Vorbemerkung
Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Frage, was Hegel, der Philosoph des „Weltgeistes“, dessen Denken durch die französische Revolution und die napoleonische Ära nachhaltig geprägt worden ist, zu einem zeitgemässen Begriff der Weltgesellschaft beizutragen hat. Angeregt hat mich dazu der vom Leipziger Philosophen Pirmin Stekeler verfasste Kommentar zur Phänomenologie des Geistes von Hegel.[1]
Wenn man darin liest, dass Hegel nicht nur für die Immanenz und damit die Weltlichkeit allen Geistes kämpft, sondern auch für das, was man damals und auch heute noch als Sozialität bezeichnet, wird man an Hegels Systemtheorie als einer „Proto-Soziologie ersten Ranges“, wie Stekeler sie bezeichnet, wohl kaum vorbeikommen. Der Verweis auf Sprache, Arbeit und Interaktion als den Medien, in denen dieser Geist am Werk ist, genügt dann ebenso wenig wie der Gemeinplatz, dass diese Medien durch „anschlussfähige Kommunikation“ Sinn stiften.
Es gibt eine Vielzahl von Versuchen, Systeme der Sozialität auf der Grundlage zwischenmenschlicher Kooperation zu bilden, die selbstredend Sprache, Arbeit und Interaktion beinhaltet. Es gibt aber nur wenige dieser Systeme, die eine Struktur zu generieren vermochten, die mehr als ein paar Generationen überdauert hat. Hegels Diktum, dass alles, was geworden ist, wert ist, dass es zu Grunde geht, kann durchaus ironisch auch an die Adresse jener gerichtet werden, die sich beflissen um eine Beschreibung des Strukturwandels aller möglichen Systeme bemühen, ohne sich je die Grundsatzfrage zu stellen: Warum gibt es überhaupt Strukturen, die durch Systeme der Sozialität generiert werden und nicht vielmehr einen „entropischen“ Naturzustand?
Vom Entstehen einer Weltgesellschaft als einem umfassenden System der Sozialität kann vermutlich erst nach dem Ende des 2. Weltkrieges gesprochen werden. Der Begriff der Weltgesellschaft setzt voraus, dass es gemeinsame Werte gibt, die aufgrund von ähnlich ablaufenden Institutionalisierungsvorgängen für die verschiedensten nationalen Bevölkerungen relevant geworden sind. Zu diesen Werten gehörten allem voran die Menschenrechte und die Werte der Entwicklung, vielleicht auch der Weltfrieden, also der Konsens darüber, dass es kriegerische Auseinandersetzungen in der Weltgesellschaft zu verhindern gilt.
Wenn wir die Weltgesellschaft als ein einziges zusammenhängendes Interaktionsfeld definieren, dessen Akteure bestimmte Werte gemeinsam haben, die sich aus ihrer Mitgliedschaft in der Weltgesellschaft ableiten lassen, sind wir mit dem Problem konfrontiert, dass die Akteure oder personalen Subjekte, wie Stekeler sie in seiner Interpretation von Hegels Protosoziologie bezeichnet, sich zunächst als Mitglieder einer familialen Gemeinschaft, einer Gesellschaft und/oder eines nationalen Staates, nicht aber als Mitglieder einer alle diese partikulären Interaktionsfelder umfassenden Weltgesellschaft betrachten. Mit anderen Worten haben wir es hier mit einem Typus von Gesellschaft zu tun, die im Unterschied zu familialen und lokalen Gemeinschaften oder nationalstaatlich organisierten Gesellschaften über keine eigene Identität in diesem Sinne verfügt.
Ein Versuch, das Problem der fehlenden Identität der Weltgesellschaft theoretisch zu lösen, wurde von Luhmann unternommen.[2] Dass es kosmopolitische Einstellungen und Codes in „weltbürgerlicher Absicht“ gibt, ist allerdings seit Kant nicht neu. Meine These ist die, dass Hegels Begriff des „Weltgeistes“ nichts mit derartigen kosmopolitischen Einstellungen und Codes zu tun hat, sondern dass damit eine Projektion des „generischen Wir“ (Stekeler) auf die „Menschheit“ gemeint ist, die sich ihrer Identität als einer einzigen weltweiten Gesellschaft mit gemeinsamen Interessen in Form eines gemeinsamen kooperativen Projekts erst noch bzw. heute wieder bewusst werden muss.
Ein soziologischer Code zur Beschreibung der Weltgesellschaft
Der hier verwendete Code zur Beschreibung der Weltgesellschaft und ihres Wandels[3] unterscheidet zwischen verschiedenen Systemen und Systemebenen. Systeme sind Einheiten von Systemen einer höheren Systemebene mit Ausnahme der Weltgesellschaft, und Einheiten sind Systeme von Einheiten einer tieferen Systemebene mit Ausnahme der personalen Subjekte. Die Weltgesellschaft kann somit als eine komplexe Struktur von sozialen Systemen beschrieben werden, die jeweils eine bestimmte Intensität und normative Dichte der Interaktion zwischen individuellen bzw. kollektiven Akteuren aufweisen.
Soziale Interaktionsfelder sind handlungsrelevante Erfahrungsräume, die durch gesellschaftliche Orientierungshorizonte voneinander abgegrenzt werden. Solche Orientierungshorizonte implizieren die Existenz von mehr oder weniger partikulären Bildern, mit denen die Akteure ihren jeweiligen handlungsrelevanten Erfahrungsraum ausstatten und die es ihnen ermöglichen, eine gemeinsame Perspektive auf ihre weitere Umgebung zu fixieren. Solche partikulären Bilder betonen die Einzigartigkeit und damit Unvergleichbarkeit der eigenen Gesellschaft. Sie stützen sich inhaltlich auf eine gemeinsame Geschichte und Kultur und vielfach auch auf eine gemeinsame Sprache, die als Teil eines kollektiven Gedächtnisses tradiert wird.
Die wichtigste Idee, die zur Verknüpfung solcher durch gesellschaftliche Orientierungshorizonte abgegrenzten Interaktionsfelder verwendet wird, beruht auf der Vorstellung, dass diese aus der Perspektive der jeweiligen Akteure aus gesehen konzentrisch zueinander gelagert sind und zwar im Sinne eines „Kreises von Kreisen“, der die personalen Subjekte über die „Vermittlungen“ der familialen Gemeinschaften, der weiteren Gesellschaft und den nationalen Staat mit der Weltgesellschaft zusammenschliesst. Obwohl nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus der osteuropäischen Länder die „Weltbürgergesellschaft“ gefeiert worden ist, muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass nationalistisch geprägte Orientierungshorizonte in der gegenwärtigen Weltgesellschaft nach wie vor dominieren. Die Betonung wird deshalb hier auf die Weltgesellschaft als Umgebung von nationalen Staaten gesetzt.
Die „nationalen Interessen“, die durch Staaten im Aussenraum zur Geltung gebracht worden sind, dienen heute allerdings nicht mehr so sehr zur Rechtfertigung externer politisch-militärischer Aggression bzw. Verteidigung gegen eine tatsächliche oder vermeintliche externe Bedrohung durch einen nachbarstaatlichen Aggressor, sondern sie dienen vor allem der Selbstlegitimation von staatlichen Sicherheitsapparaten, die angesichts der „weltweiten terroristischen Bedrohung“ für eine erhöhte Berechenbarkeit von gesellschaftsinternen Prozessen im Dienste des sogenannten „Standortwettbewerbs“ zwischen nationalen Staaten zuständig sind. Die Globalisierung, die durch multinationale Korporationen und transnationale Finanzorganisationen vorangetrieben wird, ist aus einer Weltgesellschaftsperspektive gesehen alles andere als umfassend: Sie hat zu einer Polarisierung zwischen nationalen Staaten geführt, die in diesem „Standortwettbewerb“ mithalten können müssen, um zu den „Modernisierungsgewinnern“ zu gehören, und nationalen Staaten, die gegenüber der Weltwirtschaft immer stärker marginalisiert werden und als sogenannte „failed states“ aus diesem „Standortwettbewerb“ ausgeschieden sind, wenn sie überhaupt je dabei waren. Die Weltgesellschaft, zu der auch die marginalisierten Teile der Weltbevölkerung gehören, umfasst mit anderen Worten noch einiges mehr als das, was man heute unter einer globalisierten Weltwirtschaft versteht.
Die Revitalisierung von historisch älteren Kulturen, die z.T. mit nationalistischen Orientierungshorizonten kontaminiert sind, diese z.T. aber auch unterlaufen, ist nicht die Ursache, sondern eine Folge der abnehmenden Relevanz von Werten der sozio-ökonomischen Entwicklung und der Menschenrechte, die Teil einer nach dem Ende des 2. Weltkrieges institutionalisierten Weltkultur darstellten. Es mag sein, dass das kooperative Menschheitsprojekt, das insbesondere von der UNO und ihren Unterorganisationen in Angriff genommen worden ist, allzu idealistisch konzipiert war, weil damit enorme Erwartungen geweckt worden sind, die dann nur in einem begrenzten Masse erfüllt werden konnten. Trotz der Propaganda gegen die Entwicklungswerte, die Menschenrechte und die Organisationen, die diese Werte und Rechte verteidigen, wird man an diesem kooperativen Projekt festhalten müssen, weil es keine Alternative dazu gibt.
Das Entstehen einer Weltgesellschaft bedeutete eine faktische Verkleinerung des Handlungsspielraumes von nationalen Regierungen, deren interne Legitimität sich immer stärker auch am Ausmass bemessen hat, in dem diese den Entwicklungserwartungen der Bevölkerungen und den Menschenrechten, die unmittelbar für sämtliche Mitglieder der Weltgesellschaft relevant geworden sind, tatsächlich oder zumindest symbolisch Rechnung zu tragen vermochten. Der Erwartungsdruck, dem die verschiedensten nationalen Regierungen auf ähnliche Weise ausgesetzt gewesen sind, manifestierte sich in Form von politisch relevanten Entwicklungspotentialen, denen gegenüber die im Bezugsrahmen des nationalen Staates institutionalisierte politische Macht nicht indifferent bleiben konnte. Sicherlich haben antikolonialistische und antiimperialistische Ideologien in einem wesentlichen Masse zur Strukturierung dieser Entwicklungspotentiale beigetragen. Wichtig bleibt in diesem Zusammenhang allerdings die Frage, inwieweit nationale Regierungen unter dem Druck dieser Entwicklungspotentiale soziale und wirtschaftliche Entwicklungsprozesse in Gang gesetzt haben, die zu einer tatsächlichen Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung geführt haben.
Die weltweite Erwartungsstruktur, die eine Mobilisierung von politisch relevanten Entwicklungspotentialen und deren Umsetzung in nationale Entwicklungsprozesse begünstigt hat, dürfte ihre maximale Determinationskraft bereits kurz nach Mitte der 1960er Jahre erreicht haben. Die mehr oder weniger vollständige Ausschöpfung der Möglichkeiten, den individuellen Lebensstandard auf dem Wege der Bildung und Abwanderung in die Stadt (Urbanisierung) zu erhöhen, hat zu einer tiefgreifenden Entlegitimierung des internationalen, auf der Basis von Werten der Entwicklung geschichteten Systems vor allem in den Augen der Bevölkerungen in den Entwicklungsländern geführt. Die Voraussehbarkeit der politischen Konsequenzen, die aus der zunehmenden Frustration von Entwicklungserwartungen resultierten, hat dazu geführt, dass selbstgesteuerte Prozesse einer binnenorientierten nationalen Entwicklung immer mehr zugunsten von neuen Formen der Abhängigkeit von der Weltwirtschaft (einschliesslich neuer Formen der staatsunternehmerischen Kontrolle von ausländischen Direktinvestitionen), aufgeben worden sind.
Die neoliberale Erwartungsstruktur, die den neuen Formen der Abhängigkeit von der Weltwirtschaft entspricht, stellt an nationale Regierungen andere Anforderungen als eine nationale Entwicklung, nämlich zunehmende Exportorientierung, Öffnung für ausländische Direktinvestionen und Konformität ihrer Wirtschaftspolitik mit den Interessen von weltweit operierenden interorganisationellen Systemen der wirtschaftlichen Macht, die durch multinationale Industriekorporationen und transnationale Finanzorganisationen zur Geltung gebracht wird. Die sozialen Kosten zur Durchsetzung dieser neoliberalen Erwartungsstruktur waren enorm und sie sind dies bis auf den heutigen Tag geblieben. Die sogenannte Globalisierung, die von den Zentren der wirtschaftlichen Macht in ihrem eigenen Interesse vorangetrieben wird, hat, wie bereits erwähnt, zum Entstehen einer Peripherie zweiter Ordnung innerhalb der Weltgesellschaft geführt, der gegenüber Bevölkerungen an der klassischen Peripherie des internationalen Systems als „Modernisierungsverlierer“ ausgegrenzt und marginalisiert worden sind. Die internationale Entwicklungs- und Katastrophenhilfe, die diesen „Modernisierungsverlieren“ zugutekommt, ist Weltsozialarbeit auf einem hohen Niveau, die sich mit den „externalisierten“ sozialen Folgekosten der Globalisierung befasst.
Die politisch-militärische Macht, die durch Nationalstaaten auf der Grundlage von national aggregierten Ressourcen im Aussenraum zur Geltung gebracht worden war, ist nach dem 2. Weltkrieg alles andere als verschwunden. Dennoch kann man rückblickend auf die ersten beiden Entwicklungsdekaden sagen, dass die Aufteilung der weltweiten politisch-militärischen Machtstruktur in die beiden Segmente der Supermächte USA und der UdSSR einerseits und das Segment der blockfreien Nationen andererseits einen vergleichsweise stabilen Bezugsrahmen für die Verfolgung einer an den Zielen der Entwicklung und Gerechtigkeit ausgerichteten Weltinnenpolitik darstellten. Ein Beispiel dafür, dass externe politisch-militärische Interventionen in der Weltöffentlichkeit als äusserst illegitim empfunden worden sind, war der Vietnamkrieg. Als eine Folge des Wettrüstens der beiden Supermächte im Rahmen der „Systemkonkurrenz“ und des Transfers von Rüstungsgütern in die Entwicklungsländer, die „Stellvertreterkriege“ auszufechten hatten, wurden dem Projekt einer Weltinnenpolitik in zunehmenden Masse die Ressourcen entzogen.
Die „Revolution der steigenden Erwartungen“, die durch dieses Projekt einer gemeinsamen Weltinnenpolitik in Gang gesetzt worden ist, hat mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung auch an den Grenzen der realsozialistischen Gesellschaften Osteuropas nicht Halt gemacht und in einem wesentlichen Masse zum Zusammenbruch des „sozialistischen Weltsystems“ von innen her beigetragen. Mit Ausnahme von Nordkorea gibt es wohl keine Gesellschaft mehr, die sich aufgrund der totalen Abschirmung der Bevölkerung durch den Staat gegenüber weltgesellschaftlichen Einflüssen bis auf den heutigen Tag zu reproduzieren vermochte. Ein früheres Beispiel einer solchen radikalen Abschliessung gegenüber der Aussenwelt mit den bekannten Folgen stellte das Pol Pot-Regime in Kambodscha dar.
Der Verlust einer gemeinsamen sozialstrukturellen Perspektive auf die Weltgesellschaft als eine Folge der Entlegitimierung des internationalen Entwicklungssystems und der zunehmenden Überlagerung der ökonomischen Struktur dieses Systems durch weltweite interorganisationelle Systeme der wirtschaftlichen Macht, die sich der Kontrolle von nationalen Staaten immer mehr zu entziehen vermögen, scheint erst mit dem Zusammenbruch des „sozialistischen Weltsystems“ endgültig besiegelt worden zu sein. Um in der sozial-historischen Terminologie von Immanuel Wallersteins Weltsystem[4] zu sprechen, gibt es von allem Anfang an nur ein einziges, seiner historischen Genese nach kapitalistisches Weltsystem, und alle Versuche, mit diesem System zu brechen, sind eine Folge von Widersprüchen, die diesem System inhärent sind und die ihm deshalb immer nur zu der für seine Reproduktion erforderlichen Dynamik und Anpassungsfähigkeit verhelfen. Hier wird der Geist des Kapitalismus als „Weltgeist“ verabsolutiert, der für alle Probleme verantwortlich gemacht wird, mit denen sich die Menschheit herumzuschlagen hat, ohne dass er dafür von irgendjemandem zur Rechenschaft gezogen werden kann. Auch wenn es für die Analyse bedauerlich ist, wird dieser sozial-historische Weltbegriff der Tatsache nicht gerecht, dass der „Weltgeist“ erst nach dem Weltgericht, das in Form von zwei verheerenden Weltkriegen stattgefunden hat, eine Weltgesellschaft in ihr äusseres Dasein entlassen hat, die sich auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen eine eigene Verfassung gegeben hat, die man weder als kapitalistisch noch als sozialistisch bezeichnen kann.
Von der auf der Grundlage dieser Verfassung konzipierten Weltgesellschaft als eines internationalen Entwicklungssystems, zu dem im Prinzip sämtliche Nationen Zugang hätten, um nach Massgabe ihrer eigenen Entwicklungsanstrengungen ihre Position in diesem System zu verbessern, aber auch von einer Weltgesellschaft, in der die Menschenrechte als Grundlage des Völkerrechts zunehmende Anerkennung gefunden haben, scheinen wir heute weiter entfernt zu sein als je zuvor. Der Zerfall von konsensualen Strukturen, auf denen die Nachkriegsordnung beruhte, hat einen Trend in Richtung zunehmender Entropie der Weltgesellschaft in Gang gesetzt. Das Verhalten der in diesem Weltganzen nunmehr sich selbst überlassenen nationalstaatlichen Akteure ist dadurch immer unberechenbarer geworden. Wenn man heute von einer „Weltrisikogesellschaft“ spricht, sollte man diesen Aspekt nicht aus den Augen verlieren.
Zunehmende Entropie bedeutet, dass Spannungen, die aus der ungleichen und/oder ungerechtfertigten Verteilung von Gütern auf Weltebene resultieren, nicht mehr artikuliert werden. In dem Masse, wie diese Spannungen auf dem Wege von nationalen Entwicklungsprozessen nicht mehr abgebaut werden konnten, haben sich diese vom internationalen Entwicklungssystem auf das intergouvernementale System der politisch-militärischen Macht verlagert. Die bekannte Folge davon ist, dass die klassische Macht- und Gegenmachtperspektive wieder stärker in den Vordergrund gerückt ist. Weltweite, aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der Weltgesellschaft begründete Entwicklungsinteressen nationaler Bevölkerungen spielen, wenn überhaupt, nur noch in Kombination mit partikulären Interessen von nationalen Staaten und grossen Wirtschaftsorganisationen eine Rolle, welche wiederum die Ziele des wirtschaftlichen Wachstums in ihrem eigenen Interesse hypostasieren und weder an Weltentwicklung noch Weltgerechtigkeit interessiert sind.
Regionale Zusammenschlüsse von Staaten, die derselben Entwicklungsschicht angehören, können als Versuch gedeutet werden, der zunehmenden Entropie der Weltgesellschaft entgegenzuwirken. Wie das Beispiel der EU zeigt, vermochte die Abschirmung eines gemeinsamen wirtschaftlich liberalisierten und deregulierten Binnenraums nicht zu verhindern, dass sich extern generierte Spannungen immer stärker auch in diesen Binnenraum und in die einzelnen nationalen Gesellschaften hinein verlagern. Weite Teile der Bevölkerung scheinen auch in diesem Teil der Welt den Glauben an ein wirtschaftliches Wachstum verloren zu haben, das zwar eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung für eine Verbesserung bzw. Aufrechterhaltung des erreichten Lebensstandards darstellt. Stattdessen sind auch diese heute vor allem an einer direkten Begrenzung bzw. Verringerung der ungleichen bzw. ungerechtfertigten Verteilung von Gütern in den eigenen Gesellschaften interessiert und es ist vor diesem Hintergrund klar, dass das Projekt der EU ohne den Finanzausgleich zwischen den beteiligten nationalen Staaten und sozialstaatliche Umverteilungsmassnahmen im Innern der betreffenden Gesellschaften chancenlos bleiben wird.
Wie bereits erwähnt, hängt die Reproduktion von nationalen Staaten auch von der Schaffung eines Orientierungshorizontes für seine Mitglieder ab, der auf den ethnozentrischen Effekten von partikulären Nationalkulturen beruht. Ob es der EU gelingt, diese ethnozentrischen Effekte zu überwinden und einen supranationalen Staat mit eigener Identität auf der Basis von europäischen Werten (oder gar „abendländischen Werten“) zu schaffen, bleibt allerdings angesichts der Rückkehr eines sich auf eben diese nationale Identität berufenden reaktionären Verteidigungsnationalismus fraglich. Was dabei unter dem Vorwand der nationalen Identität verteidigt wird, sind handfeste ökonomische Klasseninteressen. Diese neuen Klassenpotentiale, die ideologisch in Form von nationalistischen Ideologien strukturiert sind und die von Parteien der Rechten und neuerdings auch von Parteien der nationalen Linken populistisch instrumentalisiert werden, sind nicht strukturell bedingt wie die früheren politisch relevanten Klassenpotentiale, die durch kapitalistische Industrialisierungsprozesse im Verlaufe von nationalen und wirtschaftlichen Entwicklungsprozessen hervorgebracht wurden, sondern sie stellen ein Produkt der Transformation von Entwicklungspotentialen dar, die ihre Interessen in der Vergangenheit in Form eines progressiven, auf die Weltgesellschaft bezogenen Entwicklungsnationalismus artikuliert haben.
Obwohl die Tendenz zur Abschliessung nationaler Gesellschaften gegenüber ihrer weiteren Umgebung häufig auch als Massnahme gerechtfertigt wird, um den negativen Effekten der ökonomischen und politischen Abhängigkeit von neoliberalen Deregulierungsstrategien entgegenzuwirken, liessen sich daraus bisher keine neuen eigenständigen Entwicklungsimpulse für die betroffenen Gesellschaften ableiten. Dennoch scheint die weltweite Erwartungsstruktur, die sich in Form einer neoliberalen Konterrevolution gegen die Entwicklungsinteressen nationaler Bevölkerungen durchgesetzt hat, durch die von ihr begünstige Strategie der Denationalisierung von Wirtschaftspolitiken einen neuen Widerspruch in Form der genannten nationalistisch strukturierten Klassenpotentiale zu erzeugen, der zusammen mit dem Erstarken von fundamentalistischen Bewegungen auch in bislang säkular gebliebenen islamischen Staaten zu einer weiteren Schwächung dieser Erwartungsstruktur führen dürfte.
Das neoliberale Projekt, auf der Grundlage eines globalisierten Supermarktes eine neue Weltkonsumgesellschaft zu errichten, wäre ohne die Beteiligung von nationalen Staaten, die zugunsten der Kooperation mit der weltweiten Wirtschaftsmacht freiwillig oder gezwungenermassen auf eine an den Interessen der eigenen Bevölkerung orientierte Politik der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung verzichtet haben, nicht durchführbar gewesen. Angesichts einer der grössten und am längsten anhaltenden Welle der Migration in der neueren Geschichte, die durch den entropischen Zustand der Weltgesellschaft ausgelöst worden ist, üben sich die nationalen Regierungen in den Zentrumsländern unter dem Druck der Legitimationsanforderungen ihrer „eigenen“ Bevölkerungen im Spagat zwischen wirtschaftspolitischer Öffnung als „Exportnationen“ und sozialer Schliessung als „Einwanderungsgesellschaften“. Antirassismusgesetze zur Bekämpfung der Xenophobie der „einheimischen Bevölkerung“, die durch den reaktionären Verteidigungsnationalismus geschürt wird, können sich zwar auch auf die Menschenrechte berufen. Wie es mit diesen Menschenrechten in Ländern bestellt ist, in die Technologien und Know-how exportiert werden, die dann zur Bekämpfung der inneren und äusseren Feinde des Staates eingesetzt werden, steht auf einem anderen Blatt.
Die „sittliche Substanz“ als Legitimationsgrundlage des Staates
Damit komme ich auf das „generische Wir“ Stekelers zurück, das zurückübersetzt in die Terminologie Hegels nichts anderes als jenen „objektiven Geist“ bedeutet, der als Verwirklichung der sittlichen Idee der Menschheit diese über den Naturzustand heraushebt und jedem Menschen das Recht auf sein Leben und die Verwirklichung seines Lebens in der „unendlichen Freiheit“ seines Selbstbewusstseins zugesteht. Hegel lehrte nicht den Machtstaat, sondern den Rechtsstaat, worunter er nicht bloss die institutionalisierte politische Macht und deren Verwaltung durch die staatliche Administration, sondern den gesamten Verfassungsrahmen der Gesellschaft versteht, dessen Zweck in der Verwirklichung dieser sittlichen Idee besteht.
Die familiale Gemeinschaft ist als „unmittelbare Substantialität des Geistes“ gewissermassen das grundlegende System in dem aus der Perspektive des personalen Subjekts konzentrisch gelagerten Systemaufbaus Hegels. Das „generische Wir“, das aufgrund der Mitgliedschaft der personalen Subjekte in dieser familialen Gemeinschaft entsteht, beruht auf der sittlichen Empfindung in Form des Natürlichen, die Hegel als Liebe bezeichnet. Diese ist aber ein subjektives Empfinden und als ein solches eine launenhafte und vergängliche Gestalt, die das unmittelbare sittliche Verhältnis zwischen den Geschlechtern als dauerhafte Grundlage von Gesellschaft und Staat nicht haben darf, wenn es nicht in den Naturzustand eines rein physisch bzw. biologisch definierten Geschlechtsverhältnisses zurückfallen soll. Hegel spricht sich im Hinblick auf die Gründung einer Familie für die Verrechtlichung des Geschlechtsverhältnisses und gegen das Konkubinat aus, bei dem es seiner Ansicht nach hauptsächlich auf die Befriedigung des Naturtriebs, kurz gesagt auf Sex ankommt. Allerdings vermag die „Frechheit des gesetzgebenden Verstandes“ die spekulative Natur des substantiellen Verhältnisses der Ehe nicht zu fassen, wenn man diese wie Kant auf einen Vertrag zum gegenseitigen Gebrauch der Geschlechtsorgane durch ihre Besitzer herabwürdigt und damit von der auf gegenseitiger Zuneigung und Vertrauen beruhenden emotionell-affektiven Seite der sinnlichen Liebe, die ihr sittliches Moment ausmacht, vollständig abstrahiert.
Zur Vollendung der Familie im Sinne der Verwirklichung der sittlichen Idee gehören nach Hegel drei Seiten: Erstens eine Institutionalisierung des unmittelbaren sittlichen Verhältnisses zwischen den Geschlechtern auf der Grundlage der freien Einwilligung der beteiligten Personen in einen staatlich anerkannten Ehevertrag, der den familiären Binnenraum gegenüber Übergriffen von aussen schützt und dem sittlichen Verhältnis zwischen den Vertragspartnern eine relativ dauerhafte Gestalt verleiht; zweitens das Recht der Familie auf ein äusseres Dasein, nämlich Güter erwerben zu können, um für die Familie materielle Vorsorge zu treffen, und schliesslich drittens das Recht der Familie, die Kinder in ihrem Bestreben zu unterstützen, sich aus ihrer nun allerdings nicht selbstverschuldeten Unmündigkeit heraus zu eigenständigen, d.h. selbstbewussten Persönlichkeiten zu entwickeln, um diese schliesslich als solche aus den Banden der Familie zu entlassen.
Vor dem Gesetz sind Mann und Frau und dann auch die mündig gewordenen Kinder als personale Subjekte formal gleichgestellt und erst in einem solchen durch den Rechtsstaat vorgegebenen Bezugsrahmen kann das Projekt der sittlichen Menschheitsidee, wie es Hegel vorschwebt, verwirklicht werden. Nun geht es Hegel im Unterschied zu Kant nicht darum, die Menschheit darüber zu belehren, wie die Welt sein soll und diesbezüglich „kategorische Imperative“ zu formulieren, aus denen dann idealtypische Verhaltensweisen abgeleitet werden, die den Rationalisten in der Nachfolge Kants als Mittel zur Verhaltenssteuerung von personalen Subjekten dienen. Hier erweist sich Hegel in der Tat als ein „Protosoziologe ersten Ranges“, der seiner Zeit weit voraus war, wenn er im Ist-Zustand des in der Familie institutionalisierten Geschlechtsverhältnisses als eine „ewige Ironie des Gemeinwesens“ die Unterdrückung (und Selbstunterdrückung) der Frau und Mutter erkennt, auf deren Grundlage sich das die Familie umfassende und in sie einmischende Gemeinwesen bis auf den heutigen Tag fast überall auf der Welt reproduziert. In diesem Sinne trifft die feministische Analyse zu, dass die Frauen die letzte Kolonie der Weltgesellschaft sind, deren Befreiungskampf sich nachhaltig auf die Zukunft dieser Gesellschaft auswirken wird.
„Indem das Gemeinwesen sich nur durch die Störung der Familienglückseligkeit und die Auflösung des Selbstbewusstseins in das Allgemeine sein Bestehen gibt, erzeugt es an dem, was es unterdrückt und was ihm zugleich wesentlich ist, an der Weiblichkeit überhaupt, seinen inneren Feind.“ (Hegel, zit. nach Stekeler, Bd. 2, S. 235) Mit der „Auflösung des Selbstbewusstseins in das Allgemeine“ ist hier wohl die Ablösung der selbständig gewordenen Kinder von der Familie gemeint. Um Hegel zu paraphrasieren, liegt die „ewige Ironie“ des Gemeinwesens, das sich auf Kosten der Unterdrückung der Frau, des „geliebten“ inneren Feindes patriarchalisch strukturierter Gesellschaften reproduziert, vor allem darin, dass die Mutter an ihrem geliebten Sohn ihren Herrn geboren und die Schwester an ihrem geliebten Mann seinesgleichen gefunden zu haben glaubt und die ihrer Unselbständigkeit entnommene, an sich friedensliebende Tochter im kriegsbegeisterten, tapferen Jüngling jene Männlichkeit vor sich zu haben glaubt, die ihr zum Genuss und auch zur Würde ihrer Frauenschaft verhilft.
Bereits Hegel ist es nicht entgangen, dass die geschlechtsspezifische Zuschreibung der Rollen von Mann und Frau in Familie und Gesellschaft nicht auf biologisch oder psychologisch bedinge Unterschiede zurückgeführt werden können, wonach Frauen angeblich über Persönlichkeitsmerkmale verfügen, die eher emotioneller Natur sind, wodurch sie für Aufgaben im familiären und kommunitären Bereich geeignet sind, während die Männer demgegenüber eher über instrumentelle Kompetenzen verfügen, die sie im ausserfamiliären und ausserkommunitären Bereich besser zur Geltung zu bringen vermögen. Die der Frau als „Herrin des Hauses“ vorbehaltene „Binnenrolle“, die auf die Familie als „women’s sphere“ ausgerichtet ist, hat ihr Gegenstück in der „Aussenrolle“ des Mannes, durch die die Familie mit der sie umfassenden Gesellschaft verknüpft wird. Als eine Folge der Verrechtlichung der sittlichen Beziehung zwischen den Geschlechtern durch den Staat hat sich die Macht, mit der die „Binnenrolle“ in der traditionalen Familie ausgestattet war, immer mehr auf die Aussenrollen verlagert, zu denen in einer Gesellschaft von Bürgern mit gleichen Rechten und Pflichten im Prinzip Männer und Frauen Zugang haben. Dass sich an den gesellschaftlichen Machtverhältnissen und der damit verbundenen Diskriminierung der Frauen, auf denen die geschlechtsspezifische Rollenzuschreibung beruht, durch die rechtliche Gleichstellung nur wenig geändert hat, dürfte in einem wesentlichen Masse mit der fortbestehenden Domestizierung des „inneren Feindes“ zu tun haben, von dem Hegel spricht.
Stekelers Kommentar zur Phänomenologie des Geistes ist nun in diesem Zusammenhang insofern hochaktuell, als er in seinem Dialog mit Hegel darauf hinweist, dass das weibliche Prinzip, das für die Familie steht, durch ein religiöses Ethos geheiligt wird, das sich vom Ahnenkult über sämtliche Konfessionen bis zu den grossen Weltreligionen durchzieht. Dieses religiöse Ethos besteht im Wesentlichen darin, der Frau ihre dienende Rolle in der Familie zuzuweisen, und auch alle religiös begründete Sexualethik zielt darauf ab, sie als hingebungsvolle Geschlechtspartnerin dem Manne gefügig zu machen. „Die These von der Unantastbarkeit oder Heiligkeit des Religiösen bis herunter zu einem undifferenzierten Kulturpluralismus steht unter diesem Aspekt (der Unterdrückung der Frau, G.H.) klarerweise im Widerspruch zur Idee der Autonomie der Person und den Menschenrechten.“ (Stekeler, Bd. 2, S. 179)
Undifferenzierter Kulturpluralismus, wie er unter dem höchst fragwürdig gewordenen Begriff einer „multikulturellen Gesellschaft“ propagiert wird, leistet dem Kulturrelativismus und damit einer beliebigen Interpretation der Menschenrechte Vorschub. Man kann in einem säkularisierten Staat, dessen Verfassung einigermassen menschenrechtskonfom ausgestaltet ist, unter Berufung auf eben diese Rechte keine politischen Forderungen stellen, die eine Aufhebung dieser Menschenrechte implizieren. Dies gilt auch für religiöse Überzeugungen welcher Herkunft auch immer. „Die Auseinandersetzung zwischen einem formellen Recht und einem heiligen, göttlichen, informellen Gesetz ist nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen Einzelmeinungen von Einzelpersonen, sondern, logisch (d.h. soziologisch G.H.) gesehen eine Art systemische Dauerspannung. Denn das formelle Gesetz kann beliebig erlassen und verändert werden. Voraussetzung ist nur, dass anerkannte Verfahren der Gesetzgebung eingehalten werden.“ (Stekeler Bd. 2, S. 153 f.)
Legitimation durch Verfahren im „mechanischen Verstandesstaat“ bzw. „politischen System“, wie dieser Verstandesstaat heute genannt wird, kann die Legitimationsgrundlage des Staates, wie er von Hegel und aus soziologischer Sicht auch heute noch gesehen werden kann, nicht ersetzen. Ohne die „sittliche Substanz“, die sich ausgehend von der Familie über lokale Gemeinschaften und die Nation im Staat verwirklicht, hängt aller Sachverstand der Expertokratie, die sich mit Fragen der Verhaltenssteuerung durch das politische System befasst, in einem leeren Raum. Im Umgang mit der erwähnten systemischen Dauerspannung ist es mit „Konfliktmanagement“ auf der Basis von institutionalisierten Legitimationsprozeduren wohl kaum getan.
Der sogenannte „clash of civilisations“ innerhalb der gegenwärtigen Weltgesellschaft erinnert an den „Kulturkampf“ in den eigenen westlichen Gesellschaften, der den modernen säkularen Staat hervorgebracht hat. Die Aufklärung hat diesen Konflikt zwischen familial-religiösen und politisch-säkularen Bindungen alles andere als gelöst. Er wird zusammen mit dem Klassenkonflikt im Rahmen von politischen Mehrparteiensystemen ausgetragen. Die westliche „liberale“ Welt wird nun im Zeitalter der Globalisierung von einer sich auf die eigenen Traditionen rückbesinnenden „konservativen“ Welt herausgefordert, die den massenmedial inszenierten Glauben an die „Moderne“ verloren hat. Wenn man heute von „Postmoderne“ spricht, ist diese unter den immer zahlreicher gewordenen Ungläubigen eben dieser „Moderne“ zu suchen. Mit der Iranischen Revolution gegen das Schah-Regime, das diese „Moderne“ verkörperte, hat sich dieses „postmoderne“ politische Potential erstmals auf der politischen Weltbühne zu Wort gemeldet.
Wir haben es hier nicht mit Klassenpotentialen und Entwicklungspotentialen zu tun, die durch die „Moderne“ hervorgebracht worden sind, sondern mit einem Potential, das auf der Grundlage von religiösen fundamentalistischen Ideologien und einem generalisierten Feindbild, das sich gegen die „sittliche Verdorbenheit“ und „Dekadenz“ der westlichen Welt richtet und zum Zwecke der Beschaffung von Massenlegitimität zur Errichtung eines „Gottesstaates“ populistisch mobilisiert werden kann. Der „arabische Frühling“, so kurz er auch war, hat allerdings gezeigt, dass es infolge der globalen Kommunikation über fast alle nationalen Grenzen hinweg immer schwieriger geworden ist, die Menschen in Unwissenheit zu halten, um diese durch fundamentalistische Ideologien politisch instrumentalisieren zu können. Mit anderen Worten sind auch in diesem Teil der Welt Lernprozesse im Gang, die dem religiösen Fundamentalismus und der damit verbundenen politischen Radikalisierung entgegenwirken, wenngleich solche Lernprozesse von Formen extremer Gewalttätigkeit vielenorts stark bedroht sind.
Zur politischen Theorie Hegels
Die bürgerliche Gesellschaft hat schon zu Hegels Zeiten den von ihm in der Rechtsphilosophie beschriebenen Ständestaat mit einem Monarchen an der Spitze hinter sich zurückgelassen. Wenn er in seiner Rechtsphilosophie, bei der es sich im Grunde genommen um die wohl erste in ihren Konsequenzen durchdachte Theorie der bürgerlichen Gesellschaft handelt, diesen Ständestaat inklusive seines Monarchen als Bezugsrahmen wählte, hat er dies vermutlich auch zu Lehrzwecken getan, um seinen Schülern klarzumachen, dass im Staatswesen, das sich die traditionelle Gesellschaft gegeben hat, nicht einfach alles schlecht war, die Französische Revolution hin oder her. Er hätte zu Lehrzwecken ebenso gut den platonischen Ständestaat als Bezugsrahmen für seine Gesellschaftstheorie benutzen können. Seine zukunftsweisende politische Theorie der bürgerlichen Gesellschaft findet man nicht in der Rechtsphilosophie, sondern in seiner Phänomenologie des Geistes, auf die ich nun mit einem längeren Zitat aus Stekelers Kommentar zurückkomme:
„Ein Staat, und sei er eine tyrannische Diktatur, erhält seine Macht immer nur durch einen ‚wirklichen Gehorsam‘ wenigstens eines hinreichenden Teils des Volkes, wobei allerdings Gewaltdrohungen durch bewaffnete Minderheiten zusammen mit kollektiven Bestechungen gerade in einem Staat mit Gewaltmonopol auch zu erzwungenen oder halberzwungenen Anerkennungen führen können, wie der NS-Staat klarerweise zeigt. Aber auch hier ist vom Einzelnen her gesehen der ‚Gehorsam‘ immer noch relativ frei und beruht auf einem freien Urteil der als Bürger des Staates bewussten Personen. Die faktische Geltung der Gesetze eines Staates ist also nicht einfach durch eine historische Legitimation genealogisch gegeben, wie Hobbes und die Vertragstheorien suggerieren, sondern durch die je aktuale und dadurch wirkliche Anerkennung der betreffenden Gesetzgebung, der Gesetze und der Staatsmacht.“ (Stekeler, Bd. 2, S. 324)
Hegel fordert vom Bürger des Staates als selbstbewusste Person keineswegs Gehorsam oder gar Unterwerfung unter die vorgegebene Staatsmacht, sondern dass er seine politischen Rechte in der Ausgestaltung des Gemeinwesens aktiv wahrnimmt im Wissen, was er diesem Gemeinwesen zu verdanken hat. Zweck des Staates ist eine möglichst grosse Freiheit zur Selbstorganisation des Gemeinwesens und der Mehrung des Wohlstands seiner Bürger. Dass der bürgerliche Staat in zunehmendem Masse von einer Klasse von Kapitaleignern abhängig geworden ist, die immer mehr wirtschaftliche Macht akkumuliert haben und im Gegenzug dazu ein in Armut und Elend versinkender „Pöbel“ entstanden ist, wissen wir nicht erst seit Marx, sondern bereits von Hegel, auch wenn beide daraus jeweils andere Konsequenzen gezogen haben. Mit dem Hegelschen „Machtstaat“ ist nicht irgendein nationalistisch durchmilitarisiertes Gebilde gemeint, sondern ein Rechtsstaat, der zugleich als „starker“ sozialer Staat in der sittlichen Substanz des „Volkes“ seine Legitimationsgrundlage besitzt und der im Dienste des ganzen „Volkes“ das Gemeinwesen, zu dem auch der „Pöbel“ gehört, vor seiner Selbstzerstörung durch soziale Spannungen schützt, die vor allem durch die enorme Ungleichheit der Verteilung des Reichtums im Innern des Gemeinwesens begründet sind, die Elend, Armut und eben diesen „Pöbel“ hervorgebracht hat.
Der Staat ist durch die dauerhaft notwendige Anerkennung durch das „Volk“, das der eigentliche Souverän ist, kein festes und träges Gebilde oder gar ein „stählernes Gehäuse der Hörigkeit“, wie ihn Max Weber mit Blick auf die „Beamtenherrschaft“ bezeichnet, sondern er muss eine gewisse Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit aufweisen, weil sich die Machtverhältnisse im Staat verschieben können. Der „Pöbel“, den Marx dann später in das „Proletariat“ umtaufte, hat bekanntlich einiges zur Verschiebung dieser Machtverhältnisse beigetragen. Im Wort „Pöbel“ schwingt übrigens die Bedeutung des Wortes „Volk“ in französischer Sprache mit, in dessen Namen, „au nom du peuple“, die Französische Revolution über die Bühne ging.
Der Sozialstaatsgedanke Hegels hat nicht nur die Klassenkämpfe in den sich industrialisierenden Nationalstaaten überdauert, sondern auch die beiden Weltkriege, die sich jene im Kampf um die imperialistische Aufteilung der Welt geliefert haben. Er wurde dann nach diesen mit Panzern und Bombern ausgetragenen Materialschlachten, denen gegenüber sich die Völkerschlachten, die sich der „Weltgeist zu Pferde“ in der napoleonischen Zeit geliefert hat, geradezu idyllisch ausnehmen, erst nach dem 2. Weltkrieg in der „sozialen Marktwirtschaft“ verwirklicht, welche die Austragung der nach wie vor bestehenden Verteilungskonflikte um materielle Güter auf der Grundlage einer keynesianischen Wirtschaftspoltik in Form von Gewerkschaften und Parteienkonkurrenz institutionalisiert hat. Diese „soziale Marktwirtschaft“ stellt eine Balance zwischen den Extremen einer sozialistischen Planwirtschaft dar, welche die Wirtschaft der faktischen Kontrolle des Staates unterstellt und einer wirtschaftsliberalen Ökonomie, die dem Staat fiskalische Mittel nur noch im Austausch gegen die Verteidigung des Eigentumsregimes zukommen lassen möchte und selbst diese ihm nach Möglichkeit noch zu hinterziehen versucht.
Wenn nun im Zusammenhang mit der Verfassung des Staates vom Allgemeinwillen gesprochen wird, der durch den Souverän verkörpert wird, sei es durch einen Monarchen auf Lebenszeit, einen Staatspräsidenten auf eine begrenzte Dauer oder einen Diktator, bis er gestürzt wird, passt hier nur die Rede von einem Volk, nicht von „der Gesellschaft“: „Denn eine Gesellschaft wird nie durch einen Allgemeinwillen definiert. Das ist der begriffliche Sinn der Rede von der „Gesellschaft“ im Unterschied zu einem „Volk“. Es ist daher falsch, sich durch den Missbrauch des Wortes „Volk“ die Differenzierung zu einer Gesellschaft als eines Bereiches des zugestandenen Einzelwillens zerstören zu lassen. Hegel verwendet hier freilich andere Wörter. Er spricht von der „Organisation der geistigen Massen“, „denen die Menge der individuellen Bewusstseine zugeteilt wird.“ Die Ausdrücke erlauben auf bewusste und systematische Weise sowohl eine transpersonale als auch eine intrapersonale Lesart. (Stekeler, Bd. 2, S. 523).
Intrapersonal ergeben sich die individuellen Bewusstseine aus den verschiedenen Rollen und Statuspositionen des personalen Subjekts im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Institutionen und Praxisformen, in die es involviert ist. Damit das personale Subjekt sich als „allgemeines Selbst“ durchsetzen kann, muss es sich entscheiden, welches dieser „Bewusstseine“ in einer handlungsrelevanten Situation jeweils die Oberhand über andere gewinnt. In meiner eigenen transpersonalen Lesart handelt es sich bei diesen „geistigen (und auch begeisterungsfähigen G.H.) Massen“ um politisch relevante Potentiale, die durch Ideologien, in denen sich ihre jeweils strukturell bedingten gemeinsamen Interessen spiegeln, mobilisiert werden können und die der politischen Macht, die im Bezugsrahmen des Staates institutionalisiert ist, im Austausch gegen die Verteidigung ihrer Interessen Massenlegitimität gewähren oder auch entziehen können. Die „mechanische Solidarität“, die auf der „Organisation der geistigen Massen“ zum Zwecke der Verfolgung von kollektiven Interessen beruht und die daraus abgeleiteten Legitimationsanforderungen mit Hilfe des „Gesetzes der grossen Zahl“ unter Beweis stellt, vermag allerdings die aus „der sittlichen Substanz“ des Volkes herausgewachsene „organische Solidarität“ als Legitimationsgrundlage des Staates nicht zu ersetzen. Den kollektiv artikulierten Interessen von vielen Einzelwillen, die sich aufgrund ihrer „Mehrheitsfähigkeit“ als „Allgemeinwille“ bzw. „volonté générale“ konstituieren, und der aus diesem „Allgemeinwillen“ abgeleiteten Demokratie oder Volksherrschaft stand Hegel nach seiner anfänglichen Begeisterung für die Französische Revolution bekanntlich sehr skeptisch gegenüber.
Seinen Kommentar zum Kapitel: „Die absolute Freiheit und der Schrecken“, das Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes der Französischen Revolution und damit auch ihrem Geiste widmete, hat der Leipziger Philosoph Stekeler vor dem Hintergrund seines inzwischen berühmt gewordenen generischen „Wir“ („Wir sind das Volk!“) unter den Stichworten der „Politik der Volksdemokratie“ und der „Politik des Verdachts“ aktualisiert. „Es scheint zunächst so, als könnte man die absolute Freiheit des Volkes unmittelbar auf den ‚Thron der Welt‘ setzen, etwa in Gestalt eines Führers. Robbespierre mag das so gesehen haben und, was schlimmer ist, ein Volk, das kollektiv ‚Heil‘ ruft. Keine Macht der Welt kann dann Widerstand leisten. Aus der Sicht dieser Vorstellung von der absoluten Freiheit des Volkes verlieren alle Institutionen – Hegel spricht hier in leicht veralteter Sprache von Ständen – ihr besonderes Eigenrecht. Die Gliederung des Ganzen, der Gesellschaft, kollabiert.“ (Stekeler, Bd. 2, S. 502)
Als eine Folge der Aufhebung aller Institutionen und gesellschaftlichen Gliederungen steht der Einzelwille direkt dem „Allgemeinwillen“ der Gesamtmasse aller Individuen gegenüber, der durch den „Volksstaat“ bzw. das Gesamtkollektiv der „Volksdemokratie“ verkörpert wird. „Das ist die Herrschaft der absoluten Willkürfreiheit des Diktators der Massen. Damit ist der Gegensatz zwischen dem einzelnen Willen und dem allgemeinen Willen auf wundersame Weise aufgehoben. Sollten einzelne Personen etwas anderes wollen, gehören sie nicht mehr zum Volk – und können und dürfen, so scheint es, horribile dictu, ausgemerzt werden.“ Nicht nur die Französische Revolution, sondern vor allem auch die Realität des Nationalsozialismus wie auch die des real existierenden Sozialismus stalinistischer Prägung haben gezeigt, welche Verbrechen ungekannten Ausmasses die Ideen, die das „Reich der Vorstellung“ revolutionieren, nach sich ziehen können, wenn sie als „volonté générale“ absolut gesetzt und von allen Einzelwillen abstrahierend, sich in ihrer politischen Umsetzung in jene „blutsaugenden Vampire der Geschichte“ verwandeln, wie Bakunin sie genannt hat.
Hegels Phänomenologie des Geistes enthält nicht nur eine Religionskritik und eine Ideologiekritik, sondern sie nimmt als zukunftsweisende politische Theorie auch die spätere Totalitarismuskritik vorweg. Wer heute immer noch glaubt, dass es sich dabei um einen „Bildungsroman“ handelt, den man sich am Sonntag zur Erbauung zu Gemüte führen kann, hat von Hegels Philosophie und seiner Zeit, in Gedanken gefasst, nicht viel mehr als die Kuh von eben diesem Sonntag verstanden. Jeder Gedanke, der nicht bloss eine Meinung und damit unverbindlich ist, gerät unter die „Politik des Verdachts“ und das mag auch ein Grund dafür sein, dass Hegel seine Gedanken in seiner eigenen Sprache auf den Begriff gebracht hat, mit der sich alle seine „Interpreten“ schwer getan haben.
Stekeler, der von der Sprachphilosophie herkommt, tritt mit Hegel in einen Dialog, in dem er die Sprache Hegels beim Wort nimmt und ihr über alle Philologie und auch über alle bisherigen Hegelinterpretationen hinaus zu einer zeitgemässen Bedeutung verhilft. Der Zugangsschlüssel zur „hermetischen“ Sprache Hegels ist die Einsicht in die Performativität der Hegelschen „Kategorie“, die als Obertitel für den sprachlichen Ausdruck des Gedankens steht. „Kategorie“ ist Wesen der Dinge und Rede, Sache und Sage, Substanz und Subjekt, Sein und Bewusstsein, wobei die Betonung im Sinne einer „harten Fügung“ auf dieses „und“ gelegt wird, das in der „spekulativen Logik der Vernunft“ das zusammenfügt, was die „Verstandeslogik“ trennt. Diese Logik der Vernunft muss sich im dialogisch-dialektischen Austausch von Rede und Gegenrede auch auf der „Landstrasse der Vernunft“ bewähren, „wo jeder geht und keiner sich auszeichnet“. In diesem Sinne kann von dieser spekulativen Logik der „harten Fügungen“ als von einer harten Währung gesprochen werden, die Marx durchaus zutreffend als „das Geld des Geistes“ bezeichnet hat, das über die „Bewegung des Begriffs“ zirkuliert.
Zur Rolle der politischen Regimes in der Weltgesellschaft
Unter politischen Regimes werden hier nicht irgendwelche auswechselbaren institutionellen Formen verstanden, sondern Konstellationen von politisch relevanten Kräften im Innern des Staates, die sich auf Grund der gesellschaftlichen Dynamik vielfach auch abrupt und auf eine disruptive Art und Weise verändern können und dadurch der scheinbar „erstarrten und trägen Masse“, mit welcher der Staat identifiziert wird, zu ihrer Beweglichkeit und damit zu ihrem Leben verhelfen. Selbst wenn ein nationaler Staat zum willfährigen Empfänger und Vollstrecker der Befehle einer transnational operierenden wirtschaftlichen Macht degradiert wird, lässt sich das Widerstandsrecht der Bevölkerung auch mit Mitteln des Staatsterrors auf die Dauer nicht mehr brechen.
Ungeachtet des Versuchs, im „Krieg gegen den Terrorismus“, der nach 9/11 2001 von der einzig noch verbliebenen Supermacht ausgerufen worden ist, auf der Grundlage der „Politik des Verdachts“ einen weltweiten Überwachungsstaat zu schaffen, in den alle personalen Subjekte einbezogen sind, so dass dieser Überwachungsstaat schliesslich auch sich selbst überwachen muss, werden die Bevölkerungen über ihre politischen Regimes weiterhin auf die Weltgesellschaft und deren Wandel einen nicht zu unterschätzenden Einfluss ausüben. Dieser „Krieg gegen den Terrorismus“, der durch die sinnlose Gewalt von radikalisierten Minderheiten in Gang gehalten wird, die sich als Rechtfertigung auf eine fundamentalistische Auslegung des Korans berufen, hat die aktive Unterstützung und Beteiligung fast aller andern UNO- Mitgliedstaaten gefunden.[5]
Dies zeigt neben allen andern Auswüchsen, die der „Krieg gegen den Terrorismus“ auch noch gezeitigt hat, dass die UNO nach wie vor als eine Art Weltregime zu betrachten ist, das einerseits nicht durch die weltweite wirtschaftliche Macht dominiert ist und andererseits durch ihre Mitgliedstaaten in der Verfolgung eines gemeinsamen Ziels Unterstützung findet. Allerdings wird dieses Weltregime, um den „Krieg gegen den Terrorismus“ zu gewinnen, nicht darum herumkommen, den Gesellschaften des Krisenbogens von Marokko bis Pakistan und vielen anderen, in denen zig Millionen von Jugendlichen ohne irgendeine positive Lebensperspektive aufwachsen, wieder zu eigenständigen und tragfähigen Volkswirtschaften zu verhelfen, die sie in die Lage versetzt, die sozialen Grundbedürfnisse im Sinne der oben genannten klassischen Entwicklungswerte zu erfüllen.
Infolge der zunehmenden Beschäftigung mit Umweltfragen, die unter dem Schlagwort der „Grenzen des Wachstums“ mit dem Ziel einer Verbesserung der „Lebensqualität“ durch die hochentwickelte Welt propagiert werden, wird in diesem Teil der Welt verkannt, dass die klassischen Entwicklungswerte für die Länder der früher so genannten Dritten Welt bzw. für ihre Bevölkerungen nach wie vor relevant sind. Das Nachwuchsreservoir potentieller Terroristen wird unerschöpflich bleiben, solange die Umsetzung der „postmodernen“ politischen Potentiale in selbstgesteuerte nationale Entwicklungsprozesse blockiert wird. Erst durch die politische Aktivierung der nach wie vor bestehenden Entwicklungsspannung, die sich in einem Zustand der Latenz befindet, und der Umsetzung dieser Spannung in Wirtschaftspolitiken, die den Bevölkerungen zugutekommen, werden die Voraussetzungen für die Entstehung und Stabilisierung demokratischer und rechtsstaatlicher Verhältnisse auch in diesen Teilen der Welt geschaffen werden.
Man kann in der heutigen Weltgesellschaft nicht mehr beides haben: Entweder entscheidet man sich für eine massvolle Freiheit, die durch demokratische und rechtsstaatliche Verhältnisse garantiert wird und die im Rahmen solcher Verhältnisse auch verteidigt werden kann, oder man entscheidet sich für die masslose Freiheit der privaten Profitmaximierung und nimmt die daraus resultierende Selbstdestruktion der Weltgesellschaft in Kauf: Hic Rhodus, hic salta!
Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage, warum es überhaupt noch eine Struktur gibt und nicht vielmehr einen „entropischen“ Naturzustand, ist in Hegelscher Terminologie gesprochen in jener „List der Vernunft“ zu suchen, die sich gleichermassen des Irrsinns derer bedient, die als Zeichen ihrer Macht Türme in den Himmel bauen, wie auch des Irrsinns derer, die diese Türme in die Hölle sprengen, um sich dann wieder dem Wesentlichen zuzuwenden, das für die meisten Menschen fast immer und fast überall auf der Welt der Alltag ist.
Mit dieser Alltagswirklichkeit, die vom „kulturellen Rassismus“ geprägt wird, befassen sich heute vor allem die sog. „cultural studies“, die sich auf interdisziplinärer Grundlage als neue Leitwissenschaft zwischen den herkömmlichen Sozial- und Geisteswissenschaften zu etablieren versuchen. Sie gehen von der Hypothese aus, dass Identifikationen mit nationalen Kulturen infolge von Globalisierungsprozessen geschwächt werden und Identifikationen mit einer globalen Konsumkultur „oberhalb“ des Nationalstaates sowie Identifikationen auf lokaler, regionaler und gemeinschaftlicher „unterhalb des Nationalstaates“ gestärkt werden. Nationalstaatliche Einbindungen des Gemeinwesens auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene als traditioneller Legitimationsgrundlage des Staates würden in der „Postmoderne“ als eine Folge der zunehmenden globalen Interdependenz zugunsten einer zunehmenden „Hybridisierung der Kulturen“ und des kulturellen Pluralismus an Bedeutung verlieren.
Die Erwartung, dass sich die Geschichte der Globalisierung als Teil der Geschichte der Dezentrierung der Macht der Nationalstaaten erweist, die durch ihre imperialistische Expansionspolitik dieser Globalisierung erst zum Triumph verholfen haben, ist allerdings politisch ziemlich naiv. Man verkennt damit, dass eben diese Nationalstaaten neben allen Gräueln, die sie verrichtet haben, auch die Rechtssysteme, Bürgerrechte und sozialen Rechte hervorgebracht haben, die in der Weltgesellschaft nach wie vor eine zentrale Rolle spielen werden. An wen anders als die im Bezugsrahmen von nationalen Staaten institutionalisierte politische Macht sollen die aus diesen Rechten ableitbaren Legitimationsanforderungen gerichtet werden, wenn wir nicht in eine Welt zurückfallen wollen, in der nur Stämme überleben werden?
[1] Vgl. Stekeler, Pirmin: Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar. Bd. 1: Gewissheit und Vernunft. Bd. 2: Geist und Religion. Meiner Verlag, Hamburg 2014.
[2] Vgl. Luhmann Niklas: Soziologische Aufklärung. Opladen 1975. Die Weltgesellschaft: S. 51-71.
[3] Heintz Peter: A Sociological Code for the Description of World Society and its Change, in: International Social Science Journal, vol. XXXIII, 1981, No. 4.
Für die Elaboration und Anwendung dieses Code in der soziologischen Grundlagenforschung über die Weltgesellschaft vgl.:
Oliva Karl: Teilnahme ohne Teilhabe. Kritik und Integration soziologischer Literatur zur Marginalität in der Weltgesellschaft. Frankfurt/M;NY, Campus Verlag 1985.
Hischier Guido: Politische Regimes in Entwicklungsländern. Eine international vergleichende Typologie. Frankfurt/M;NY, Campus Verlag 1987.
Schöni Walter: UNESCO – Krise der westlichen Hegemonie. Staatliche Kulturkonzeptionen und die politische Rolle der Schweiz. Frankfurt/M;NY, Campus Verlag 1988.
[4] Wallerstein Immanuel: The Modern World System. Capitalist Agriculture and the Origins of the European World Economy in the Sixteenth Century. New York, Academic Press 1974. Ders.: Das Moderne Weltsystem I-IV. Wien, ProMedia, Wien 2015.
[5] Zu den Möglichkeiten und Grenzen des Krisen- und Konfliktmanagements in der UNO vgl. Zumach Andreas: Globales Chaos – Machtlose UNO. Ist die Weltorganisation überflüssig geworden?, Zürich, Rotpunktverlag 2015.
Gottfried Treviranus
„Organisation der geistigen Massen“, „denen die Menge der individuellen Bewusstseine zugeteilt wird.“ Auch Hegel war hinter Platos Republik zurűckgefallen in sofern als Plato bereits die convivialité der ungefähr normalverteilten (!) Temperamente als Ziel der Staatsgestaltung definiert hatte. Dennoch war er weiter als Kant der ausdrűcklich der entfesselten Denkerei der Philosophen per se Moral zuschrieb. An der Geschlechterfrage offenbart sich der durchwegs schwebende Autor als Verächter und Biologie und Psychologie – was er sich implizit moralisch zugute hält – und vollends als Antimaterialist, der so auch die Materialität der herrschenden Verhältnisse und ihrer Űberwindung nicht zum Tanzen bringen kann noch will.