigen: „den kapitalistischen Horizont wirklich überschreiten {…}, ohne den Fehler zu machen, auf das überaus vormoderne Modell einer ausgeglichenen, (sich selbst) zurückhaltenden Gesellschaft zurückzufallen …“ (356). Sobald er aber dazu übergeht, seine Position zu erklären, erweist sich deren Kern als das Folgende: „Das Subjekt muss in seiner Entfremdung von der Substanz die Entfremdung der Substanz von sich selbst erkennen.“ (357). Es war mir nicht möglich zu verstehen, wie uns das Letztere dabei helfen soll zu tun, worauf die erste, nüchterne Aussage besteht. Das ist ein Problem, das im Weiteren regelmässig wiederkehren wird.
[3] Hier ist eine Menge an Abschweifungen und Qualifizierungen möglich. Ich vermag nicht zu sehen, warum jemand (iii) ernstnehmen würde. Ich würde „Dekonstruktion“ zu (iv), nicht zu (iii) zählen, würde mehr Kategorien einfordern (Pragmatismus in der analytischen [brandomianischen], rortyanischen oder habermasianischen Spielart; anormaler Monismus; die Phänomenologie ist in manchen Ecken noch immer quietschlebendig; Wittgensteins Zugang) und ich würde eine Hegelsche Version des Kompatibilismus verteidigen. Wichtig ist hier aber, für was Žižek einsteht, seine eigene Position.
[4] In einer ausführlicheren und damit vorsichtigeren Erörterung wären hier verschiedene Einschränkungen nötig. Der Fall von bewussten Wahrnehmungen {perceptual consciousness, while apperceptive} ist offensichtlich von derselben logischen Art wie ein Urteil {judgment}, ein empirischer Wissensanspruch {an empirical claim to knowledge}, und mehr Vorsicht wäre angebracht, um der Rolle der Spontaneität Rechnung zu tragen. Aber bewusstes Wahrnehmen ist nicht bloss differenzielle Responsivität, und das ist es, was wir für das Problem der „Negativität“ benötigen. Siehe dazu meine Besprechung dieses Sachverhalts in „Brandom’s Hegel“, European Journal of Philosophy 13:3 (2006) 381-408.
[5] Die „Inkorporationsthese“, so benannt durch den Kant-Forscher Henry Allison, erscheint erst spät in Kants Werk als ausdrückliches Thema (seiner Schrift Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft [1793]) und sie meint nicht, dass „Ursachen mich nur insofern {affizieren}, als ich ihnen gestatte, mich zu affizieren“ (236). „Nur sofern ich sie als vernünftige Gründe, etwas zu tun, zählen kann“ wäre genauer, und Neigungen affizieren mich in der Tat kausal (ich kann sehr stark dazu neigen, etwas zu tun). Was von Neigungen nicht gesagt werden kann, ist, dass sie diejenige körperliche Bewegung erzeugen, die als praktische Handlung gezählt werden soll. Es gibt nicht viele von diesen Fehlern und Ausrutschern, aber sie sind irritierend, wenn sie auftreten. Die Kritik der reinen Vernunft erschien 1781, nicht 1787 (21); Henrichs berühmter Aufsatz bezog sich auf „Fichtes ursprüngliche Einsicht“, nicht auf seine „Grundeinsicht“ (26) {Anm. d. Übersetzers: In der Deutschen Ausgabe ist dieser Lapsus korrigiert}. Und (für mich am bezeichnendsten) der Zeitungsredakteur am Ende von The Man Who Shot Liberty Valance sagte nicht „wenn die Realität nicht mit der Legende übereinstimmt, dann druck die Legende“ (577). Er sagte etwas für Žižeks Anliegen viel Relevanteres: „Das ist der Westen, mein Herr. Wenn die Legende zur Tatsache wird, drucken Sie die Legende.“ {Anm. d. Übersetzers: Das Zitat in der deutschen Ausgabe von Žižeks Buch entspricht der Pointe nach dem Vorschlag von Pippin.}
[6] Ich sage „es scheint so“, um dem Rechnung zu tragen, dass wir aus Žižeks Sicht so etwas sagen sollten wie: Die „Substanz“ negiert sich selbst, erzeugt eine Art von „Leerstelle“ {„gap“} und Unvollständigkeit, und dass dieser „Raum“ {space} das Subjekt ist. (Aber in welchem Sinn könnte vom Subjekt gesagt werden, dass es „sich selbst substanzialisiere“? Sich selbst negiere als Subjekt, einfach indem es Substanz ist?) Wie dem auch sei, Žižek meint nicht, dass ein Subjekt einfach eine Art von Eigenschaft einer materiellen Substanz ist. Ich meine zu verstehen, was die Leerstelle oder Selbstverneinung in Freudscher Begrifflichkeit bedeuten würde – dass natürliche, sogar biologische Reifung sich selbst als ein Subjekt erzeugt, das gespalten ist gegenüber sich selbst, unfähig, primäre Prozesse zu realisieren und zu befriedigen –, aber dies trifft nur auf menschliche Substanzen zu und ich denke nicht, dass es dieses Problem war, das die Nach-Kantianer angesprochen haben, und werde weiter unten zu sagen versuchen, weshalb nicht.
[7] Ich habe keinen Platz, um Žižeks interessante Parallellektüre von Substanz-Subjekt und Es-Ich zu besprechen, ausser um meine Zustimmung dazu zu geben, dass in keinem Fall die Formulierung „Wo es war, soll ich werden“ in einer rationalen Aneignung oder Beherrschung oder einfach Versöhnung mit dem „Nicht-Ich“ gipfelt. Siehe dazu 534 ff.
[8] G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 3 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1970), 22.
[9] Keine unvernünftige Sicht der Dinge. Siehe G. Fichte, Introductions to the Wissenschaftslehre and Other Writings, übers. und hrsg. von Daniel Breazeale (Indianapolis: Hackett, 1994), 84.
[10] Gemäss Žižek (201) besteht die Einzigartigkeit von Hegels Position darin, zu bestreiten, dass wir irgendeine Art von „Drittem“ benötigen, um sowohl Subjekt als auch Objekt zu begründen {to ground}. „Ihm geht es gerade darum, dass es keine Notwendigkeit für ein drittes Element, ein Medium oder einen Grund jenseits von Subjekt- und Objekt-Substanz gibt. Am Anfang steht die Objektivität und das Subjekt ist nichts als die Selbstvermittlung der Objektivität.“ Das aber ist ganz einfach objektiver Idealismus und reicht, wie ich zeigen will, noch nicht aus, um Hegels Position hinreichend von diesem abzugrenzen.
[11] Vgl. Žižeks Behauptung, dass Marx und Freud den „Antagonismus“ nur als soziale oder psychische Wirklichkeit begreifen können und nicht „wirklich in der Lage sind, den Antagonismus zu denken. Beide reduzieren ihn letztlich auf eine Eigenschaft der (gesellschaftlichen respektive psychischen) Realität und können ihn nicht als konstitutiv für die Realität selbst, als die Unmöglichkeit, um die herum die Realität gebaut ist, artikulieren …“. (346) Ich halte es hier mit Marx und Freud (und, wie ich denke, auch mit Hegel). Das berührt den für mich problematischsten Punkt des Buches, der vom Titel angekündigt wird, nämlich dass die Wirklichkeit {reality} „weniger als nichts“ sei. Die offizielle Erklärung des Titels erscheint auf Seite 679. Ich werde im letzten Abschnitt unten besprechen, was ich davon verstanden habe, wie man „von Nichts dessen Nichtheit selbst subtrahieren“ kann.
[12] G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 2 {1813} (hrsg. von Georg Lasson, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1975 {1934}, 221. Allein schon dieses Zitat scheint mir Žižeks Glosse zur Beziehung zwischen Kant und Hegel bezüglich der Apperzeption auszuräumen (394).
[13] Sebastian Rödl, Self-Consciousness (Cambridge, MA.: Harvard University Press, 2007), 17-64.
[14] Vgl. dazu Rödl über „nicht-empirische Erkenntnis materieller Realität“ auf Seite 122. Siehe auch die Seiten 131, 133-4, 138.
[15] Mit anderen Worten ist es das Selbstbewusstsein als notwendige Bedingung jeglichen menschlichen Handelns oder Denkens, das hinweist auf jemandes Handeln und Denken, gleichsam adverbial, ohne Introspektion zu beinhalten. Siehe meine Schrift Kant’s Theory of Form (New Heaven: Yale University Press, 1982), Kapitel 6, die Seiten 151 bis 187. Man tut, was man tut, man ist sich bewusst, was man sich bewusst ist, man denkt, was man denkt – wissend {knowingly}, also so, dass man es weiss. Vgl. anlässlich dieser Debatte Fichtes Formulierung in der Wissenschaftslehre: „…the self and the self-reverting act are perfectly identical concepts…“ (37) Und: „It is the immediate concsciousnes that I act and what I enact: it is that whereby I know something because I do it.“ (38). Oder: „Without self-consciousness there is no consciousness whatever, but self-consciousness is possible only in the manner indicated: I am simply active“ (41). {Anm. d. Übersetzers: Pippin gibt nicht an, auf welche Ausgabe von Fichtes Schriften sich die Seitenangaben beziehen.}
[16] Eben darauf will Žižek selbst, wie ich meine zu Recht, in seiner zustimmenden Zusammenfassung von Lukács hinaus (304). Siehe dazu auch Hegel in der Wissenschaft der Logik: „Der wichtigste Punkt für die Natur des Geistes ist das Verhältnis nicht nur dessen, was er an sich ist, zu dem, was er wirklich ist, sondern dessen, als was er sich weiss; dieses Sichwissen ist darum, weil er wesentlich Bewusstsein, Grundbestimmung seiner Wirklichkeit.“ G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 1, {1832}(hrsg. von Hans-Jürgen Gawoll, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1990), 17.
[17] Das ist deshalb kein Paradox, weil es keinen ursprünglichen Moment des Selbst-Entspringens {self-origination} gibt. Man ist immer schon in eine Position des Selbst-Setzens {self-positing} geraten, ist immer schon dabei zu werden, wer man ist. Das, denke ich, ist es, was Hegel meint, wenn er, zitiert bei Žižek auf Seite 648, in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie behauptet, dass man „nicht von der Einheit anfangen und zur Zweiheit übergehen“ solle, und nicht, wie Žižek sagt, eine „inhärente Selbstdistanzierung des Einen“ (649). Über dieses Problem wäre ein vieles mehr zu sagen. Für eine Erörterung einer kleinen Teilmenge dieser Zusammenhänge siehe die Kapitel 3 und 4 von Hegel’s Idealism: The Satisfactions of Self-Consciousness (Cambridge: Cambridge University Press, 1989), und Kapitel 3 von Hegel’s Pracitcal Philosophy: Rational Agency as Ethical Life (Cambridge: Cambridge University Press, 2008).
[18] Und dennoch scheint Žižek in anderen Zusammenhängen – wenn er zum Beispiel das „Selbstbewusstsein“ des Staats bespricht – genau dasselbe zu sagen, was hier gerade entwickelt wurde. Siehe 559 ff.
[19] Eine der geläufigsten Formulierungen und Verteidigungen dieser „Transparenzbedingung“ stellt Richard Morans Authority and Estrangement: An Essay on Self-Knowledge (Princeton: Princeton University Press, 2001) dar. Siehe auch Rödl, Kapitel 3.
[20] Dieser Problemzusammenhang, genauso wie jeder andere in diesem Absatz, ist wesentlich komplizierter, als was sich in dieser Zusammenfassung erfassen lässt. Was den letzten Punkt hier angeht, so machen die ansprechenden Filme der Dardenne-Brüder deutlich, wie viel mehr es noch darüber zu sagen gäbe. In allen ihren Filmen sieht es so aus, als ob ihre Figuren schauspielern würden, ohne dass sich sagen liesse weshalb. Besonders interessant ist, dass es ihnen dabei gelingt, eine Verbdingung zwischen der einnehmenden Undurchsichtigkeit und dem desintegrierenden Gewebe des spätkapitalistischen Lebens der Arbeiterklasse zu suggerieren. Sie fügen diese philosophisch-psychologischen Elemente und das Soziale in unscheinbarer und brillanter Weise zusammen. Siehe dazu besonders Le fils (2002).
[21] Das ist auch von Relevanz für die Frage, inwiefern das Vorstellungsvermögen von Tieren {the way that animals have representations} von dem unsrigen verschieden ist. Das ihrige ist intentional auf seine eigene Weise, aber es liefert keine Vorstellungen, die den Stellenwert von Erkenntnissen {cognitions} beanspruchen können, wie das die unsrigen tun. Ein Hund mag auf eine bestimmte Weise einen entfernten menschlichen Umriss sehen (sagen wir: vor dem Wind) und, sobald er eine unbekannte Person sieht, zu bellen beginnen, nur um etwas später damit anzufangen, mit seinem Schwanz zu wedeln, weil ihm die Person als die bekannte Person, die sie in Wirklichkeit ist, in den Blick gerät. Aber der Hund hat sich nicht selbst verbessert. Hier möchten wir sagen, dass zuerst ein Wahrnehmungsreiz {perceptual cue} eine Reaktion {response} (die man sogar als rationale Reaktion bezeichnen könnte {rational response}) hervorgerufen hat und dann ein weiterer Wahrnehmungsreiz (der detailliertere visuelle Eigenschaften in den Blick gebracht hat) eine andere Reaktion des Verhaltens hervorgerufen hat. Die Fülle des positiven Seins, könnten wir sagen. (Mir wäre beispielsweise nie aufgefallen, dass meiner Hündin das Unterlaufen eines solchen Fehlers – etwas, das ihr öfter passiert – peinlich gewesen wäre, denn sie hat keine Möglichkeit, zu wissen, dass sie einen Fehler begangen hat, den es zu korrigieren gälte. Das ist einfach nicht, wie sie die Sache sieht; sie sieht eine Menge von Reizen und dann eine andere Menge von Reizen. Das wäre eine Art und Weise auszudrücken, dass sie über keine Einheit der Apperzeption verfügt.)
[22] „Das Bewusstsein aber ist für sich selbst sein Begriff, dadurch unmittelbar das Hinausgehen über das Beschränkte und, da ihm dies Beschränkte angehört, über sich selbst …“ G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 3 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1970), 74. Die „logische“ Formulierung dieses Zusammenhangs lautet in der sogenannten Berliner Phänomenologie: „Ich ist nun diese Subjektivität, diese unendliche Beziehung auf sich, aber darin liegt, nämlich in dieser Subjektivität, die negative Beziehung auf sich, die Diremption, das Unterscheiden, das Urtheil. Ich urtheilt, diess macht dasselbe zum Bewusstsein, stösst sich von sich ab, diess ist eine logische Bestimmung.“ G.W.F. Hegel, Die Berliner Phänomenologie, §413, in: The Berlin Phenomenology (hrsg. und übers. von M. J. Petry, Doedrecht: Reidel, 1981), 2.
[23] So lautet Adrian Johnsons Formulierung in „Slavoj Žižeks Hegelian Reformation: Giving a Hearing to The Parallax View“, Diacritics 37.1: 3-20. Das ist in etwa die Position, die sich Žižek zugestehen lässt, wenn wir den Raum des Symbolischen (im lacanianischen Sinne) als den Raum des Normativen und folglich den Raum der Gründe {space of reasons} begreifen. Siehe seine Interpretation von Freuds kontroverser Bemerkung darüber, dass die „Anatomie“ „Schicksal“ sei, „mithin ein symbolisches Gebilde“, ein Schicksal, das wir herzustellen hätten (300).
[24] Nicht dass solche Entdeckungen für die Philosophie nicht von Relevanz sein könnten. Sicherlich sind sie es für Hegel. In §12 der Logik aus der Enzyklopädie sagt Hegel, „dass der Erfahrung die Entwicklung der Philosophie zu verdanken ist“; und im Kommentar zum §246 der Naturphilosophie sagt er, dass die Philosophie der Natur die Erfahrungslehre „zur Voraussetzung und Bedingung“ hat. Siehe auch den Zusatz zu §381 in der Einleitung zur Philosophie des Geistes. Diese Stellen sind allesamt von Relevanz für die Fragen, die Žižek auf den Seiten 627 und 633 aufwirft.
[25] Beim Anschneiden dieses Problemzusammenhangs nimmt Žižek eine nietzscheanische Haltung ein, die mir unmotiviert und fragwürdig erscheint. Von welcher Art ist die Macht (oder Autorität), die sich selbst nur rechtfertigen kann, indem sie sich auf die Interessen derer beruft, die sie beherrscht, eine Macht, die die Notwendigkeit anerkennt, Gründe als ihre Daseinsberechtigung anzubieten? Untergräbt sich ein solcher Begriff von Macht nicht selbst (589)? Im Weitergehen bezeichnet er ein solches Regime als „politikfeindlich“ und „‚technokratisch‘“. Sich auf Eigeninteresse zu berufen, ist aber nur eine Art von Begründung {reason}, und die Beschränkungen, die mit solchen Anforderungen eingeführt werden, untergraben, wenn sie überhaupt etwas untergraben, den Begriff der Beherrschung {the notion of mastery and rule} selbst. Ihre Aufgabe ist es nicht, einem derartigen Begriff zuzudienen, sondern die Begriffe der Autorität zu ersetzen.
[26] Die skeptische Angst, die wir dadurch als nur von unserem endlichen Standpunkt her verständlich behandeln würden, ist die illusionäre Angst, von der Hegel denkt, dass er sie in der Phänomenologie methodisch zerstört hat, als der „Deduktion“, wie er sagt, des Standpunkts der Logik. Die ausserordentlich einflussreiche heideggerianische Angst, dass all dies das Aufdrücken des menschlichen Willens auf die Frage nach dem Sein bedeute, ist Gegenstand einer anderen Debatte. Siehe Martin Heidegger, Nietzsche, Band 4, und meine Schrift „Heidegger on Nietzsche on Nihilism“, im Erscheinen.
[27] Robert Brandom, Making it Explicit: Reasoning, Representing, and Discursive Commitment (Cambridge, MA.: Harvard University Press, 1994).
[28] In kantischer Begrifflichkeit ergibt sich die Rolle der Vernunft, ständig nach der „Bedingung“ für irgendetwas „Unbedingtes“ zu suchen, aus jedem Versuch, ein „gerechtfertigtes“ (und damit freies) Leben zu führen. Siehe meine Erörterung dieses Zusammenhangs bei Kant in Hegel on Self-Consciousness: Desire and Death in the Phenomenology of Spirit (Princeton: Princeton University Press, 2011), 55-8.
[29] Zudem ist es so, dass eine derartige Interpretation in direktem Gegensatz zu Žižeks Charakterisierung davon stehen würde, wie all dies in Kant seinen Anfang genommen hat. Es ist nicht so, dass Kant und die Idealisten das Subjekt als „‚spontane{s}‘ (…) synthetische{s} Handeln, die Kraft der Vereinigung, des Zusammenbringens der Fülle von sinnlichen Daten, mit denen wir bombardiert werden, in eine einheitliche Darstellung der Objekte“ (150), begriffen hätten. Siehe auch Žižek, 208. Sicherlich war das nicht so bei Hegel; siehe sein Glauben und Wissen, übersetzt als: Faith and Knowledeg, übers. von W. Cerf und H. S. Harris (Albany, N.Y: SUNY Press, 1977), 62-70. Es ist auch nicht so, dass „apperception… changes the confused flow of sensations into ‚reality‘, which obeys necessary laws.“ {Anm. d. Übersetzers: Eine direkte Belegstelle für dieses Zitat war in Žižeks Buch nicht zu finden.} Zuallererst sagt Kant häufig, dass diese Art der Eindrucks-Lehre genau die Position ist, die er zurückweist, die dem Skeptiker „gerade das ist, was der Skeptiker am meisten wünscht.“ (B168) Siehe auch B138, die Fussnote B160 und die „dieselbe Funktion“-Passage in B105/A79. Zweitens ist es nicht so, dass diese synthetische Einheit „eine Lücke/Differenz in der substanziellen Realität {erzeugt}.“ (151). Die in Rede stehende Negativität („kein blosses Sein“) ist eine Sache der normativen Dimension apperzeptiven Erfahrens und Handelns. Ich schätze, dass man das als „Lücke im Sein“ bezeichnen könnte, aber dies schiene mir das Ganze unnötigerweise zu mystifizieren.
[30] D. Henrich, Between Kant and Hegel, hrsg. von D. S. Pacini (Cambridge, MA: Harvard University Press, 2008). Ein ungewöhnlicher Charakterzug von Žižeks Buch ist es, wie schwer in ihm die ausgewählte Sekundärliteratur wiegt „durch alle Linien hindurch“, mit wenigen Ausnahmen (Lebrun ist einer, mit dem Žižek nicht einverstanden ist). Auf Henrich, Malabou, Miller, Lebrun muss er sich am meisten stützen.
[31] Die Belege hierzu lege ich vor in Kapitel 3 von Hegel’s Idealism.
[32] G. Fichte, „Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre“, in: Erste und zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre (hrsg. von Fritz Medicus, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1961), 44/5.
[33] G. Fichte, „Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre“, in: Erste und zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre (hrsg. von Fritz Medicus, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1961), 60.
[34] G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Kollegnachschrift K. Chr. Fr. Krause 1798/99 (hrsg. von Erich Fuchs, Hamburg: Felix Meiner Verlag), 24/5. {Anm. d. Übersetzers: Pippin verwendet als Datierung 1796/99 gemäss seiner englischen Ausgabe. Die Wissenschaftslehre (nova methodo) ist nur in Vorlesungsnachschriften von Fichtes Hörern erhalten, wobei der sicherste Textbestand in Krauses Version aus dem WS 1798/99 besteht. Es sind aber auch weitere Nachschriften, unter anderem aus dem WS 1796/7 überliefert. Pippin bezieht sich auf folgende englische Edition und Übersetzung des Textes: G. Fichte, Foundations of Transcendental Philosophy (Wissenschaftslehre nova methodo) (1796/99), trans. and ed. Daniel Breazeale (Ithaca: Cornell University Press, 1992), 105-6.}
[35] Das ist aus den Aufzeichnungen zu seiner berühmten Aenesidemus-Rezension, in G. Fichte, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. von Reinhard Lauth und Hans Joacob (Stuttgart: Frommann-Holzboog, 1965), 11, 1, 287. Es ist wichtig, diesen Aspekt von Fichte richtig zu verstehen, um solche Festlegungen zu vermeiden, wie Žižeks sie auf Seite 390 macht, wo wir wieder von der „Selbstbegrenzung“ der Erscheinungen zu hören bekommen, der „‚ontologischen Unvollständigkeit‘ der phänomenalen Wirklichkeit“ und dem Gründen {ground} der Freiheit in „der ontologischen Unvollständigkeit der Realität selbst“ (391). Soweit ich diese Behauptungen verstehe, sind sie ebenso regressiv und dogmatisch metaphysisch wie die „unsäglichen Partikularisten“, die Verehrer des „Anderen“, die Žižek zu Recht kritisiert. Die Verbindung zwischen Selbstbewusstsein, Vernunft und Freiheit ruht nicht auf solchen Anrufungen.
[36] Wenn sie so beschrieben wird, wie Žižek sie, offenbar zustimmend, auf Seite 586/7 beschreibt, dann ist eine wahrhaft badiouanische Tat, der „Akt“, eine „Geste der radikalen und gewaltsamen Vereinfachung, ein {… zu vollziehender} Einschnitt wie beim sprichwörtlichen gordischen Knoten: de{r} magische{…} Augenblick, in dem sich das unendliche Abwägen zu einem schlichten ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ kristallisiert.“ „Magisch“ ist das richtige Wort; nahe daran, mystifizierend und unverständlich zu sein. Es schaudert einem vor dem Gedanken, wie viele solcher narzisstischer Täter es auskosten, wie das „Unendliche“ sich in IHNEN kristallisiert. (Dahinter steckt die Idee, dass die Stiftung einer neuen ethischen Ordnung zwangsläufig „abgründig“ sein muss, ungegründet {ungrounded} und kontingent (460), dass es kein 1789 ohne 1793 gibt (438) und so weiter. Aber das ist ein völlig nicht-hegelscher Begriff von „neu“ und damit von „Kontingenz“.
[37] Alle Handlungen haben solche Ex-ante-Intentionen, die aber provisorisch bleiben, bis sie in der Tat verwirklicht werden. Ein weiteres weites Feld. Siehe meine Schrift Hegel’s Practical Philosophy, Kapitel 6.
[38] Siehe besonders seine Zurückweisung des „organischen Modells“ Hegelschen geschichtlichen Wandels (375) und solche Bemerkungen wie die auf Seite 638. (Ich denke, dass die Unterscheidung zwischen natürlicher und vernünftiger {rational} Notwendigkeit in diesen Formulierungen viel deutlicher sein könnte. Ebenso verhält es sich mit den ausgeteilten Rügen „Notwendigkeit der Kontingenz“ und „Autopoesie“ auf Seite 640.)
[39] G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 13 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1970), 21. Siehe auch die Phänomenologie des Geistes, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 3 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1970), 492.
[40] Nichts an diesem Bild braucht angepasst zu werden, selbst wenn wir zugeben, dass eine jegliche solche Bezeichnung ihren eigenen „Überschuss“ {excess} erzeugt, ihren unvermittelten und zerreissenden „Überrest“ {remainder}. Dem mag so sein, es stellt aber nur eine weitere Problematik menschlicher Bezeichnungspraktiken dar, und nicht das ganze Problem.
[41] Ich sehe nichts, das Žižek gesagt hätte, um dem zu entgegnen, worauf die Tradition besteht: dass keine Aussage über einen solchen materialen Widerspruch in der Lage sei, irgendetwas auszusagen, ja überhaupt eine Aussage zu sein. Das Argument scheint zu sein, dass dies umso mehr gegen die Logik spräche, weil es solche Widersprüche tatsächliche gebe. Aber das beantwortet die Frage nicht. Siehe Charles Taylor, „Dialektik heute, oder: Strukturen der Selbstnegation“, in Hegels Wissenschaft der Logik: Formation und Rekonstruktion, hrsg. von D. Henrich (Stuttgart: Klett-Cotta, 1986), 141-53.
[42] Das eigentliche Problem von Hegels politischer Philosophie besteht in der gänzlichen Abwesenheit eines Zugangs zum politischen Willen und zur politischen Willensbildung. Der Gesetzgeber bestätigt ganz einfach nur, was bereits entschieden wurde. Siehe Michael Beresford Fosters unschätzbares und vernachlässigtes Buch The Political Philosophies of Plato and Hegel (Oxford: The Clarendon Press, 1935).
[43] Wenn Žižek eine Liste der Dinge gibt, „die Hegel ‚nicht denken kann‘“ (eingeschränkt durch eine Anzahl von „ja, aber …“-Vorschlägen), bestehend aus Dingen wie Wiederholung, dem Unbewussten, Klassenkampf, sexueller Differenz und so weiter (623), so sehe ich keinen Grund, warum Hegel irgendein grösseres Problem mit solchen Fragen und Problemzusammenhängen haben sollte als damit, Analysen und Diagnosen für etliche individuelle und soziale Pathologien zu liefern. Das sind nicht seine Fragen. Eine Plage kann das ethische Leben einer Gemeinschaft völlig abtragen und es kann für Jahrhunderte derart verwüstet bleiben. Dasselbe gilt für ein immer rasenderes und hysterischeres Konsumverhalten; genauso wie für die etwaige Todesspirale des globalen Kapitalismus (Siehe David Harvey, The Enigma of Capital and the Crises of Capitalism (Oxford: Oxford University Press, 2010)), und den Anfang einer jahrhundertelangen Umweltkatastrophe.
[44] Den dafür unentbehrlichen Zugang bietet Laurence Dickey, Hegel: Religion, Economics, and the Politics of Spirit, 1770-1807 (Cambridge: Cambridge University Press, 1987).
[45] Rüdiger Bubners Formulierung in „What is Critical Theory“, in: Essays in Hermeneutics and Critical Theory (New York: Columbia University Press, 1988).
* Dieser Beitrag erschien in Mediations, Journal of the Marxist Literary Group, Vol. 26, 1-2, 2013, und wurde aus dem Englischen übersetzt von Marco Toscano, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Universität Zürich.